Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Auch ein Lehrplan geschichtliche Entwicklung zu begreifen, während die Wissenschaft des vorigen Die Schule hat nun, teils ans Rücksicht auf die Biologie, teils aus Zu den nationalen Kenntnissen hätte ich auch wohl die Geschichte fremder Auch ein Lehrplan geschichtliche Entwicklung zu begreifen, während die Wissenschaft des vorigen Die Schule hat nun, teils ans Rücksicht auf die Biologie, teils aus Zu den nationalen Kenntnissen hätte ich auch wohl die Geschichte fremder <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215214"/> <fw type="header" place="top"> Auch ein Lehrplan</fw><lb/> <p xml:id="ID_420" prev="#ID_419"> geschichtliche Entwicklung zu begreifen, während die Wissenschaft des vorigen<lb/> Jahrhunderts darauf ausging, die gegebnen Dinge aus vernünftigen Begriffen<lb/> abzuleiten. Wie im einzelnen die Auswahl für den Unterricht zu treffen ist,<lb/> das zu erörtern ist hier nicht Raum. Nur eine Bemerkung sei noch gestattet.<lb/> Neben praktischen Übungen im Chorgesang scheint es mir dringend notwendig,<lb/> auch einen Umriß der Musikgeschichte zu geben. Der Unterricht wird freilich<lb/> dadurch schwieriger, daß man ihn nicht wie bei den bildenden Künsten durch<lb/> anschauliche Darstellungen beleben kann. Aber die Tonkunst ist im Laufe der<lb/> Zeit doch eine solche Kulturmacht geworden, daß man sie nicht auf ein paar<lb/> Gesangstunden beschränken sollte.</p><lb/> <p xml:id="ID_421"> Die Schule hat nun, teils ans Rücksicht auf die Biologie, teils aus<lb/> Rücksicht auf die Technik, die an tausend Punkten in unser Leben eingreift,<lb/> auch physikalische und chemische Kenntnisse zu übermitteln. Nur diese beiden<lb/> Rücksichten sollten jedoch bei der Wahl des Unterrichtsstoffes maßgebend sein.<lb/> Die Molekulartheorie braucht nur der Physiker und Chemiker von Beruf zu<lb/> kennen, auf die Schule gehört sie nicht. Allein dafür hat die Schule zu<lb/> sorgen, daß ihre Zöglinge ein Mikroskop oder ein Telephon nicht austaunen,<lb/> wie unsre Großmütter die erste Eisenbahn.</p><lb/> <p xml:id="ID_422"> Zu den nationalen Kenntnissen hätte ich auch wohl die Geschichte fremder<lb/> Völker zählen müssen. Wir wollen diese aber einstweilen zurückstellen und hier<lb/> nur die fremden Sprachen einreihen. Französisch und Englisch gehören unbe¬<lb/> stritten in den Unterricht. Betrachtet man die fremde Sprache als das Mittel,<lb/> das uns in den Stand setzt, mit einem fremden Volke unmittelbar zu ver¬<lb/> kehren, so steht man den: Streite um die klassischen Sprachen ziemlich kühl<lb/> gegenüber. Es ist wahr, unsre Kultur hängt an manchen Stellen mit der an¬<lb/> tiken zusammen. Ist es nun notwendig und möglich, uns mit der antiken<lb/> Kultur durch das Mittel der antiken Sprachen bekannt zu machen? Ich meine,<lb/> es ist nicht möglich, und ist das der Fall, so braucht man sich bei der Not¬<lb/> wendigkeit nicht lange aufzuhalten. Aus dem, was auf den Gymnasien an<lb/> Griechisch getrieben wird, gewinnt der Schüler schwerlich so viel Ahnung von<lb/> griechischem Geiste, als aus einer einzigen Besprechung und Betrachtung des<lb/> Parthenon und seiner Skulpturen. Unser Gymnasium wie das Realgymna¬<lb/> sium ist etwas halbes, und etwas ganzes wird es nicht, so lange man sich<lb/> der Erkenntnis verschließt, daß die Schule die klassischen Sprachen nicht mehr<lb/> in dem Umfange Pflegen kann, um den Unterricht fruchtbar zu machen. Der<lb/> Leute sind heute gar zu wenige, die sich nach der schönen Zeit zurücksehnen,<lb/> wo die Herrschaft über eine tote Sprache den Gebildeten vom Ungebildeten<lb/> schied. Man meint, die Schule thue Recht daran, wenn sie die Menschen<lb/> ausbilde, nicht für ein Traumleben, wie es nur wenigen Gelehrten beschieden<lb/> ist, sondern für das Leben, das den meisten bevorsteht, ein Leben in gährender<lb/> Zeit und in währendem Streit.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0124]
Auch ein Lehrplan
geschichtliche Entwicklung zu begreifen, während die Wissenschaft des vorigen
Jahrhunderts darauf ausging, die gegebnen Dinge aus vernünftigen Begriffen
abzuleiten. Wie im einzelnen die Auswahl für den Unterricht zu treffen ist,
das zu erörtern ist hier nicht Raum. Nur eine Bemerkung sei noch gestattet.
