Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die ätherische volksmoral im Drama

Nahm sie von hoher Schulter ihr Gewand und riß
Es bis zur Hüfte mitten durch, zum Nabel hin,
Und zeigte Hals und Busen, wie ein göttliches Gebild
S" reizend, senkt ein Knie zur Erde dann,
Und sprach von allen Worten dies hochherzigste:
Sieh her, o Jüngling! Wünschest du in meine Brust
Den Stahl zu bohren, bohre; wenn in meinen HalZ --
Wohlan, der Nacken ist gefaßt auf deinen Stoß!
Er, wollend und nicht wollend -- denn sie jammert ihn --
Zerhaut des Atems Röhren ihr mit scharfem Stahl.
Des Blutes Quelle sprang; sie, im Sterben auch,
Trug viele Vorsicht, hinzusinken, wies geziemt,
Zu bergen, was man bergen muß vor Mannes Blick.
Und als im Todesstoße sie den Geist verhnucht,
Saum jeder Mann des Heeres ans ein andres Werk.
Die einen warfen Blätter aus die Tote hin
Aus voller Hand; die Scheiter türmten andre,
Die sicheren Stämme tragend; wer nicht trug, vernahm
Bon andern, welche trugen, dies hvhnvolle Wort:
Herzloser, stehst du müßig hier, hast kein Gewand
Für solche Jungfrau, keinen Schmuck in deiner Hand?
Sie willst du nicht beschenken, die so großgesinnt
Hinstarb, so mutig? Solche Kunde bring ich dir
Bon deiner Tochter; jn, du bist die glücklichste
Von allen Müttern und die unglückseligste.

Auch in den Troerinnen kann es Talthybios kaum übers Herz bringen, der
Andromache zu verkündigen, was die Danaer über ihr Söhnchen Astyanax
beschlossen haben:


Solchen Beschluß darf nur
Urkunden ein Mann, der mitleidlos
Und ohne Gefühl, nicht unsers Sinns,
Schamloser Vermessenheit huldigt.

Eurystheus in den Schutzflehenden und Lylos im Rasenden Herakles, die beide
die Kinder des Herakles umbringe:: wollen, finden für nötig, sich damit zu
rechtfertige::, daß nicht Grausamkeit sie treibe, sondern die Sorge für ihre
eigne Sicherheit sie zu solchem Handeln zwinge. Ja sogar Lhsfa, die per-
sonifizirte Raserei, sträubt sich, dem Gebote der Hera zu gehorchen und den
Herakles zu befallen: Und Straf ich liebe Menschen, ist mirs keine Lust.
Wie es den Athenern zuwider war, auch manchmal hart und grausam sein zu
müssen, und daß sie nur durch Notwendigkeit gedrängt oder durch Ärger und
Kummer verbittert auch einmal die rauhe Seite herauskehrten, sieht man recht
deutlich aus einer ergötzlich naiven Äußerung des Chors von Bürgern und
Bauern im "Frieden" des Aristophanes. Da ihnen Aussicht gemacht ist auf
die Wiederkehr des Friedens, machen sie ihrer Freude zuerst in lustigen Tänzen
und Sprüngen Luft, dann sagen sie:


Die ätherische volksmoral im Drama

Nahm sie von hoher Schulter ihr Gewand und riß
Es bis zur Hüfte mitten durch, zum Nabel hin,
Und zeigte Hals und Busen, wie ein göttliches Gebild
S» reizend, senkt ein Knie zur Erde dann,
Und sprach von allen Worten dies hochherzigste:
Sieh her, o Jüngling! Wünschest du in meine Brust
Den Stahl zu bohren, bohre; wenn in meinen HalZ —
Wohlan, der Nacken ist gefaßt auf deinen Stoß!
Er, wollend und nicht wollend — denn sie jammert ihn —
Zerhaut des Atems Röhren ihr mit scharfem Stahl.
Des Blutes Quelle sprang; sie, im Sterben auch,
Trug viele Vorsicht, hinzusinken, wies geziemt,
Zu bergen, was man bergen muß vor Mannes Blick.
Und als im Todesstoße sie den Geist verhnucht,
Saum jeder Mann des Heeres ans ein andres Werk.
Die einen warfen Blätter aus die Tote hin
Aus voller Hand; die Scheiter türmten andre,
Die sicheren Stämme tragend; wer nicht trug, vernahm
Bon andern, welche trugen, dies hvhnvolle Wort:
Herzloser, stehst du müßig hier, hast kein Gewand
Für solche Jungfrau, keinen Schmuck in deiner Hand?
Sie willst du nicht beschenken, die so großgesinnt
Hinstarb, so mutig? Solche Kunde bring ich dir
Bon deiner Tochter; jn, du bist die glücklichste
Von allen Müttern und die unglückseligste.

