Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die ätherische Volksmoral im Drama

In Argos wokmen konnte. Nun der Himmel ihn
Aufnahm, bewahr ich, Hilfe selbst bedürfend, hier
Des Helden Kinder unter meinen Fittichen.

Wo alte barbarische Sitte ein Menschenopfer fordert, da wird das Em¬
pörende daran wenigstens gebührend hervorgehoben. Schändlich würf, läßt
Euripides die Hekabe sagen, deren Tochter Polyxenci dem Schatten des
Achilleus geopfert werden soll,


schändlich wär es, Fraun zu morden, die
Ihr früher nicht gemordet, als ihr vom Altar
Sie risset; Mitleid fühltet ihr und Schoreel sie.
Verbeut in eurem Lande doch ein gleich Gesetz
Den Mord des freien Mannes und des Sklaven Mord.

Und da Odysseus dabei bleibt, man sei der Ehre des Achilleus dieses Opfer
schuldig, und Hekabe nun mit streben will, da spricht Odysseus:


An deiner Tochter Tod genügt; nicht Mord zu Mord
Zu fügen ziemt uns; o, bedürfts auch dessen nicht!

Es ist also nicht Mordlust, sondern nur die Macht des Aberglaubens, die
solche Opfer fordert. Sehr schön berichtet dann der Herold Talthybios über
das vollbrachte Opfer. Was soll ich sagen! ruft er beim Anblick Hekabes,


Kümmere dich der Menschen Los,
Zeus, oder nenn ichs Lüge, nenn ichs eiteln Wahn,
Zu glauben, daß noch ein Geschlecht der Götter lebt,
Da blinder Zufall alles lenkt, was menschlich heißt?
War diese nicht goldreicher Phryger Königin?

Und auf ihre Frage, wie man es mit der Hingeschlachteten gehalten habe:


Zwiefache Thränen willst du mir entlocken, Frau,
Um deine Tochter, denn bericht ich ihren Tod,
Thräne mir das Auge, wie am Grabe, da sie starb.

Er erzählt nun, wie vor den versammelten Danaern des Achilleus Sohn
Neoptolemos die Jungfrau bei der Hand den Hügel hinangeführt, dann aus
dem Becher gespendet und zum Vater gebetet habe, er möge jetzt, versöhnt
durch das Blut der reinen Jungfrau, dem Heere hold sein und ihm glückliche
Heimkehr bescheren. Doch als er nun den anserkornen Jünglingen gewinkt
habe, "dein armes Kind zu fassen," da habe die Jungfrau gerufen:


Ihr Sohn' Achaias, die verheert die Troerstadt,
Ich sterbe willig; keiner leg an mich die Hand!
Denn meinen Nacken biet ich dar mit frohem Mut.
Laßt mich, die Freie, ledig, bei den Himmlischen!
Damit ich sterb als Freie; denn im Totenreich
Sklavin zu heißen, schämt sich die Königstochter.
Da dröhnte Beifall; auch befahl den Jünglingen
Bon ihr zu lassen Agamenmons Herrscherwort.
Und als die Jungfrau dies Gebot des Königs hörte,

Die ätherische Volksmoral im Drama

In Argos wokmen konnte. Nun der Himmel ihn
Aufnahm, bewahr ich, Hilfe selbst bedürfend, hier
Des Helden Kinder unter meinen Fittichen.

Wo alte barbarische Sitte ein Menschenopfer fordert, da wird das Em¬
pörende daran wenigstens gebührend hervorgehoben. Schändlich würf, läßt
Euripides die Hekabe sagen, deren Tochter Polyxenci dem Schatten des
Achilleus geopfert werden soll,


schändlich wär es, Fraun zu morden, die
Ihr früher nicht gemordet, als ihr vom Altar
Sie risset; Mitleid fühltet ihr und Schoreel sie.
Verbeut in eurem Lande doch ein gleich Gesetz
Den Mord des freien Mannes und des Sklaven Mord.

Und da Odysseus dabei bleibt, man sei der Ehre des Achilleus dieses Opfer
schuldig, und Hekabe nun mit streben will, da spricht Odysseus:


An deiner Tochter Tod genügt; nicht Mord zu Mord
Zu fügen ziemt uns; o, bedürfts auch dessen nicht!

