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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Es war ein schöner, stiller Herbstabend, als der Etatsrat in die Wein¬
stube trat. Der alte Geheimrat saß schon am Tische und sah in den dunkelnden
Garten, Er war etwas wehmütig, denn er hatte Podagra, und wenn dazu
noch die Blätter fallen, dann kommen selbst bei dem vergnügtesten Menschen
allerhand schwarze Gedanken. Lauritzen merkte aber nichts von der Ver¬
stimmung des Alten. Er hatte seine Geschichte im Kopfe, und heute wollte
er sie los werden. Die Excellenz aber dachte heute gar nicht an Geschichten,
sondern an das Podagra, und da dem Geheimrat auch noch einfiel, daß schon
sein Vater und sein Großvater, sein Onkel und sein Vetter an Podagra ge¬
litten hatten, und er von jedem seiner Verwandten einen besondern und sehr
eigentümlichen Fall und dessen Behandlung wußte, so konnte der Etatsrat
seine Geschichte heute nicht los werden, obgleich er es wohl zwanzigmnl
versuchte.

An den folgenden Abenden erging es ihm aber ebenso. Es war damals
gerade eine sehr lebhafte Zeit am Stammtische. Der Emeritus hatte nach
reichlichem Genuß von Speckpfannenkuchen eine Nacht voll so entsetzlicher
Traume erlebt, daß sie ihm für mehrere Wochen Stoff für den Stammtisch
lieferte. An wunderbare Träume reihen sich bekanntlich immer Spukgeschichten;
so folgte ein lebhafter Abend dem andern, und nach zwei Wochen war der
Etatsrat noch nicht zu Worte gekommen. Und doch mußte er sprechen, denn
sonst vergaß er seiue Geschichte wieder. Sicherlich wäre er in dieser Zeit vor
Aufregung krank geworden, wenn ihn nicht Mamsell Reimers durch Speise
und Trank im Gleichgewicht erhalten hätte.

Heute war nun der fünfzehnte Abend, und als der arme Etatsrat die
Weinstube betrat, that er einen Schwur, das Zimmer nicht eher zu verlassen,
bis alle seine Geschichte angehört hätten. Leider schien auch heute gar keine
Aussicht zu sein, daß eine Pause um Stammtisch eintreten würde, denn der
abscheuliche Pastor hatte wieder das Wort und erzählte von einer Predigt,
die er beinahe einmal vorm König gehalten hätte. Alle hörten ihm auf¬
merksam zu, und der Etatsrat sah sich wieder genötigt, beladen mit seiner
halbvergessenen Geschichte nach Hause zu gehen.

Da überkam ihn plötzlich die Thatkraft der Verzweiflung. Er nahm sein
volles Puuschglas und warf es dem Emeritus in den Schoß. Dieser schrie
laut auf, teils vor Kummer über den schonen Punsch, und dann auch wohl,
weil ihm seine Hosen leid thaten.

Aber Lauritzen entschuldigte sich gar nicht. Er wandte sich ohne weiteres
Mi die plötzlich still gewordne Gesellschaft und begann hastig: Bei diesem
Puuschglase füllt nur folgende Geschichte ein. An einem Regentage fuhr
ich über Land, und --

Erlauben Sie! unterbrach ihn der Geheimrat. Kommt in Ihrer Geschichte
ein umgewvrfnes Punschglas vor?


Grenzboten 1l 1893 U

Es war ein schöner, stiller Herbstabend, als der Etatsrat in die Wein¬
stube trat. Der alte Geheimrat saß schon am Tische und sah in den dunkelnden
Garten, Er war etwas wehmütig, denn er hatte Podagra, und wenn dazu
noch die Blätter fallen, dann kommen selbst bei dem vergnügtesten Menschen
allerhand schwarze Gedanken. Lauritzen merkte aber nichts von der Ver¬
stimmung des Alten. Er hatte seine Geschichte im Kopfe, und heute wollte
er sie los werden. Die Excellenz aber dachte heute gar nicht an Geschichten,
sondern an das Podagra, und da dem Geheimrat auch noch einfiel, daß schon
sein Vater und sein Großvater, sein Onkel und sein Vetter an Podagra ge¬
litten hatten, und er von jedem seiner Verwandten einen besondern und sehr
eigentümlichen Fall und dessen Behandlung wußte, so konnte der Etatsrat
seine Geschichte heute nicht los werden, obgleich er es wohl zwanzigmnl
versuchte.

An den folgenden Abenden erging es ihm aber ebenso. Es war damals
gerade eine sehr lebhafte Zeit am Stammtische. Der Emeritus hatte nach
reichlichem Genuß von Speckpfannenkuchen eine Nacht voll so entsetzlicher
Traume erlebt, daß sie ihm für mehrere Wochen Stoff für den Stammtisch
lieferte. An wunderbare Träume reihen sich bekanntlich immer Spukgeschichten;
so folgte ein lebhafter Abend dem andern, und nach zwei Wochen war der
Etatsrat noch nicht zu Worte gekommen. Und doch mußte er sprechen, denn
sonst vergaß er seiue Geschichte wieder. Sicherlich wäre er in dieser Zeit vor
Aufregung krank geworden, wenn ihn nicht Mamsell Reimers durch Speise
und Trank im Gleichgewicht erhalten hätte.

