Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Auch ein Lehrplan

setzte, das es für nötig hielte, diesen Grundzug noch besonders auszusprechen!
Wo in aller Welt aber ist auch ein Volk, das zwanzig Jahre lang das ge¬
achtelte und gefürchtetste der Welt war, und das immer noch nicht den Mut
gefunden hat, seine eigne hochentwickelte Kultur in den Mittelpunkt seiner
Jugenderziehung zu stellen!

"Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt," hat je¬
mand gesagt. Aber der Mann hat sein stolzes Selbstvertrauen auf sein Volk
übertragen, und ich fürchte, er hat sich geirrt. Eines fürchten wir Deutschen
mehr denn je: an unsern eignen Wert zu glauben. In den Tagen der ärgsten
Zerrissenheit, da gab es wohl Dichter und Gelehrte, die die deutsche Kultur
an die Spitze der Menschheit stellten. Das große deutsche Reich aber wagt
es nicht, seine Jugendbildung in der Hauptsache aus eignen Mitteln zu be¬
streikn. Oder trüge nicht das Volk die Schuld an diesem kläglichen Rück¬
schritt? Läge sie in den Ministerien, diesen Reinkulturen für Bureaukraten?
In der That, man möchte fast glauben, dort oben herrsche immer noch die¬
selbe Angst vor jeder freien Regung des deutschen Volksgeistes wie nach den
Befreiungskriegen. Dieser Mangel an moralischem Mut aber könnte sich der¬
einst bitter rächen. Man hat kürzlich wieder versucht, die rheinischen Direktoren
höherer Lehranstalten für die Bekämpfung der "Irrlehren der Sozialdemokratie"
zu gewinnen. Der schlichte Unterthanenverstand steht stille ob solcher Tiefe
pädagogischer Weisheit. Wenn wir doch einmal bei der Bekämpfung von Irr¬
lehren sind, warum da nicht auch in der Schule die Irrlehren derer bekämpfen,
die da behaupten, die Prostitution sei ein notwendiges Übel? Vielleicht erzielen
wir dadurch einen ungeahnten Aufschwung der Sittlichkeit. Nein, das Rezept
ist bunt genug, nach dem unsre Bildung zusammengebraut wird, man verschone
uns mit weitem Zuthaten. Man gebe Direktoren und Lehrern endlich Raum,
ihre Schüler zu brauchbaren deutschen Bürgern zu erziehen, und man sorge
nach und nach für einen Lehrerstand, der zu dieser Art von Erziehung erzogen
ist, dann braucht man keinerlei Irrlehren mehr zu fürchten, radikale so wenig
wie reaktionäre.

Auf der Wiener Philologeuversammlung hat Professor Uhlig aus Heidelberg
gesagt, "die Natioualitätseiferer erstrebten wohl weniger eine gesteigerte natio¬
nale Bildung in den Schulen als die Verminderung der Kenntnis und Wert¬
schätzung fremder Kulturen. Man möchte jedes Volk mit einer chinesischen
Mauer umgeben." Klingt es nicht wie bitterer Hohn, von einer chinesischen
Mauer zu reden, wo wir es noch nicht einmal zu nationalem Selbstbewußt¬
sein gebracht haben? Gewiß muß die Wertschätzung fremder Kulturen ver¬
mindert werden, bis wir gelernt haben, unsre eigne richtig zu schätzen. Die
Kenntnis fremder Kulturen zu vermindern, darnach strebt niemand. Allerdings
giebt es einige Leute, die der Meinung sind, was die klassischen Sprachen
auf unsern höhern Schulen an fremder Kultur übermitteln, das lasse sich auf


Auch ein Lehrplan

setzte, das es für nötig hielte, diesen Grundzug noch besonders auszusprechen!
Wo in aller Welt aber ist auch ein Volk, das zwanzig Jahre lang das ge¬
achtelte und gefürchtetste der Welt war, und das immer noch nicht den Mut
gefunden hat, seine eigne hochentwickelte Kultur in den Mittelpunkt seiner
Jugenderziehung zu stellen!

„Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt," hat je¬
mand gesagt. Aber der Mann hat sein stolzes Selbstvertrauen auf sein Volk
übertragen, und ich fürchte, er hat sich geirrt. Eines fürchten wir Deutschen
mehr denn je: an unsern eignen Wert zu glauben. In den Tagen der ärgsten
Zerrissenheit, da gab es wohl Dichter und Gelehrte, die die deutsche Kultur
an die Spitze der Menschheit stellten. Das große deutsche Reich aber wagt
es nicht, seine Jugendbildung in der Hauptsache aus eignen Mitteln zu be¬
streikn. Oder trüge nicht das Volk die Schuld an diesem kläglichen Rück¬
schritt? Läge sie in den Ministerien, diesen Reinkulturen für Bureaukraten?
In der That, man möchte fast glauben, dort oben herrsche immer noch die¬
selbe Angst vor jeder freien Regung des deutschen Volksgeistes wie nach den
Befreiungskriegen. Dieser Mangel an moralischem Mut aber könnte sich der¬
einst bitter rächen. Man hat kürzlich wieder versucht, die rheinischen Direktoren
höherer Lehranstalten für die Bekämpfung der „Irrlehren der Sozialdemokratie"
zu gewinnen. Der schlichte Unterthanenverstand steht stille ob solcher Tiefe
pädagogischer Weisheit. Wenn wir doch einmal bei der Bekämpfung von Irr¬
lehren sind, warum da nicht auch in der Schule die Irrlehren derer bekämpfen,
die da behaupten, die Prostitution sei ein notwendiges Übel? Vielleicht erzielen
wir dadurch einen ungeahnten Aufschwung der Sittlichkeit. Nein, das Rezept
ist bunt genug, nach dem unsre Bildung zusammengebraut wird, man verschone
uns mit weitem Zuthaten. Man gebe Direktoren und Lehrern endlich Raum,
ihre Schüler zu brauchbaren deutschen Bürgern zu erziehen, und man sorge
nach und nach für einen Lehrerstand, der zu dieser Art von Erziehung erzogen
ist, dann braucht man keinerlei Irrlehren mehr zu fürchten, radikale so wenig
wie reaktionäre.