Es ist also nicht Mordlust, sondern nur die Macht des Aberglaubens, die
solche Opfer fordert. Sehr schön berichtet dann der Herold Talthybios über
das vollbrachte Opfer. Was soll ich sagen! ruft er beim Anblick Hekabes,


Kümmere dich der Menschen Los,
Zeus, oder nenn ichs Lüge, nenn ichs eiteln Wahn,
Zu glauben, daß noch ein Geschlecht der Götter lebt,
Da blinder Zufall alles lenkt, was menschlich heißt?
War diese nicht goldreicher Phryger Königin?

Und auf ihre Frage, wie man es mit der Hingeschlachteten gehalten habe:


Zwiefache Thränen willst du mir entlocken, Frau,
Um deine Tochter, denn bericht ich ihren Tod,
Thräne mir das Auge, wie am Grabe, da sie starb.

Er erzählt nun, wie vor den versammelten Danaern des Achilleus Sohn
Neoptolemos die Jungfrau bei der Hand den Hügel hinangeführt, dann aus
dem Becher gespendet und zum Vater gebetet habe, er möge jetzt, versöhnt
durch das Blut der reinen Jungfrau, dem Heere hold sein und ihm glückliche
Heimkehr bescheren. Doch als er nun den anserkornen Jünglingen gewinkt
habe, „dein armes Kind zu fassen," da habe die Jungfrau gerufen:


