Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Was lehren uns die Wahlen? im Reichstage würde nur dann Erfolge haben, wenn sie innerhalb des Par¬ Bei dem heute noch bestehenden Mangel an Organisation trügt das all¬ Grenzboten III 1893 20
Was lehren uns die Wahlen? im Reichstage würde nur dann Erfolge haben, wenn sie innerhalb des Par¬ Bei dem heute noch bestehenden Mangel an Organisation trügt das all¬ Grenzboten III 1893 20
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0161" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215251"/> <fw type="header" place="top"> Was lehren uns die Wahlen?</fw><lb/> <p xml:id="ID_518" prev="#ID_517"> im Reichstage würde nur dann Erfolge haben, wenn sie innerhalb des Par¬<lb/> laments eine völlige Umbildung der alten Parteien hervorzurufen vermöchte:<lb/> aber das ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil die Arbeiter, was ja leider<lb/> selbstverständlich ist, der „Vereinigung" fernstehen. Es ist möglich, daß wieder<lb/> eine Anzahl neuer und gutgemeinter Gesetze gegeben werden wird, aber was<lb/> kann das nützen? Was kommt dabei heraus, wenn die Landwirte, die Hand¬<lb/> werker und die Arbeiter von oben mit Reformen beglückt werden, die, wie sich<lb/> hinterher immer wieder herausstellt, nicht nach ihrem Sinne sind? Man hätte<lb/> sie in irgend einer Weise vorher ordentlich befragen sollen, man hätte ihnen<lb/> eine praktische Organisation geben sollen. Die Befragung des gesamten Volks<lb/> durch allgemeine Wahlen oder auch durch ein Plebiszit oder ein Referendum<lb/> hat uur dann einen Sinn, wenn wirkliche Angelegenheiten der Gesamtheit zur<lb/> Entscheidung stehen. Man hätte z. B. die Volksmeinung über die Militär¬<lb/> vorlage nur dadurch mit aller Sicherheit bestimmen können, daß man das Volk<lb/> mit Für oder Wider allein über diese Vorlage, ohne Einmischung fernliegender<lb/> wirtschaftlicher Interessenfragen, Hütte abstimmen und wählen lassen. Man<lb/> hätte dann vielleicht gefunden, daß auch der deutsche Proletarier nicht gegen<lb/> die Soldaten und das Kriegsspiel ist, wenn er zugleich die Aussichten auf<lb/> Verbesserung seiner Lebensstellung wachsen sieht. Wenn man einmal wählen<lb/> läßt, sollte es auch zweckmäßig geschehen. Die Abgabe eines einzigen Wahl¬<lb/> zettels, der gewissermaßen als Passepartout für die verschiedenartigsten Vor¬<lb/> stellungen gilt, ist ein plumpes Mittel.</p><lb/> <p xml:id="ID_519" next="#ID_520"> Bei dem heute noch bestehenden Mangel an Organisation trügt das all¬<lb/> gemeine Wahlrecht dem Stande, der die Stärke und Grundlage der Nation<lb/> ist oder sein sollte, dem Mittelstande, am wenigsten ein. Der Mittelstand<lb/> würde eine Macht sein wie die Arbeiterklasse, wenn er sich wie diese zu einer<lb/> festgeschlossenen Masse zusammenzuballen vermöchte. Aber was sein Vorzug<lb/> ist, ist auch sein Fehler: die Mannigfaltigkeit seiner Zusammensetzung. Soldat<lb/> ist Soldat, und Fabrikarbeiter ist Fabrikarbeiter, aber wer ist der Mittelstand?<lb/> Wenn wir an den unabweislichen Ruin des Mittelstandes glaubten, so würden<lb/> wir weder über das allgemeine Wahlrecht noch über die Organisation der<lb/> Berufe, über die Möglichkeit einer Berufsvertretung, eines Wirtschaftsparla¬<lb/> ments n. tgi. Worte verlieren. Aber wir sind überzeugt: es wird stets breite<lb/> mittlere Schichten geben, die zwischen Reich und Arm, Mächtig und Gering<lb/> die Bindeglieder bilden. Heute hat der Mittelstand fast das Bewußtsein seiner<lb/> Besonderheit verloren. Was geht ihn konservativ und liberal an, er ist etwas<lb/> für sich; zu ihm gehören nicht nur die Handwerker, wie man zuweilen fälschlich<lb/> behauptet, sondern auch kleine Grundbesitzer, Beamte, Lehrer, Geistliche, besser<lb/> gestellte Arbeiter in Menge. Thäten sich alle diese Bestandteile zusammen,<lb/> nur durch ihre Stimmenzahl parteiisch zu wirken, so könnten sie auch schon<lb/> unter dem allgemeinen Wahlrecht größern Einfluß als bisher gewinnen. Aber</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1893 20</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0161]
Was lehren uns die Wahlen?
