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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Daß es mir beschicken wäre, diesen frohen Tag zu schaun!
Nicht als Richter sollst du dann mich mürrisch finden oder streng,
Noch von allzuherben Wesen, wie zuvor es wohl geschah;
Mildiglich bewahr ich mich,
Jugendlicher fühl ich mich ent-
bunden solchen Drangsals erst.

Also, Wenns den Leutchen mir gut geht, dann sprechen sie mit Vergnügen
jeden angeklagten Schelm los! Nun, das war freilich nichts weniger als
moderne Rechtsstaatsart; doch auch bei uns würde es einen Angeklagten bei
aller überzeugten Ehrfurcht vor der unbeugsamen und unbestechlichen Gerech¬
tigkeit der Justiz nicht gerade mit Hoffnung erfüllen, wenn er erführe, daß
der Richter von einem Zank mit seiner Frau oder mit Kopfweh in den
Termin kommt.

Wollten wir alle Äußerungen lebhaften und zarten Mitleids aus den
Trauerspielen zusammentragen, so würde ein ganzes Heft daraus werden.
Von jedem der beiden ältern haben wir eine förmliche Mitlcidstragödie, von
Aischylos den gefesselten Prometheus, von Sophokles den Philoktet. Euri-
pides aber zeigt sich überall so zartsinnig und weich, daß man für die Selb¬
ständigkeit eines Volkes bangen müßte, bei dem solche Gesinnung und Stim¬
mung zur unumschränkten Herrschaft gelangt wäre. Sie zu kennzeichnen, ge¬
nügen die oben angeführten Stellen. Nur das eine mag noch hervorgehoben
werden, daß, wie besonders des Euripides Hekabe und Troerinnen beweisen,
weder die Ausländer noch die Sklaven vom Mitleid ausgeschlossen wurden.
Auch aus dem Herbern Aischylos geht das hervor. Der von Troia heim¬
kehrende Agamemnon führt die Seherin Kassandra als Kriegsgefangne mit
sich. Nachdem er abgestiegen ist, spricht er zu seiner Gemahlin:


Dieses fremde Mädchen führ
Ins Haus mir freundlich; wer als Herr sich mild erzeigt,
Auf den herab sieht mild und gnadenreich der Gott,
Mit frohem Herzen trägt ja niemand Sklavenjoch.
Aus vielen Beulen als die schönste Blume mir
Vom Heer erlesen und geschenkt, so kam sie mir.

Da sie draußen bleibt, so muß Klytaimnestrn noch einmal aus dem Paläste
herauskommen, sie zu holen:


So komm hinein doch! dn, Kassandra, bist gemeint;
Nicht zürnte Zeus dir, daß er in unserm Hanse dich
Am Opfer teil läßt nehmen, mit den übrigen
Dienstboten hinzutreten an den heiligen Herd.
So steig herab vom Wagen! Laß den eiteln Stolz!
Denn auch Alkmenes Sohn, so sagt man, trug es einst,
Verlaufe zu leben und zu essen Knechtesbrot.
Kommt solches Schicksals Unvermeidlichkeit einmal,
So ist ein altbegütcrt Haus ganz augenehm.

Die ätherische Volksmoral im Drama

Daß es mir beschicken wäre, diesen frohen Tag zu schaun!
Nicht als Richter sollst du dann mich mürrisch finden oder streng,
Noch von allzuherben Wesen, wie zuvor es wohl geschah;
Mildiglich bewahr ich mich,
Jugendlicher fühl ich mich ent-
bunden solchen Drangsals erst.

Also, Wenns den Leutchen mir gut geht, dann sprechen sie mit Vergnügen
jeden angeklagten Schelm los! Nun, das war freilich nichts weniger als
moderne Rechtsstaatsart; doch auch bei uns würde es einen Angeklagten bei
aller überzeugten Ehrfurcht vor der unbeugsamen und unbestechlichen Gerech¬
tigkeit der Justiz nicht gerade mit Hoffnung erfüllen, wenn er erführe, daß
der Richter von einem Zank mit seiner Frau oder mit Kopfweh in den
Termin kommt.

