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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Beteiligung der Schule an den Aufgaben der Gegenwart

Seite auf die Gefährlichkeit seiner Forderung hingewiesen worden war. Ein
Direktor in Krefeld -- soviel wir sehen, der einzige, der sich bei seinem Urteil
auf Erfahrung berufen konnte -- erklärt: "Heute verwerfe ich eine schulmüßige
Behandlung der Ideen eines Lassalle, wie ich sie selbst im vorigen Jahre ver¬
sucht habe; uoch bedenklicher erscheint es mir, die Umsturzideeu eines Karl Marx
zu erwähnen. Wir müssen uns für diesen Zeitraum damit begnügen, die Ver¬
dienste unsrer Monarchen um die arbeitenden Klassen darzulegen und den In¬
halt der einschlägigen Gesetze hervorzuheben." Als wir das lasen, haben wir
lebhaft bedauert, die Gründe nicht zu erfahren, die den betreffenden Direktor
schon nach einem Jahre von der Wiederholung seiner antisozialdemokratischen
Lektionen zurückgeschreckt haben. Die preußische Unterrichtsverwaltung aber
scheint uns allen Grund zu haben, sich nach diesen Gründen zu erkundigelt,
bevor anderswo, namentlich bei dem jetzt drohenden Übereifer, ein weiteres
Unheil angerichtet wird. Die Jugend ist nun einmal opferfreudig, sie haßt
das Unrecht in jeder Form und übersieht in ihrer Begeisterung die Schwäche
jener utopistischen Träume von einem Himmel auf Erden. Wir persönlich
haben die Wahrnehmung gemacht, daß vor mehreren Jahren eine Anzahl be¬
gabter Jünglinge durch das bekannte Buch von Bellamy geradezu fanatisch
begeistert wurde. Heute hat der Most von damals ansgegohren, und die
meisten sind von ihrer Schwärmerei längst geheilt. Ob aber dieser Prozeß
einen ebenso befriedigenden Verlauf genommen Hütte, wenn jenen Jünglingen
von Amts wegen die sozialistischen Ideen schlecht gemacht worden wären, das
möchten wir doch bezweifeln.

Wir wollen diese Betrachtungen nicht schließen, ohne ein ernstes und
wahres Wort hierher zu setzen, das der Verfasser des Korreferats aus einem
Aufsatz des rheinischen Provinzialschulrats Münch mitteilt. Münch sagt: "Es
wird kein Zaubermittel geben, die gewaltige Kluft rasch zu schließen, die
immer mehr Gebildete und Volk von einander trennt. In der That immer mehr;
denn manche gutgemeinte Versuche der Überbrückung haben ganz und gar nicht
diese Kraft bewiesen, und die soziale Bewegung der Gegenwart, wenn auch
scheinbar viel beschränkter oder bestimmter in ihren Zielen und für jetzt plump
und roh in ihrer Form, ist schließlich doch die Äußerung des tiefgegründeten
Bedürfnisses nach neuem Ausgleich. Das Empfinden unsrer höhern Stunde
ist gegenwärtig dem des Volkes durchaus entfremdet, und alle übliche Schwär¬
merei für die Art des Volkes ist nichts als ein Anzeichen der Sehnsucht nach
dem, was man nicht hat, wovon man innerlich wie äußerlich so weit entfernt
ist." Im Anschluß an diese Worte bespricht das Korreferat die von der Sozial-
demokratie aufgestellte Forderung des unentgeltlichen Unterrichts auf allen
Stufen und meint, daß sich für manchen Schüler eine verblüffende, aber wohl¬
thuende Perspektive eröffnen werde, wenn ihm gesagt werde, daß es schon jetzt
Lander gebe, wo einzig und allein die geistige Begabung und der Ernst des


Die Beteiligung der Schule an den Aufgaben der Gegenwart

Seite auf die Gefährlichkeit seiner Forderung hingewiesen worden war. Ein
Direktor in Krefeld — soviel wir sehen, der einzige, der sich bei seinem Urteil
auf Erfahrung berufen konnte — erklärt: „Heute verwerfe ich eine schulmüßige
Behandlung der Ideen eines Lassalle, wie ich sie selbst im vorigen Jahre ver¬
sucht habe; uoch bedenklicher erscheint es mir, die Umsturzideeu eines Karl Marx
zu erwähnen. Wir müssen uns für diesen Zeitraum damit begnügen, die Ver¬
dienste unsrer Monarchen um die arbeitenden Klassen darzulegen und den In¬
halt der einschlägigen Gesetze hervorzuheben." Als wir das lasen, haben wir
lebhaft bedauert, die Gründe nicht zu erfahren, die den betreffenden Direktor
schon nach einem Jahre von der Wiederholung seiner antisozialdemokratischen
Lektionen zurückgeschreckt haben. Die preußische Unterrichtsverwaltung aber
scheint uns allen Grund zu haben, sich nach diesen Gründen zu erkundigelt,
bevor anderswo, namentlich bei dem jetzt drohenden Übereifer, ein weiteres
Unheil angerichtet wird. Die Jugend ist nun einmal opferfreudig, sie haßt
das Unrecht in jeder Form und übersieht in ihrer Begeisterung die Schwäche
jener utopistischen Träume von einem Himmel auf Erden. Wir persönlich
haben die Wahrnehmung gemacht, daß vor mehreren Jahren eine Anzahl be¬
gabter Jünglinge durch das bekannte Buch von Bellamy geradezu fanatisch
begeistert wurde. Heute hat der Most von damals ansgegohren, und die
meisten sind von ihrer Schwärmerei längst geheilt. Ob aber dieser Prozeß
einen ebenso befriedigenden Verlauf genommen Hütte, wenn jenen Jünglingen
von Amts wegen die sozialistischen Ideen schlecht gemacht worden wären, das
möchten wir doch bezweifeln.

