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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Mas lehren uns die Wahlen?

Berufsintercsse verquicken. Die Sozialdemokratie macht die Arbeitersache zur
Parteisachev sie will mit Hilfe der Masse, die die meisten Stimmen zur Ver¬
fügung hat, an die Regierung gelangen. Die Aussichten auf ihren Sieg sind
groß, sie selbst zweifelt nicht an ihrem endlichen Erfolge; warum sollten ihr
nicht mit der Zeit die sämtlichen Arbeiterstimmen ohne Ausnahme zufallen?
Wie sie es macht, um zu gewinnen, das spricht sie offen aus; sie befolgt
systematisch diese Taktik: "alle Waffen, die der Klassenstaat bietet, namentlich
das Wahlrecht, gegen den Klassenstaat und zur Erkämpfung der sozialistischen
Gesellschaftsorganisation zu gebrauchen." (Vorwärts, 4. Juli 1893.) Wenn
wir der Ansicht wären, daß das "Volk" nur die sozialdemokratischen "Arbeiter"
wären, so würden wir nicht lange fragen: "Was nützen dem Volke die Reichs¬
tagswahlen?" Von dem allgemeinen Wahlrecht hat die Sozialdemokratie den
politischen Nutzen, und die Arbeiter haben neben den wirtschaftlichen Vorteilen,
die ihnen durch den freien Willen des Staats oder durch den gesellschaftlichen
Fortschritt zu teil werden, anch die, die die sozialdemokratische Partei für sie
auf dem Wege des Parlamentarismus zu erreichen vermag. Die Arbeiter
allein sind aber nicht das Volk und werden es niemals sein, was man auch
unter einer kommenden "sozialistischen Gesellschaftsorganisation" verstehen mag,
wir werden nie ein Volk von lauter "Arbeitern" sein, sodnß die sozialdemo¬
kratische Parteipolitik mit den: gesamten BolkswirtschaftSbetriebe zusammenfiele;
deshalb fragt es sich, ob nicht die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter und
des ganzen Volks auf bessere Art als durch die Vermittlung der politischen
Parteien gewahrt werden können.

Man kann nicht sagen, daß die Sozialdemokratie mit dem allgemeinen
Wahlrecht Mißbrauch treibe, indem sie alle andern Parteien zu überflügeln
und selbst die einzige herrschende Partei zu werden sucht. Das allgemeine
gleiche Wahlrecht verlockt sie geradezu zu der Täuschung, die Gesamtheit mit
der Arbeiterklasse gleichzusetzen und sich selbst, als die Vertreterin der Arbeiter,
für die rechtmäßige Vertretung der Gesamtheit zu halten. Jeder Beruf, der
sich zum Vertreter aller andern Berufe aufwirft, überhebt sich in derselben
Weise wie die Sozialdemokratie; der Bund der Landwirte zum Beispiel ist
nicht berechtigt, für den Zweck seiner Gründung die wirtschaftliche Hebung
aller Berufsstände auszugeben. Alle diese Überhebungen führen heutzutage
nur eine Verschärfung des politischen Parteikampfes und damit wiederum eine
ungenügende Würdigung der Interessen einzelner Berufsstände herbei. Die
wirtschaftlichen Auseinandersetzungen sollten auf einen andern Boden als auf
den des allgemeinen Wahlrechts verlegt werden, dieses ist ein Hindernis für
die Gesellschaftsorganisation der Zukunft, nach der die Arbeiter, Handwerker,
Bauern und die andern streben. Hieraus folgt, daß die Berufsstciude auch
durch den neuen Reichstag nur mehr oder minder dürftig werden abgespeist
oder vielleicht sogar arg enttäuscht werden. Eine "Wirtschaftliche Vereinigung"


Mas lehren uns die Wahlen?

Berufsintercsse verquicken. Die Sozialdemokratie macht die Arbeitersache zur
Parteisachev sie will mit Hilfe der Masse, die die meisten Stimmen zur Ver¬
fügung hat, an die Regierung gelangen. Die Aussichten auf ihren Sieg sind
groß, sie selbst zweifelt nicht an ihrem endlichen Erfolge; warum sollten ihr
nicht mit der Zeit die sämtlichen Arbeiterstimmen ohne Ausnahme zufallen?
Wie sie es macht, um zu gewinnen, das spricht sie offen aus; sie befolgt
systematisch diese Taktik: „alle Waffen, die der Klassenstaat bietet, namentlich
das Wahlrecht, gegen den Klassenstaat und zur Erkämpfung der sozialistischen
Gesellschaftsorganisation zu gebrauchen." (Vorwärts, 4. Juli 1893.) Wenn
wir der Ansicht wären, daß das „Volk" nur die sozialdemokratischen „Arbeiter"
wären, so würden wir nicht lange fragen: „Was nützen dem Volke die Reichs¬
tagswahlen?" Von dem allgemeinen Wahlrecht hat die Sozialdemokratie den
politischen Nutzen, und die Arbeiter haben neben den wirtschaftlichen Vorteilen,
die ihnen durch den freien Willen des Staats oder durch den gesellschaftlichen
Fortschritt zu teil werden, anch die, die die sozialdemokratische Partei für sie
auf dem Wege des Parlamentarismus zu erreichen vermag. Die Arbeiter
allein sind aber nicht das Volk und werden es niemals sein, was man auch
unter einer kommenden „sozialistischen Gesellschaftsorganisation" verstehen mag,
wir werden nie ein Volk von lauter „Arbeitern" sein, sodnß die sozialdemo¬
kratische Parteipolitik mit den: gesamten BolkswirtschaftSbetriebe zusammenfiele;
deshalb fragt es sich, ob nicht die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter und
des ganzen Volks auf bessere Art als durch die Vermittlung der politischen
Parteien gewahrt werden können.

Man kann nicht sagen, daß die Sozialdemokratie mit dem allgemeinen
Wahlrecht Mißbrauch treibe, indem sie alle andern Parteien zu überflügeln
und selbst die einzige herrschende Partei zu werden sucht. Das allgemeine
gleiche Wahlrecht verlockt sie geradezu zu der Täuschung, die Gesamtheit mit
der Arbeiterklasse gleichzusetzen und sich selbst, als die Vertreterin der Arbeiter,
für die rechtmäßige Vertretung der Gesamtheit zu halten. Jeder Beruf, der
sich zum Vertreter aller andern Berufe aufwirft, überhebt sich in derselben
Weise wie die Sozialdemokratie; der Bund der Landwirte zum Beispiel ist
nicht berechtigt, für den Zweck seiner Gründung die wirtschaftliche Hebung
aller Berufsstände auszugeben. Alle diese Überhebungen führen heutzutage
nur eine Verschärfung des politischen Parteikampfes und damit wiederum eine
ungenügende Würdigung der Interessen einzelner Berufsstände herbei. Die
wirtschaftlichen Auseinandersetzungen sollten auf einen andern Boden als auf
den des allgemeinen Wahlrechts verlegt werden, dieses ist ein Hindernis für
die Gesellschaftsorganisation der Zukunft, nach der die Arbeiter, Handwerker,
Bauern und die andern streben. Hieraus folgt, daß die Berufsstciude auch
durch den neuen Reichstag nur mehr oder minder dürftig werden abgespeist
oder vielleicht sogar arg enttäuscht werden. Eine „Wirtschaftliche Vereinigung"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/160>, abgerufen am 23.11.2024.