Wollten wir alle Äußerungen lebhaften und zarten Mitleids aus den
Trauerspielen zusammentragen, so würde ein ganzes Heft daraus werden.
Von jedem der beiden ältern haben wir eine förmliche Mitlcidstragödie, von
Aischylos den gefesselten Prometheus, von Sophokles den Philoktet. Euri-
pides aber zeigt sich überall so zartsinnig und weich, daß man für die Selb¬
ständigkeit eines Volkes bangen müßte, bei dem solche Gesinnung und Stim¬
mung zur unumschränkten Herrschaft gelangt wäre. Sie zu kennzeichnen, ge¬
nügen die oben angeführten Stellen. Nur das eine mag noch hervorgehoben
werden, daß, wie besonders des Euripides Hekabe und Troerinnen beweisen,
weder die Ausländer noch die Sklaven vom Mitleid ausgeschlossen wurden.
Auch aus dem Herbern Aischylos geht das hervor. Der von Troia heim¬
kehrende Agamemnon führt die Seherin Kassandra als Kriegsgefangne mit
sich. Nachdem er abgestiegen ist, spricht er zu seiner Gemahlin:


Dieses fremde Mädchen führ
Ins Haus mir freundlich; wer als Herr sich mild erzeigt,
Auf den herab sieht mild und gnadenreich der Gott,
Mit frohem Herzen trägt ja niemand Sklavenjoch.
Aus vielen Beulen als die schönste Blume mir
Vom Heer erlesen und geschenkt, so kam sie mir.

Da sie draußen bleibt, so muß Klytaimnestrn noch einmal aus dem Paläste
herauskommen, sie zu holen:


So komm hinein doch! dn, Kassandra, bist gemeint;
Nicht zürnte Zeus dir, daß er in unserm Hanse dich
Am Opfer teil läßt nehmen, mit den übrigen
Dienstboten hinzutreten an den heiligen Herd.
So steig herab vom Wagen! Laß den eiteln Stolz!
Denn auch Alkmenes Sohn, so sagt man, trug es einst,
Verlaufe zu leben und zu essen Knechtesbrot.
Kommt solches Schicksals Unvermeidlichkeit einmal,
So ist ein altbegütcrt Haus ganz augenehm.

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[0140] Die ätherische Volksmoral im Drama Daß es mir beschicken wäre, diesen frohen Tag zu schaun! Nicht als Richter sollst du dann mich mürrisch finden oder streng, Noch von allzuherben Wesen, wie zuvor es wohl geschah; Mildiglich bewahr ich mich, Jugendlicher fühl ich mich ent- bunden solchen Drangsals erst. Also, Wenns den Leutchen mir gut geht, dann sprechen sie mit Vergnügen jeden angeklagten Schelm los! Nun, das war freilich nichts weniger als moderne Rechtsstaatsart; doch auch bei uns würde es einen Angeklagten bei aller überzeugten Ehrfurcht vor der unbeugsamen und unbestechlichen Gerech¬ tigkeit der Justiz nicht gerade mit Hoffnung erfüllen, wenn er erführe, daß der Richter von einem Zank mit seiner Frau oder mit Kopfweh in den Termin kommt. Wollten wir alle Äußerungen lebhaften und zarten Mitleids aus den Trauerspielen zusammentragen, so würde ein ganzes Heft daraus werden. Von jedem der beiden ältern haben wir eine förmliche Mitlcidstragödie, von Aischylos den gefesselten Prometheus, von Sophokles den Philoktet. Euri- pides aber zeigt sich überall so zartsinnig und weich, daß man für die Selb¬ ständigkeit eines Volkes bangen müßte, bei dem solche Gesinnung und Stim¬ mung zur unumschränkten Herrschaft gelangt wäre. Sie zu kennzeichnen, ge¬ nügen die oben angeführten Stellen. Nur das eine mag noch hervorgehoben werden, daß, wie besonders des Euripides Hekabe und Troerinnen beweisen, weder die Ausländer noch die Sklaven vom Mitleid ausgeschlossen wurden. Auch aus dem Herbern Aischylos geht das hervor. Der von Troia heim¬ kehrende Agamemnon führt die Seherin Kassandra als Kriegsgefangne mit sich. Nachdem er abgestiegen ist, spricht er zu seiner Gemahlin: Dieses fremde Mädchen führ Ins Haus mir freundlich; wer als Herr sich mild erzeigt, Auf den herab sieht mild und gnadenreich der Gott, Mit frohem Herzen trägt ja niemand Sklavenjoch. Aus vielen Beulen als die schönste Blume mir Vom Heer erlesen und geschenkt, so kam sie mir. Da sie draußen bleibt, so muß Klytaimnestrn noch einmal aus dem Paläste herauskommen, sie zu holen: So komm hinein doch! dn, Kassandra, bist gemeint; Nicht zürnte Zeus dir, daß er in unserm Hanse dich Am Opfer teil läßt nehmen, mit den übrigen Dienstboten hinzutreten an den heiligen Herd. So steig herab vom Wagen! Laß den eiteln Stolz! Denn auch Alkmenes Sohn, so sagt man, trug es einst, Verlaufe zu leben und zu essen Knechtesbrot. Kommt solches Schicksals Unvermeidlichkeit einmal, So ist ein altbegütcrt Haus ganz augenehm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/140>, abgerufen am 23.11.2024.