Wir wollen diese Betrachtungen nicht schließen, ohne ein ernstes und
wahres Wort hierher zu setzen, das der Verfasser des Korreferats aus einem
Aufsatz des rheinischen Provinzialschulrats Münch mitteilt. Münch sagt: „Es
wird kein Zaubermittel geben, die gewaltige Kluft rasch zu schließen, die
immer mehr Gebildete und Volk von einander trennt. In der That immer mehr;
denn manche gutgemeinte Versuche der Überbrückung haben ganz und gar nicht
diese Kraft bewiesen, und die soziale Bewegung der Gegenwart, wenn auch
scheinbar viel beschränkter oder bestimmter in ihren Zielen und für jetzt plump
und roh in ihrer Form, ist schließlich doch die Äußerung des tiefgegründeten
Bedürfnisses nach neuem Ausgleich. Das Empfinden unsrer höhern Stunde
ist gegenwärtig dem des Volkes durchaus entfremdet, und alle übliche Schwär¬
merei für die Art des Volkes ist nichts als ein Anzeichen der Sehnsucht nach
dem, was man nicht hat, wovon man innerlich wie äußerlich so weit entfernt
ist." Im Anschluß an diese Worte bespricht das Korreferat die von der Sozial-
demokratie aufgestellte Forderung des unentgeltlichen Unterrichts auf allen
Stufen und meint, daß sich für manchen Schüler eine verblüffende, aber wohl¬
thuende Perspektive eröffnen werde, wenn ihm gesagt werde, daß es schon jetzt
Lander gebe, wo einzig und allein die geistige Begabung und der Ernst des


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[0549] Die Beteiligung der Schule an den Aufgaben der Gegenwart Seite auf die Gefährlichkeit seiner Forderung hingewiesen worden war. Ein Direktor in Krefeld — soviel wir sehen, der einzige, der sich bei seinem Urteil auf Erfahrung berufen konnte — erklärt: „Heute verwerfe ich eine schulmüßige Behandlung der Ideen eines Lassalle, wie ich sie selbst im vorigen Jahre ver¬ sucht habe; uoch bedenklicher erscheint es mir, die Umsturzideeu eines Karl Marx zu erwähnen. Wir müssen uns für diesen Zeitraum damit begnügen, die Ver¬ dienste unsrer Monarchen um die arbeitenden Klassen darzulegen und den In¬ halt der einschlägigen Gesetze hervorzuheben." Als wir das lasen, haben wir lebhaft bedauert, die Gründe nicht zu erfahren, die den betreffenden Direktor schon nach einem Jahre von der Wiederholung seiner antisozialdemokratischen Lektionen zurückgeschreckt haben. Die preußische Unterrichtsverwaltung aber scheint uns allen Grund zu haben, sich nach diesen Gründen zu erkundigelt, bevor anderswo, namentlich bei dem jetzt drohenden Übereifer, ein weiteres Unheil angerichtet wird. Die Jugend ist nun einmal opferfreudig, sie haßt das Unrecht in jeder Form und übersieht in ihrer Begeisterung die Schwäche jener utopistischen Träume von einem Himmel auf Erden. Wir persönlich haben die Wahrnehmung gemacht, daß vor mehreren Jahren eine Anzahl be¬ gabter Jünglinge durch das bekannte Buch von Bellamy geradezu fanatisch begeistert wurde. Heute hat der Most von damals ansgegohren, und die meisten sind von ihrer Schwärmerei längst geheilt. Ob aber dieser Prozeß einen ebenso befriedigenden Verlauf genommen Hütte, wenn jenen Jünglingen von Amts wegen die sozialistischen Ideen schlecht gemacht worden wären, das möchten wir doch bezweifeln. Wir wollen diese Betrachtungen nicht schließen, ohne ein ernstes und wahres Wort hierher zu setzen, das der Verfasser des Korreferats aus einem Aufsatz des rheinischen Provinzialschulrats Münch mitteilt. Münch sagt: „Es wird kein Zaubermittel geben, die gewaltige Kluft rasch zu schließen, die immer mehr Gebildete und Volk von einander trennt. In der That immer mehr; denn manche gutgemeinte Versuche der Überbrückung haben ganz und gar nicht diese Kraft bewiesen, und die soziale Bewegung der Gegenwart, wenn auch scheinbar viel beschränkter oder bestimmter in ihren Zielen und für jetzt plump und roh in ihrer Form, ist schließlich doch die Äußerung des tiefgegründeten Bedürfnisses nach neuem Ausgleich. Das Empfinden unsrer höhern Stunde ist gegenwärtig dem des Volkes durchaus entfremdet, und alle übliche Schwär¬ merei für die Art des Volkes ist nichts als ein Anzeichen der Sehnsucht nach dem, was man nicht hat, wovon man innerlich wie äußerlich so weit entfernt ist." Im Anschluß an diese Worte bespricht das Korreferat die von der Sozial- demokratie aufgestellte Forderung des unentgeltlichen Unterrichts auf allen Stufen und meint, daß sich für manchen Schüler eine verblüffende, aber wohl¬ thuende Perspektive eröffnen werde, wenn ihm gesagt werde, daß es schon jetzt Lander gebe, wo einzig und allein die geistige Begabung und der Ernst des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/549>, abgerufen am 03.07.2024.