Auch in den Troerinnen kann es Talthybios kaum übers Herz bringen, der
Andromache zu verkündigen, was die Danaer über ihr Söhnchen Astyanax
beschlossen haben:


Solchen Beschluß darf nur
Urkunden ein Mann, der mitleidlos
Und ohne Gefühl, nicht unsers Sinns,
Schamloser Vermessenheit huldigt.

Eurystheus in den Schutzflehenden und Lylos im Rasenden Herakles, die beide
die Kinder des Herakles umbringe:: wollen, finden für nötig, sich damit zu
rechtfertige::, daß nicht Grausamkeit sie treibe, sondern die Sorge für ihre
eigne Sicherheit sie zu solchem Handeln zwinge. Ja sogar Lhsfa, die per-
sonifizirte Raserei, sträubt sich, dem Gebote der Hera zu gehorchen und den
Herakles zu befallen: Und Straf ich liebe Menschen, ist mirs keine Lust.
Wie es den Athenern zuwider war, auch manchmal hart und grausam sein zu
müssen, und daß sie nur durch Notwendigkeit gedrängt oder durch Ärger und
Kummer verbittert auch einmal die rauhe Seite herauskehrten, sieht man recht
deutlich aus einer ergötzlich naiven Äußerung des Chors von Bürgern und
Bauern im „Frieden" des Aristophanes. Da ihnen Aussicht gemacht ist auf
die Wiederkehr des Friedens, machen sie ihrer Freude zuerst in lustigen Tänzen
und Sprüngen Luft, dann sagen sie:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0139" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215229"/>
            <fw type="header" place="top"> Die ätherische volksmoral im Drama</fw><lb/>
            <quote> Nahm sie von hoher Schulter ihr Gewand und riß<lb/>
Es bis zur Hüfte mitten durch, zum Nabel hin,<lb/>
Und zeigte Hals und Busen, wie ein göttliches Gebild<lb/>
S» reizend, senkt ein Knie zur Erde dann,<lb/>
Und sprach von allen Worten dies hochherzigste:<lb/>
Sieh her, o Jüngling! Wünschest du in meine Brust<lb/>
Den Stahl zu bohren, bohre; wenn in meinen HalZ &#x2014;<lb/>
Wohlan, der Nacken ist gefaßt auf deinen Stoß!<lb/>
Er, wollend und nicht wollend &#x2014; denn sie jammert ihn &#x2014;<lb/>
Zerhaut des Atems Röhren ihr mit scharfem Stahl.<lb/>
Des Blutes Quelle sprang; sie, im Sterben auch,<lb/>
Trug viele Vorsicht, hinzusinken, wies geziemt,<lb/>
Zu bergen, was man bergen muß vor Mannes Blick.<lb/>
Und als im Todesstoße sie den Geist verhnucht,<lb/>
Saum jeder Mann des Heeres ans ein andres Werk.<lb/>
Die einen warfen Blätter aus die Tote hin<lb/>
Aus voller Hand; die Scheiter türmten andre,<lb/>
Die sicheren Stämme tragend; wer nicht trug, vernahm<lb/>
Bon andern, welche trugen, dies hvhnvolle Wort:<lb/>
Herzloser, stehst du müßig hier, hast kein Gewand<lb/>
Für solche Jungfrau, keinen Schmuck in deiner Hand?<lb/>
Sie willst du nicht beschenken, die so großgesinnt<lb/>
Hinstarb, so mutig?  Solche Kunde bring ich dir<lb/>
Bon deiner Tochter; jn, du bist die glücklichste<lb/>
Von allen Müttern und die unglückseligste.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_463"> Auch in den Troerinnen kann es Talthybios kaum übers Herz bringen, der<lb/>
Andromache zu verkündigen, was die Danaer über ihr Söhnchen Astyanax<lb/>
beschlossen haben:</p><lb/>
            <quote> Solchen Beschluß darf nur<lb/>
Urkunden ein Mann, der mitleidlos<lb/>
Und ohne Gefühl, nicht unsers Sinns,<lb/>
Schamloser Vermessenheit huldigt.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_464"> Eurystheus in den Schutzflehenden und Lylos im Rasenden Herakles, die beide<lb/>
die Kinder des Herakles umbringe:: wollen, finden für nötig, sich damit zu<lb/>