Heute war nun der fünfzehnte Abend, und als der arme Etatsrat die
Weinstube betrat, that er einen Schwur, das Zimmer nicht eher zu verlassen,
bis alle seine Geschichte angehört hätten. Leider schien auch heute gar keine
Aussicht zu sein, daß eine Pause um Stammtisch eintreten würde, denn der
abscheuliche Pastor hatte wieder das Wort und erzählte von einer Predigt,
die er beinahe einmal vorm König gehalten hätte. Alle hörten ihm auf¬
merksam zu, und der Etatsrat sah sich wieder genötigt, beladen mit seiner
halbvergessenen Geschichte nach Hause zu gehen.

Da überkam ihn plötzlich die Thatkraft der Verzweiflung. Er nahm sein
volles Puuschglas und warf es dem Emeritus in den Schoß. Dieser schrie
laut auf, teils vor Kummer über den schonen Punsch, und dann auch wohl,
weil ihm seine Hosen leid thaten.

Aber Lauritzen entschuldigte sich gar nicht. Er wandte sich ohne weiteres
Mi die plötzlich still gewordne Gesellschaft und begann hastig: Bei diesem
Puuschglase füllt nur folgende Geschichte ein. An einem Regentage fuhr
ich über Land, und —

Erlauben Sie! unterbrach ihn der Geheimrat. Kommt in Ihrer Geschichte
ein umgewvrfnes Punschglas vor?


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[0091] Es war ein schöner, stiller Herbstabend, als der Etatsrat in die Wein¬ stube trat. Der alte Geheimrat saß schon am Tische und sah in den dunkelnden Garten, Er war etwas wehmütig, denn er hatte Podagra, und wenn dazu noch die Blätter fallen, dann kommen selbst bei dem vergnügtesten Menschen allerhand schwarze Gedanken. Lauritzen merkte aber nichts von der Ver¬ stimmung des Alten. Er hatte seine Geschichte im Kopfe, und heute wollte er sie los werden. Die Excellenz aber dachte heute gar nicht an Geschichten, sondern an das Podagra, und da dem Geheimrat auch noch einfiel, daß schon sein Vater und sein Großvater, sein Onkel und sein Vetter an Podagra ge¬ litten hatten, und er von jedem seiner Verwandten einen besondern und sehr eigentümlichen Fall und dessen Behandlung wußte, so konnte der Etatsrat seine Geschichte heute nicht los werden, obgleich er es wohl zwanzigmnl versuchte. An den folgenden Abenden erging es ihm aber ebenso. Es war damals gerade eine sehr lebhafte Zeit am Stammtische. Der Emeritus hatte nach reichlichem Genuß von Speckpfannenkuchen eine Nacht voll so entsetzlicher Traume erlebt, daß sie ihm für mehrere Wochen Stoff für den Stammtisch lieferte. An wunderbare Träume reihen sich bekanntlich immer Spukgeschichten; so folgte ein lebhafter Abend dem andern, und nach zwei Wochen war der Etatsrat noch nicht zu Worte gekommen. Und doch mußte er sprechen, denn sonst vergaß er seiue Geschichte wieder. Sicherlich wäre er in dieser Zeit vor Aufregung krank geworden, wenn ihn nicht Mamsell Reimers durch Speise und Trank im Gleichgewicht erhalten hätte. Heute war nun der fünfzehnte Abend, und als der arme Etatsrat die Weinstube betrat, that er einen Schwur, das Zimmer nicht eher zu verlassen, bis alle seine Geschichte angehört hätten. Leider schien auch heute gar keine Aussicht zu sein, daß eine Pause um Stammtisch eintreten würde, denn der abscheuliche Pastor hatte wieder das Wort und erzählte von einer Predigt, die er beinahe einmal vorm König gehalten hätte. Alle hörten ihm auf¬ merksam zu, und der Etatsrat sah sich wieder genötigt, beladen mit seiner halbvergessenen Geschichte nach Hause zu gehen. Da überkam ihn plötzlich die Thatkraft der Verzweiflung. Er nahm sein volles Puuschglas und warf es dem Emeritus in den Schoß. Dieser schrie laut auf, teils vor Kummer über den schonen Punsch, und dann auch wohl, weil ihm seine Hosen leid thaten. Aber Lauritzen entschuldigte sich gar nicht. Er wandte sich ohne weiteres Mi die plötzlich still gewordne Gesellschaft und begann hastig: Bei diesem Puuschglase füllt nur folgende Geschichte ein. An einem Regentage fuhr ich über Land, und — Erlauben Sie! unterbrach ihn der Geheimrat. Kommt in Ihrer Geschichte ein umgewvrfnes Punschglas vor? Grenzboten 1l 1893 U

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/91>, abgerufen am 28.06.2024.