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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Auch ein Lehrplan

Ein solches Leben fordert um vor allem eine tüchtige Bildung des
Charakters. Aber was für einen Charakter soll die Schule dem jungen Ge¬
schlecht geben? Nun, einen guten natürlich, denn ein guter Mensch ist sich
bekanntlich selbst im dunkelsten Drange des rechten Weges wohl bewußt.
Nun giebt es aber außer gut und böse noch eine ganze Anzahl sittlicher Gegen¬
sätze, und es wäre zu wünschen, daß der junge Mensch für die Irrfahrten im
"dunkeln Drang" etwas vollständiger ausgerüstet würde. Doch, wie dem
auch sei, meiner Meinung nach ist es gar nicht Sache der Schule, die sittliche
Grundlage des Charakters zu legen, diese Aufgabe fällt der Familie anheim.
Wer nicht einen gewissen Schatz sittlicher Tüchtigkeit von Haus aus mit¬
bringt, aus dem wird Zeit seines Lebens nichts ordentliches, wenn ihn nicht
das Leben selbst in eine harte Schule nimmt. Freilich hat die Schule die
gute Charakteranlage zu Pflegen und die Entwicklung schlechter Seiten zu
hemmen, aber das kann nicht Gegenstand eines besondern Unterrichtsfaches
sein, jeder Lehrer und jede Stunde hat daran mitzuarbeiten. Schulzucht nennt
man das, und es ist nicht zu verwechseln mit militärischer Disziplin. Für die
formale Bildung des Charakters brauchen wir also nicht, wie sür die formale
Verstandesbildung, einen besondern Platz im Unterricht zu belegen. Welcher
Inhalt aber soll dem Charakter gegeben werden? wozu soll die Schule ihre
Schüler heranbilden? Nun, zu Deutschen. Das wäre ein Charakter? Nein,
das ist es leider noch nicht, aber es ist die höchste Zeit, daß es einer werde.
Deutsche mit dem Verstände sind wir nun lange genug, zu wissen, daß das
deutsche Reich eine vaterlandslose Gesinnung zwar dulden muß, ihre Umsetzung
in die That aber nur bis zu einer gewissen Schranke gestatten darf. Ich dächte,
es wäre um Zeit, daß wir nach und nach auch Deutsche vou Charakter
würden. Und ich dächte ferner, die Verbündeten Regierungen hätten das aller¬
größte Interesse daran, diese Umwandlung zu beschleunigen. Hat es ihnen
doch in allerjüngster Zeit Schwierigkeiten über Schwierigkeiten bereitet, sich
mit der Volksvertretung zu verständigen. Das sollte eine Lehre sein für die
Zukunft. Denn wo anders soll der deutsche Charakter, der eine Verständigung
da noch möglich machen müßte, wo der Verstand keine mehr findet, wo anders
soll der gebildet werden als an der Stätte, wo der ganze Mensch fürs Leben
vorgebildet wird? Wenn sich aber das Geschlecht, das seit dem großen Kriege
herangewachsen ist, als Deutsche fühlt, der Schule verdankt es das wahrhaftig
nicht. Denn die Liebe zum Mutterlande wird nicht dnrch Kaisersgeburtstags¬
feiern gehegt und gepflegt, dadurch schafft man nur "Patriotismus," und von
dieser Sorte haben wir genug und übergenug. Wir haben eine deutschkonservative
Partei und eine deutschsvziale, eine nationalliberale und eine -- weiland --
dcutschfrcisinnige, und es soll mich nicht wundern, wenn sich nicht nächstens
noch eine dentschanarchistische bildet. Wo in aller Welt ist ein Volk, das bei
seinen Parteien den nationalen Grundzug nicht als selbstverständlich voraus-


Auch ein Lehrplan

Ein solches Leben fordert um vor allem eine tüchtige Bildung des
Charakters. Aber was für einen Charakter soll die Schule dem jungen Ge¬
schlecht geben? Nun, einen guten natürlich, denn ein guter Mensch ist sich
bekanntlich selbst im dunkelsten Drange des rechten Weges wohl bewußt.
Nun giebt es aber außer gut und böse noch eine ganze Anzahl sittlicher Gegen¬
sätze, und es wäre zu wünschen, daß der junge Mensch für die Irrfahrten im
„dunkeln Drang" etwas vollständiger ausgerüstet würde. Doch, wie dem
auch sei, meiner Meinung nach ist es gar nicht Sache der Schule, die sittliche
Grundlage des Charakters zu legen, diese Aufgabe fällt der Familie anheim.
Wer nicht einen gewissen Schatz sittlicher Tüchtigkeit von Haus aus mit¬
bringt, aus dem wird Zeit seines Lebens nichts ordentliches, wenn ihn nicht
das Leben selbst in eine harte Schule nimmt. Freilich hat die Schule die
gute Charakteranlage zu Pflegen und die Entwicklung schlechter Seiten zu
hemmen, aber das kann nicht Gegenstand eines besondern Unterrichtsfaches
sein, jeder Lehrer und jede Stunde hat daran mitzuarbeiten. Schulzucht nennt
man das, und es ist nicht zu verwechseln mit militärischer Disziplin. Für die
formale Bildung des Charakters brauchen wir also nicht, wie sür die formale
Verstandesbildung, einen besondern Platz im Unterricht zu belegen. Welcher
Inhalt aber soll dem Charakter gegeben werden? wozu soll die Schule ihre
Schüler heranbilden? Nun, zu Deutschen. Das wäre ein Charakter? Nein,
das ist es leider noch nicht, aber es ist die höchste Zeit, daß es einer werde.
Deutsche mit dem Verstände sind wir nun lange genug, zu wissen, daß das
deutsche Reich eine vaterlandslose Gesinnung zwar dulden muß, ihre Umsetzung
in die That aber nur bis zu einer gewissen Schranke gestatten darf. Ich dächte,
es wäre um Zeit, daß wir nach und nach auch Deutsche vou Charakter
würden. Und ich dächte ferner, die Verbündeten Regierungen hätten das aller¬
größte Interesse daran, diese Umwandlung zu beschleunigen. Hat es ihnen
doch in allerjüngster Zeit Schwierigkeiten über Schwierigkeiten bereitet, sich
mit der Volksvertretung zu verständigen. Das sollte eine Lehre sein für die
Zukunft. Denn wo anders soll der deutsche Charakter, der eine Verständigung
da noch möglich machen müßte, wo der Verstand keine mehr findet, wo anders
soll der gebildet werden als an der Stätte, wo der ganze Mensch fürs Leben
vorgebildet wird? Wenn sich aber das Geschlecht, das seit dem großen Kriege
herangewachsen ist, als Deutsche fühlt, der Schule verdankt es das wahrhaftig
nicht. Denn die Liebe zum Mutterlande wird nicht dnrch Kaisersgeburtstags¬
feiern gehegt und gepflegt, dadurch schafft man nur „Patriotismus," und von
dieser Sorte haben wir genug und übergenug. Wir haben eine deutschkonservative
Partei und eine deutschsvziale, eine nationalliberale und eine — weiland —
dcutschfrcisinnige, und es soll mich nicht wundern, wenn sich nicht nächstens
noch eine dentschanarchistische bildet. Wo in aller Welt ist ein Volk, das bei
seinen Parteien den nationalen Grundzug nicht als selbstverständlich voraus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/125>, abgerufen am 28.07.2024.