Auf der Wiener Philologeuversammlung hat Professor Uhlig aus Heidelberg
gesagt, „die Natioualitätseiferer erstrebten wohl weniger eine gesteigerte natio¬
nale Bildung in den Schulen als die Verminderung der Kenntnis und Wert¬
schätzung fremder Kulturen. Man möchte jedes Volk mit einer chinesischen
Mauer umgeben." Klingt es nicht wie bitterer Hohn, von einer chinesischen
Mauer zu reden, wo wir es noch nicht einmal zu nationalem Selbstbewußt¬
sein gebracht haben? Gewiß muß die Wertschätzung fremder Kulturen ver¬
mindert werden, bis wir gelernt haben, unsre eigne richtig zu schätzen. Die
Kenntnis fremder Kulturen zu vermindern, darnach strebt niemand. Allerdings
giebt es einige Leute, die der Meinung sind, was die klassischen Sprachen
auf unsern höhern Schulen an fremder Kultur übermitteln, das lasse sich auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0126" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215216"/>
          <fw type="header" place="top"> Auch ein Lehrplan</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_424" prev="#ID_423"> setzte, das es für nötig hielte, diesen Grundzug noch besonders auszusprechen!<lb/>
Wo in aller Welt aber ist auch ein Volk, das zwanzig Jahre lang das ge¬<lb/>
achtelte und gefürchtetste der Welt war, und das immer noch nicht den Mut<lb/>
gefunden hat, seine eigne hochentwickelte Kultur in den Mittelpunkt seiner<lb/>
Jugenderziehung zu stellen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_425"> &#x201E;Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt," hat je¬<lb/>
mand gesagt. Aber der Mann hat sein stolzes Selbstvertrauen auf sein Volk<lb/>
übertragen, und ich fürchte, er hat sich geirrt. Eines fürchten wir Deutschen<lb/>
mehr denn je: an unsern eignen Wert zu glauben. In den Tagen der ärgsten<lb/>
Zerrissenheit, da gab es wohl Dichter und Gelehrte, die die deutsche Kultur<lb/>
an die Spitze der Menschheit stellten. Das große deutsche Reich aber wagt<lb/>
es nicht, seine Jugendbildung in der Hauptsache aus eignen Mitteln zu be¬<lb/>
streikn. Oder trüge nicht das Volk die Schuld an diesem kläglichen Rück¬<lb/>
schritt? Läge sie in den Ministerien, diesen Reinkulturen für Bureaukraten?<lb/>
In der That, man möchte fast glauben, dort oben herrsche immer noch die¬<lb/>
selbe Angst vor jeder freien Regung des deutschen Volksgeistes wie nach den<lb/>
Befreiungskriegen. Dieser Mangel an moralischem Mut aber könnte sich der¬<lb/>
einst bitter rächen. Man hat kürzlich wieder versucht, die rheinischen Direktoren<lb/>
höherer Lehranstalten für die Bekämpfung der &#x201E;Irrlehren der Sozialdemokratie"<lb/>
zu gewinnen. Der schlichte Unterthanenverstand steht stille ob solcher Tiefe<lb/>
pädagogischer Weisheit. Wenn wir doch einmal bei der Bekämpfung von Irr¬<lb/>
lehren sind, warum da nicht auch in der Schule die Irrlehren derer bekämpfen,<lb/>
die da behaupten, die Prostitution sei ein notwendiges Übel? Vielleicht erzielen<lb/>
wir dadurch einen ungeahnten Aufschwung der Sittlichkeit. Nein, das Rezept<lb/>
ist bunt genug, nach dem unsre Bildung zusammengebraut wird, man verschone<lb/>
uns mit weitem Zuthaten. Man gebe Direktoren und Lehrern endlich Raum,<lb/>
ihre Schüler zu brauchbaren deutschen Bürgern zu erziehen, und man sorge<lb/>
nach und nach für einen Lehrerstand, der zu dieser Art von Erziehung erzogen<lb/>
ist, dann braucht man keinerlei Irrlehren mehr zu fürchten, radikale so wenig<lb/>
wie reaktionäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_426" next="#ID_427"> Auf der Wiener Philologeuversammlung hat Professor Uhlig aus Heidelberg<lb/>
gesagt, &#x201E;die Natioualitätseiferer erstrebten wohl weniger eine gesteigerte natio¬<lb/>
nale Bildung in den Schulen als die Verminderung der Kenntnis und Wert¬<lb/>
schätzung fremder Kulturen. Man möchte jedes Volk mit einer chinesischen<lb/>
Mauer umgeben." Klingt es nicht wie bitterer Hohn, von einer chinesischen<lb/>
Mauer zu reden, wo wir es noch nicht einmal zu nationalem Selbstbewußt¬<lb/>
sein gebracht haben? Gewiß muß die Wertschätzung fremder Kulturen ver¬<lb/>
mindert werden, bis wir gelernt haben, unsre eigne richtig zu schätzen. Die<lb/>
Kenntnis fremder Kulturen zu vermindern, darnach strebt niemand. Allerdings<lb/>
giebt es einige Leute, die der Meinung sind, was die klassischen Sprachen<lb/>
auf unsern höhern Schulen an fremder Kultur übermitteln, das lasse sich auf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0126] Auch ein Lehrplan setzte, das es für nötig hielte, diesen Grundzug noch besonders auszusprechen! Wo in aller Welt aber ist auch ein Volk, das zwanzig Jahre lang das ge¬ achtelte und gefürchtetste der Welt war, und das immer noch nicht den Mut gefunden hat, seine eigne hochentwickelte Kultur in den Mittelpunkt seiner Jugenderziehung zu stellen! „Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt," hat je¬ mand gesagt. Aber der Mann hat sein stolzes Selbstvertrauen auf sein Volk übertragen, und ich fürchte, er hat sich geirrt. Eines fürchten wir Deutschen mehr denn je: an unsern eignen Wert zu glauben. In den Tagen der ärgsten Zerrissenheit, da gab es wohl Dichter und Gelehrte, die die deutsche Kultur an die Spitze der Menschheit stellten. Das große deutsche Reich aber wagt es nicht, seine Jugendbildung in der Hauptsache aus eignen Mitteln zu be¬ streikn. Oder trüge nicht das Volk die Schuld an diesem kläglichen Rück¬ schritt? Läge sie in den Ministerien, diesen Reinkulturen für Bureaukraten? In der That, man möchte fast glauben, dort oben herrsche immer noch die¬ selbe Angst vor jeder freien Regung des deutschen Volksgeistes wie nach den Befreiungskriegen. Dieser Mangel an moralischem Mut aber könnte sich der¬ einst bitter rächen. Man hat kürzlich wieder versucht, die rheinischen Direktoren höherer Lehranstalten für die Bekämpfung der „Irrlehren der Sozialdemokratie" zu gewinnen. Der schlichte Unterthanenverstand steht stille ob solcher Tiefe pädagogischer Weisheit. Wenn wir doch einmal bei der Bekämpfung von Irr¬ lehren sind, warum da nicht auch in der Schule die Irrlehren derer bekämpfen, die da behaupten, die Prostitution sei ein notwendiges Übel? Vielleicht erzielen wir dadurch einen ungeahnten Aufschwung der Sittlichkeit. Nein, das Rezept ist bunt genug, nach dem unsre Bildung zusammengebraut wird, man verschone uns mit weitem Zuthaten. Man gebe Direktoren und Lehrern endlich Raum, ihre Schüler zu brauchbaren deutschen Bürgern zu erziehen, und man sorge nach und nach für einen Lehrerstand, der zu dieser Art von Erziehung erzogen ist, dann braucht man keinerlei Irrlehren mehr zu fürchten, radikale so wenig wie reaktionäre. Auf der Wiener Philologeuversammlung hat Professor Uhlig aus Heidelberg gesagt, „die Natioualitätseiferer erstrebten wohl weniger eine gesteigerte natio¬ nale Bildung in den Schulen als die Verminderung der Kenntnis und Wert¬ schätzung fremder Kulturen. Man möchte jedes Volk mit einer chinesischen Mauer umgeben." Klingt es nicht wie bitterer Hohn, von einer chinesischen Mauer zu reden, wo wir es noch nicht einmal zu nationalem Selbstbewußt¬ sein gebracht haben? Gewiß muß die Wertschätzung fremder Kulturen ver¬ mindert werden, bis wir gelernt haben, unsre eigne richtig zu schätzen. Die Kenntnis fremder Kulturen zu vermindern, darnach strebt niemand. Allerdings giebt es einige Leute, die der Meinung sind, was die klassischen Sprachen auf unsern höhern Schulen an fremder Kultur übermitteln, das lasse sich auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/126
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/126>, abgerufen am 27.11.2024.