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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Beteiligung der Schule an den Aufgabe" der Gegenwart

nasiallehrern der Fall zu sein Pflegt, nach der Lage der Dinge heute imstande
ist uns zu sagen, bis zu welchem Punkte sich die sozialistischen Ideen verwirk¬
lichen werden.

Eine besondre Aufmerksamkeit verdient die von dem Berichterstatter auf¬
gestellte zweiundzwanzigste These. Diese lautet: "Die ökonomischen Ziele der
Sozialdemokratie können in Untersekunda (!) an den Forderungen des Gothaer
Programms klar gemacht werden. Die Unmöglichkeit ihrer Ausführung wird
an den positiven Zielen nachgewiesen. In der Oberprima werden diese Unter¬
weisungen wiederholt und durch Eingehen auf die politisch und sittlich revo¬
lutionären Tendenzen der Sozialdemokratie erweitert und vertieft." Gegen den
Inhalt dieser These haben wir drei schwere Bedenken.

Obgleich wir weit davon entfernt sind, dem Stande der Gymnasiallehrer
etwas nachsagen zu wollen, was als ein Mißtrauen gegen die Gediegenheit
und Vielseitigkeit seiner Bildung gedeutet werden könnte, so glauben wir es
doch aussprechen zu müssen, daß augenblicklich nur eine sehr geringe Zahl von
Lehrern in der Lage sein dürfte, jene Dinge mit einer auf Studien und prak¬
tischer Erfahrung beruhenden Beherrschung des Stoffes zu behandeln.

Aber selbst wenn die geeigneten Lehrer, was wir einstweilen nicht ohne
Grund in Abrede stellen, in genügender Zahl vorhanden wären, fo bleibt noch
immer der Mißstand, daß die Schüler für die Erörterung dieser Dinge, an
denen sich so viele ernste Männer ihren alten Kopf zerbrechen, im allgemeinen
uicht reif sind. Wer dagegen der Meinung ist, daß man vor sechzehn- bis
neunzehnjährigen Jungen "die ökonomischen Ziele der Sozialdemokratie und
ihre politisch und sittlich revolutionären Tendenzen" erörtern könne, der bringt
sich, wie uns scheint, damit in den Verdacht, daß er sich der Tragweite der
Sache nur dunkel bewußt sei. Dazu kommt als drittes Bedenken die Er¬
wägung, daß der Gegenstand selbst so ganz unfaßbar ist. Die Führer der
sozialdemokratischen Partei lehnen es hartnäckig ab, ein bestimmtes Glaubens¬
bekenntnis abzulegen, und wer sie auf Grund gelegentlich abgefaßter Programme
bekämpfen will, setzt sich der Gefahr aus, gegen Windmühlen zu fechten. Wie
soll es ferner der Lehrer machen, wenn er die einzelnen Stoffe, z. B. das
eherne Lohngesetz, behandelt? Soll er dieses als unwahr hinstellen, auch wenn
er sich im stillen sagt, daß es einen nur allzuwahren Gedanken enthält, den
Gedanken nämlich, daß infolge der maßlos gesteigerten Konkurrenz und einer
mangelhaften Rechtsauffassung die Arbeiter thatsächlich wie eine Ware den
Schwankungen von Angebot und Nachfrage ausgesetzt sind? Soll für diese
Thatsache etwa Lassalle verantwortlich gemacht werden, damit der eigentliche
Schuldige nicht erkannt werde? Diese und ähnliche Bedenken stehen der Aus-
führung jener These so sehr im Wege, daß wir es lieber gesehen hätten, wenn
der Berichterstatter, den hier nach seinem eignen Geständnis die Erfahrung im
Stiche läßt, vor ihrer Aufstellung zurückgewichen wäre, zumal er von einer


Die Beteiligung der Schule an den Aufgabe« der Gegenwart

nasiallehrern der Fall zu sein Pflegt, nach der Lage der Dinge heute imstande
ist uns zu sagen, bis zu welchem Punkte sich die sozialistischen Ideen verwirk¬
lichen werden.

Eine besondre Aufmerksamkeit verdient die von dem Berichterstatter auf¬
gestellte zweiundzwanzigste These. Diese lautet: „Die ökonomischen Ziele der
Sozialdemokratie können in Untersekunda (!) an den Forderungen des Gothaer
Programms klar gemacht werden. Die Unmöglichkeit ihrer Ausführung wird
an den positiven Zielen nachgewiesen. In der Oberprima werden diese Unter¬
weisungen wiederholt und durch Eingehen auf die politisch und sittlich revo¬
lutionären Tendenzen der Sozialdemokratie erweitert und vertieft." Gegen den
Inhalt dieser These haben wir drei schwere Bedenken.

Obgleich wir weit davon entfernt sind, dem Stande der Gymnasiallehrer
etwas nachsagen zu wollen, was als ein Mißtrauen gegen die Gediegenheit
und Vielseitigkeit seiner Bildung gedeutet werden könnte, so glauben wir es
doch aussprechen zu müssen, daß augenblicklich nur eine sehr geringe Zahl von
Lehrern in der Lage sein dürfte, jene Dinge mit einer auf Studien und prak¬
tischer Erfahrung beruhenden Beherrschung des Stoffes zu behandeln.

Aber selbst wenn die geeigneten Lehrer, was wir einstweilen nicht ohne
Grund in Abrede stellen, in genügender Zahl vorhanden wären, fo bleibt noch
immer der Mißstand, daß die Schüler für die Erörterung dieser Dinge, an
denen sich so viele ernste Männer ihren alten Kopf zerbrechen, im allgemeinen
uicht reif sind. Wer dagegen der Meinung ist, daß man vor sechzehn- bis
neunzehnjährigen Jungen „die ökonomischen Ziele der Sozialdemokratie und
ihre politisch und sittlich revolutionären Tendenzen" erörtern könne, der bringt
sich, wie uns scheint, damit in den Verdacht, daß er sich der Tragweite der
Sache nur dunkel bewußt sei. Dazu kommt als drittes Bedenken die Er¬
wägung, daß der Gegenstand selbst so ganz unfaßbar ist. Die Führer der
sozialdemokratischen Partei lehnen es hartnäckig ab, ein bestimmtes Glaubens¬
bekenntnis abzulegen, und wer sie auf Grund gelegentlich abgefaßter Programme
bekämpfen will, setzt sich der Gefahr aus, gegen Windmühlen zu fechten. Wie
soll es ferner der Lehrer machen, wenn er die einzelnen Stoffe, z. B. das
eherne Lohngesetz, behandelt? Soll er dieses als unwahr hinstellen, auch wenn
er sich im stillen sagt, daß es einen nur allzuwahren Gedanken enthält, den
Gedanken nämlich, daß infolge der maßlos gesteigerten Konkurrenz und einer
mangelhaften Rechtsauffassung die Arbeiter thatsächlich wie eine Ware den
Schwankungen von Angebot und Nachfrage ausgesetzt sind? Soll für diese
Thatsache etwa Lassalle verantwortlich gemacht werden, damit der eigentliche
Schuldige nicht erkannt werde? Diese und ähnliche Bedenken stehen der Aus-
führung jener These so sehr im Wege, daß wir es lieber gesehen hätten, wenn
der Berichterstatter, den hier nach seinem eignen Geständnis die Erfahrung im
Stiche läßt, vor ihrer Aufstellung zurückgewichen wäre, zumal er von einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/548>, abgerufen am 03.07.2024.