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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Einen Mann und sechs Kinder hat sie? wiederholte der Etatsrat.

Mamsell Reimers nickte. Ich möchte Ihnen auch raten, ein klein Lütten-
borger nach den Kaffee zu nehmen. Sonstens sind die Euters zu swer for
Sie in Ihre gegenwärtige Verfassung!

Der Etatsrat nahm den Lütjenburger und fühlte fich wirklich besser darauf.
Mamsell Reimers hatte Recht: er mußte sich Bewegung machen und gut essen,
dann würde sein Seelenleiden schon vorübergehen.

Es geht doch nichts über das Aussprechen, dachte er, weil er nicht wußte,
daß sein Schmerz nicht sehr tief gegangen war. Denn über große Schmerzen
kann kein Mensch sprechen. Doch solche Schmerzen vermochte eine Natur, wie
sie Peter Lauritzen hatte, gar nicht zu empfinden. Daher fiel der Zuspruch
Mamsell Reimers auf fruchtbaren Boden, obgleich fich der Etatsrat selbst ein¬
redete, er habe Therese nur deshalb entsagt, weil sie einen Mann und sechs
Kinder hatte.

Nach einigen Monaten war Lauritzen wieder ganz der Alte. Seine Zer¬
streutheit, seine einsamen Spaziergänge, sein schlechter Appetit waren ver¬
schwunden, und zu seiner vollständigen Zufriedenheit fehlte nur noch eins: eine
Geschichte für den Stammtisch. Wenn ihm Therese nicht dazwischen gekommen
wäre, so hätte er seine erste Geschichte schon lange vorgetragen. Nun ließ
ihn aber sein Gedächtnis im Stich: von der ersten Geschichte wußte er uicht
einmal mehr den Anfang. Dies ärgerte natürlich den Etatsrat sehr, und er
beschuldigte nicht allein die ahnungslose Therese wegen seines schlechten Ge¬
dächtnisses; er benutzte auch diese Erfahrung, um das ganze weibliche Geschlecht
tötlich zu hassen. So oft am Stammtisch von irgend einer Dame die Rede
war, machte er ein Gesicht, als wäre ihm etwas entsetzliches von der Ge¬
nannten bekannt, und Leute, denen Tochter oder Enkelinnen geboren wurden,
betrachtete er stets mit aufrichtigem Mitleiden. Doch dieser Haß trug ihm
nur den Ruf ein, daß er ungezählte Körbe bekommen hätte, aber keine Ge¬
schichte. Und doch mußte er eine erzählen. Je länger er am Stammtische
saß, desto mehr sah er diese Notwendigkeit ein. Jeder der Herren besaß als
nnbestrittnes Eigentum vier oder fünf Geschichten, die er mehreremcile in der
Woche erzählte. Nur er erzählte nichts! Er hatte das deutliche Gefühl, bei
den Tischgenossen als Etatsrat nur sehr notdürftig geachtet, als Gesellschafter
aber geradezu verachtet zu sein. Das war schrecklich, und das mußte anders
werden.

Die Bäume waren grün und dann auch schou wieder rotgelb geworden.
Aber der Etatsrat hatte es kaum bemerkt, denn er arbeitete an seiner Ge¬
schichte. Sie wurde ihm schwer, dafür sollte sie aber auch wunderhübsch
werden. Sie hatte einen Anfang, eine Mitte und ein langes, langes Ende --
zwei Stunden dauerte sie mindestens. Da, hoffte er, würde die Excellenz doch
zufrieden sein, und auch der Emeritus würde seinen Mund halten müssen.


Einen Mann und sechs Kinder hat sie? wiederholte der Etatsrat.

Mamsell Reimers nickte. Ich möchte Ihnen auch raten, ein klein Lütten-
borger nach den Kaffee zu nehmen. Sonstens sind die Euters zu swer for
Sie in Ihre gegenwärtige Verfassung!

Der Etatsrat nahm den Lütjenburger und fühlte fich wirklich besser darauf.
Mamsell Reimers hatte Recht: er mußte sich Bewegung machen und gut essen,
dann würde sein Seelenleiden schon vorübergehen.

Es geht doch nichts über das Aussprechen, dachte er, weil er nicht wußte,
daß sein Schmerz nicht sehr tief gegangen war. Denn über große Schmerzen
kann kein Mensch sprechen. Doch solche Schmerzen vermochte eine Natur, wie
sie Peter Lauritzen hatte, gar nicht zu empfinden. Daher fiel der Zuspruch
Mamsell Reimers auf fruchtbaren Boden, obgleich fich der Etatsrat selbst ein¬
redete, er habe Therese nur deshalb entsagt, weil sie einen Mann und sechs
Kinder hatte.

Nach einigen Monaten war Lauritzen wieder ganz der Alte. Seine Zer¬
streutheit, seine einsamen Spaziergänge, sein schlechter Appetit waren ver¬
schwunden, und zu seiner vollständigen Zufriedenheit fehlte nur noch eins: eine
Geschichte für den Stammtisch. Wenn ihm Therese nicht dazwischen gekommen
wäre, so hätte er seine erste Geschichte schon lange vorgetragen. Nun ließ
ihn aber sein Gedächtnis im Stich: von der ersten Geschichte wußte er uicht
einmal mehr den Anfang. Dies ärgerte natürlich den Etatsrat sehr, und er
beschuldigte nicht allein die ahnungslose Therese wegen seines schlechten Ge¬
dächtnisses; er benutzte auch diese Erfahrung, um das ganze weibliche Geschlecht
tötlich zu hassen. So oft am Stammtisch von irgend einer Dame die Rede
war, machte er ein Gesicht, als wäre ihm etwas entsetzliches von der Ge¬
nannten bekannt, und Leute, denen Tochter oder Enkelinnen geboren wurden,
betrachtete er stets mit aufrichtigem Mitleiden. Doch dieser Haß trug ihm
nur den Ruf ein, daß er ungezählte Körbe bekommen hätte, aber keine Ge¬
schichte. Und doch mußte er eine erzählen. Je länger er am Stammtische
saß, desto mehr sah er diese Notwendigkeit ein. Jeder der Herren besaß als
nnbestrittnes Eigentum vier oder fünf Geschichten, die er mehreremcile in der
Woche erzählte. Nur er erzählte nichts! Er hatte das deutliche Gefühl, bei
den Tischgenossen als Etatsrat nur sehr notdürftig geachtet, als Gesellschafter
aber geradezu verachtet zu sein. Das war schrecklich, und das mußte anders
werden.

Die Bäume waren grün und dann auch schou wieder rotgelb geworden.
Aber der Etatsrat hatte es kaum bemerkt, denn er arbeitete an seiner Ge¬
schichte. Sie wurde ihm schwer, dafür sollte sie aber auch wunderhübsch
werden. Sie hatte einen Anfang, eine Mitte und ein langes, langes Ende —
zwei Stunden dauerte sie mindestens. Da, hoffte er, würde die Excellenz doch
zufrieden sein, und auch der Emeritus würde seinen Mund halten müssen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/90>, abgerufen am 30.06.2024.