Neben praktischen Übungen im Chorgesang scheint es mir dringend notwendig,
auch einen Umriß der Musikgeschichte zu geben. Der Unterricht wird freilich
dadurch schwieriger, daß man ihn nicht wie bei den bildenden Künsten durch
anschauliche Darstellungen beleben kann. Aber die Tonkunst ist im Laufe der
Zeit doch eine solche Kulturmacht geworden, daß man sie nicht auf ein paar
Gesangstunden beschränken sollte.
Die Schule hat nun, teils ans Rücksicht auf die Biologie, teils aus
Rücksicht auf die Technik, die an tausend Punkten in unser Leben eingreift,
auch physikalische und chemische Kenntnisse zu übermitteln. Nur diese beiden
Rücksichten sollten jedoch bei der Wahl des Unterrichtsstoffes maßgebend sein.
Die Molekulartheorie braucht nur der Physiker und Chemiker von Beruf zu
kennen, auf die Schule gehört sie nicht. Allein dafür hat die Schule zu
sorgen, daß ihre Zöglinge ein Mikroskop oder ein Telephon nicht austaunen,
wie unsre Großmütter die erste Eisenbahn.
Zu den nationalen Kenntnissen hätte ich auch wohl die Geschichte fremder
Völker zählen müssen. Wir wollen diese aber einstweilen zurückstellen und hier
nur die fremden Sprachen einreihen. Französisch und Englisch gehören unbe¬
stritten in den Unterricht. Betrachtet man die fremde Sprache als das Mittel,
das uns in den Stand setzt, mit einem fremden Volke unmittelbar zu ver¬
kehren, so steht man den: Streite um die klassischen Sprachen ziemlich kühl
gegenüber. Es ist wahr, unsre Kultur hängt an manchen Stellen mit der an¬
tiken zusammen. Ist es nun notwendig und möglich, uns mit der antiken
Kultur durch das Mittel der antiken Sprachen bekannt zu machen? Ich meine,
es ist nicht möglich, und ist das der Fall, so braucht man sich bei der Not¬
wendigkeit nicht lange aufzuhalten. Aus dem, was auf den Gymnasien an
Griechisch getrieben wird, gewinnt der Schüler schwerlich so viel Ahnung von
griechischem Geiste, als aus einer einzigen Besprechung und Betrachtung des
Parthenon und seiner Skulpturen. Unser Gymnasium wie das Realgymna¬
sium ist etwas halbes, und etwas ganzes wird es nicht, so lange man sich
der Erkenntnis verschließt, daß die Schule die klassischen Sprachen nicht mehr
in dem Umfange Pflegen kann, um den Unterricht fruchtbar zu machen. Der
Leute sind heute gar zu wenige, die sich nach der schönen Zeit zurücksehnen,
wo die Herrschaft über eine tote Sprache den Gebildeten vom Ungebildeten
schied. Man meint, die Schule thue Recht daran, wenn sie die Menschen
ausbilde, nicht für ein Traumleben, wie es nur wenigen Gelehrten beschieden
ist, sondern für das Leben, das den meisten bevorsteht, ein Leben in gährender
Zeit und in währendem Streit.
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