im Reichstage würde nur dann Erfolge haben, wenn sie innerhalb des Par¬
laments eine völlige Umbildung der alten Parteien hervorzurufen vermöchte:
aber das ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil die Arbeiter, was ja leider
selbstverständlich ist, der „Vereinigung" fernstehen. Es ist möglich, daß wieder
eine Anzahl neuer und gutgemeinter Gesetze gegeben werden wird, aber was
kann das nützen? Was kommt dabei heraus, wenn die Landwirte, die Hand¬
werker und die Arbeiter von oben mit Reformen beglückt werden, die, wie sich
hinterher immer wieder herausstellt, nicht nach ihrem Sinne sind? Man hätte
sie in irgend einer Weise vorher ordentlich befragen sollen, man hätte ihnen
eine praktische Organisation geben sollen. Die Befragung des gesamten Volks
durch allgemeine Wahlen oder auch durch ein Plebiszit oder ein Referendum
hat uur dann einen Sinn, wenn wirkliche Angelegenheiten der Gesamtheit zur
Entscheidung stehen. Man hätte z. B. die Volksmeinung über die Militär¬
vorlage nur dadurch mit aller Sicherheit bestimmen können, daß man das Volk
mit Für oder Wider allein über diese Vorlage, ohne Einmischung fernliegender
wirtschaftlicher Interessenfragen, Hütte abstimmen und wählen lassen. Man
hätte dann vielleicht gefunden, daß auch der deutsche Proletarier nicht gegen
die Soldaten und das Kriegsspiel ist, wenn er zugleich die Aussichten auf
Verbesserung seiner Lebensstellung wachsen sieht. Wenn man einmal wählen
läßt, sollte es auch zweckmäßig geschehen. Die Abgabe eines einzigen Wahl¬
zettels, der gewissermaßen als Passepartout für die verschiedenartigsten Vor¬
stellungen gilt, ist ein plumpes Mittel.
Bei dem heute noch bestehenden Mangel an Organisation trügt das all¬
gemeine Wahlrecht dem Stande, der die Stärke und Grundlage der Nation
ist oder sein sollte, dem Mittelstande, am wenigsten ein. Der Mittelstand
würde eine Macht sein wie die Arbeiterklasse, wenn er sich wie diese zu einer
festgeschlossenen Masse zusammenzuballen vermöchte. Aber was sein Vorzug
ist, ist auch sein Fehler: die Mannigfaltigkeit seiner Zusammensetzung. Soldat
ist Soldat, und Fabrikarbeiter ist Fabrikarbeiter, aber wer ist der Mittelstand?
Wenn wir an den unabweislichen Ruin des Mittelstandes glaubten, so würden
wir weder über das allgemeine Wahlrecht noch über die Organisation der
Berufe, über die Möglichkeit einer Berufsvertretung, eines Wirtschaftsparla¬
ments n. tgi. Worte verlieren. Aber wir sind überzeugt: es wird stets breite
mittlere Schichten geben, die zwischen Reich und Arm, Mächtig und Gering
die Bindeglieder bilden. Heute hat der Mittelstand fast das Bewußtsein seiner
Besonderheit verloren. Was geht ihn konservativ und liberal an, er ist etwas
für sich; zu ihm gehören nicht nur die Handwerker, wie man zuweilen fälschlich
behauptet, sondern auch kleine Grundbesitzer, Beamte, Lehrer, Geistliche, besser
gestellte Arbeiter in Menge. Thäten sich alle diese Bestandteile zusammen,
nur durch ihre Stimmenzahl parteiisch zu wirken, so könnten sie auch schon
unter dem allgemeinen Wahlrecht größern Einfluß als bisher gewinnen. Aber
Grenzboten III 1893 20
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