Ihr Sohn' Achaias, die verheert die Troerstadt,
Ich sterbe willig; keiner leg an mich die Hand!
Denn meinen Nacken biet ich dar mit frohem Mut.
Laßt mich, die Freie, ledig, bei den Himmlischen!
Damit ich sterb als Freie; denn im Totenreich
Sklavin zu heißen, schämt sich die Königstochter.
Da dröhnte Beifall; auch befahl den Jünglingen
Bon ihr zu lassen Agamenmons Herrscherwort.
Und als die Jungfrau dies Gebot des Königs hörte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215228"/>
            <fw type="header" place="top"> Die ätherische Volksmoral im Drama</fw><lb/>
            <quote> In Argos wokmen konnte. Nun der Himmel ihn<lb/>
Aufnahm, bewahr ich, Hilfe selbst bedürfend, hier<lb/>
Des Helden Kinder unter meinen Fittichen.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_458"> Wo alte barbarische Sitte ein Menschenopfer fordert, da wird das Em¬<lb/>
pörende daran wenigstens gebührend hervorgehoben. Schändlich würf, läßt<lb/>
Euripides die Hekabe sagen, deren Tochter Polyxenci dem Schatten des<lb/>
Achilleus geopfert werden soll,</p><lb/>
            <quote> schändlich wär es, Fraun zu morden, die<lb/>
Ihr früher nicht gemordet, als ihr vom Altar<lb/>
Sie risset; Mitleid fühltet ihr und Schoreel sie.<lb/>
Verbeut in eurem Lande doch ein gleich Gesetz<lb/>
Den Mord des freien Mannes und des Sklaven Mord.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_459"> Und da Odysseus dabei bleibt, man sei der Ehre des Achilleus dieses Opfer<lb/>
schuldig, und Hekabe nun mit streben will, da spricht Odysseus:</p><lb/>
            <quote> An deiner Tochter Tod genügt; nicht Mord zu Mord<lb/>
Zu fügen ziemt uns; o, bedürfts auch dessen nicht!</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_460"> Es ist also nicht Mordlust, sondern nur die Macht des Aberglaubens, die<lb/>
solche Opfer fordert. Sehr schön berichtet dann der Herold Talthybios über<lb/>
das vollbrachte Opfer.  Was soll ich sagen! ruft er beim Anblick Hekabes,</p><lb/>
            <quote> Kümmere dich der Menschen Los,<lb/>
Zeus, oder nenn ichs Lüge, nenn ichs eiteln Wahn,<lb/>
Zu glauben, daß noch ein Geschlecht der Götter lebt,<lb/>
Da blinder Zufall alles lenkt, was menschlich heißt?<lb/>
War diese nicht goldreicher Phryger Königin?</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_461"> Und auf ihre Frage, wie man es mit der Hingeschlachteten gehalten habe:</p><lb/>
            <quote> Zwiefache Thränen willst du mir entlocken, Frau,<lb/>
Um deine Tochter, denn bericht ich ihren Tod,<lb/>
Thräne mir das Auge, wie am Grabe, da sie starb.</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_462"> Er erzählt nun, wie vor den versammelten Danaern des Achilleus Sohn<lb/>
Neoptolemos die Jungfrau bei der Hand den Hügel hinangeführt, dann aus<lb/>
dem Becher gespendet und zum Vater gebetet habe, er möge jetzt, versöhnt<lb/>
durch das Blut der reinen Jungfrau, dem Heere hold sein und ihm glückliche<lb/>
Heimkehr bescheren. Doch als er nun den anserkornen Jünglingen gewinkt<lb/>
habe, &#x201E;dein armes Kind zu fassen," da habe die Jungfrau gerufen:</p><lb/>
            <quote> Ihr Sohn' Achaias, die verheert die Troerstadt,<lb/>
Ich sterbe willig; keiner leg an mich die Hand!<lb/>
Denn meinen Nacken biet ich dar mit frohem Mut.<lb/>
Laßt mich, die Freie, ledig, bei den Himmlischen!<lb/>
Damit ich sterb als Freie; denn im Totenreich<lb/>
Sklavin zu heißen, schämt sich die Königstochter.<lb/>
Da dröhnte Beifall; auch befahl den Jünglingen<lb/>
Bon ihr zu lassen Agamenmons Herrscherwort.<lb/>
Und als die Jungfrau dies Gebot des Königs hörte,</quote><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0138] Die ätherische Volksmoral im Drama In Argos wokmen konnte. Nun der Himmel ihn Aufnahm, bewahr ich, Hilfe selbst bedürfend, hier Des Helden Kinder unter meinen Fittichen. Wo alte barbarische Sitte ein Menschenopfer fordert, da wird das Em¬ pörende daran wenigstens gebührend hervorgehoben. Schändlich würf, läßt Euripides die Hekabe sagen, deren Tochter Polyxenci dem Schatten des Achilleus geopfert werden soll, schändlich wär es, Fraun zu morden, die Ihr früher nicht gemordet, als ihr vom Altar Sie risset; Mitleid fühltet ihr und Schoreel sie. Verbeut in eurem Lande doch ein gleich Gesetz Den Mord des freien Mannes und des Sklaven Mord. Und da Odysseus dabei bleibt, man sei der Ehre des Achilleus dieses Opfer schuldig, und Hekabe nun mit streben will, da spricht Odysseus: An deiner Tochter Tod genügt; nicht Mord zu Mord Zu fügen ziemt uns; o, bedürfts auch dessen nicht! Es ist also nicht Mordlust, sondern nur die Macht des Aberglaubens, die solche Opfer fordert. Sehr schön berichtet dann der Herold Talthybios über das vollbrachte Opfer. Was soll ich sagen! ruft er beim Anblick Hekabes, Kümmere dich der Menschen Los, Zeus, oder nenn ichs Lüge, nenn ichs eiteln Wahn, Zu glauben, daß noch ein Geschlecht der Götter lebt, Da blinder Zufall alles lenkt, was menschlich heißt? War diese nicht goldreicher Phryger Königin? Und auf ihre Frage, wie man es mit der Hingeschlachteten gehalten habe: Zwiefache Thränen willst du mir entlocken, Frau, Um deine Tochter, denn bericht ich ihren Tod, Thräne mir das Auge, wie am Grabe, da sie starb. Er erzählt nun, wie vor den versammelten Danaern des Achilleus Sohn Neoptolemos die Jungfrau bei der Hand den Hügel hinangeführt, dann aus dem Becher gespendet und zum Vater gebetet habe, er möge jetzt, versöhnt durch das Blut der reinen Jungfrau, dem Heere hold sein und ihm glückliche Heimkehr bescheren. Doch als er nun den anserkornen Jünglingen gewinkt habe, „dein armes Kind zu fassen," da habe die Jungfrau gerufen: Ihr Sohn' Achaias, die verheert die Troerstadt, Ich sterbe willig; keiner leg an mich die Hand! Denn meinen Nacken biet ich dar mit frohem Mut. Laßt mich, die Freie, ledig, bei den Himmlischen! Damit ich sterb als Freie; denn im Totenreich Sklavin zu heißen, schämt sich die Königstochter. Da dröhnte Beifall; auch befahl den Jünglingen Bon ihr zu lassen Agamenmons Herrscherwort. Und als die Jungfrau dies Gebot des Königs hörte,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/138
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/138>, abgerufen am 28.07.2024.