rechtfertige::, daß nicht Grausamkeit sie treibe, sondern die Sorge für ihre<lb/>
eigne Sicherheit sie zu solchem Handeln zwinge. Ja sogar Lhsfa, die per-<lb/>
sonifizirte Raserei, sträubt sich, dem Gebote der Hera zu gehorchen und den<lb/>
Herakles zu befallen: Und Straf ich liebe Menschen, ist mirs keine Lust.<lb/>
Wie es den Athenern zuwider war, auch manchmal hart und grausam sein zu<lb/>
müssen, und daß sie nur durch Notwendigkeit gedrängt oder durch Ärger und<lb/>
Kummer verbittert auch einmal die rauhe Seite herauskehrten, sieht man recht<lb/>
deutlich aus einer ergötzlich naiven Äußerung des Chors von Bürgern und<lb/>
Bauern im &#x201E;Frieden" des Aristophanes. Da ihnen Aussicht gemacht ist auf<lb/>
die Wiederkehr des Friedens, machen sie ihrer Freude zuerst in lustigen Tänzen<lb/>
und Sprüngen Luft, dann sagen sie:</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0139] Die ätherische volksmoral im Drama Nahm sie von hoher Schulter ihr Gewand und riß Es bis zur Hüfte mitten durch, zum Nabel hin, Und zeigte Hals und Busen, wie ein göttliches Gebild S» reizend, senkt ein Knie zur Erde dann, Und sprach von allen Worten dies hochherzigste: Sieh her, o Jüngling! Wünschest du in meine Brust Den Stahl zu bohren, bohre; wenn in meinen HalZ — Wohlan, der Nacken ist gefaßt auf deinen Stoß! Er, wollend und nicht wollend — denn sie jammert ihn — Zerhaut des Atems Röhren ihr mit scharfem Stahl. Des Blutes Quelle sprang; sie, im Sterben auch, Trug viele Vorsicht, hinzusinken, wies geziemt, Zu bergen, was man bergen muß vor Mannes Blick. Und als im Todesstoße sie den Geist verhnucht, Saum jeder Mann des Heeres ans ein andres Werk. Die einen warfen Blätter aus die Tote hin Aus voller Hand; die Scheiter türmten andre, Die sicheren Stämme tragend; wer nicht trug, vernahm Bon andern, welche trugen, dies hvhnvolle Wort: Herzloser, stehst du müßig hier, hast kein Gewand Für solche Jungfrau, keinen Schmuck in deiner Hand? Sie willst du nicht beschenken, die so großgesinnt Hinstarb, so mutig? Solche Kunde bring ich dir Bon deiner Tochter; jn, du bist die glücklichste Von allen Müttern und die unglückseligste. Auch in den Troerinnen kann es Talthybios kaum übers Herz bringen, der Andromache zu verkündigen, was die Danaer über ihr Söhnchen Astyanax beschlossen haben: Solchen Beschluß darf nur Urkunden ein Mann, der mitleidlos Und ohne Gefühl, nicht unsers Sinns, Schamloser Vermessenheit huldigt. Eurystheus in den Schutzflehenden und Lylos im Rasenden Herakles, die beide die Kinder des Herakles umbringe:: wollen, finden für nötig, sich damit zu rechtfertige::, daß nicht Grausamkeit sie treibe, sondern die Sorge für ihre eigne Sicherheit sie zu solchem Handeln zwinge. Ja sogar Lhsfa, die per- sonifizirte Raserei, sträubt sich, dem Gebote der Hera zu gehorchen und den Herakles zu befallen: Und Straf ich liebe Menschen, ist mirs keine Lust. Wie es den Athenern zuwider war, auch manchmal hart und grausam sein zu müssen, und daß sie nur durch Notwendigkeit gedrängt oder durch Ärger und Kummer verbittert auch einmal die rauhe Seite herauskehrten, sieht man recht deutlich aus einer ergötzlich naiven Äußerung des Chors von Bürgern und Bauern im „Frieden" des Aristophanes. Da ihnen Aussicht gemacht ist auf die Wiederkehr des Friedens, machen sie ihrer Freude zuerst in lustigen Tänzen und Sprüngen Luft, dann sagen sie:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/139
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/139>, abgerufen am 28.07.2024.