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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Beteiligung der Schule an den Aufgaben der Gegenwart

worden ist. Eine Menge von redlichem Wollen und Bemühen steckt in diesem
Berichte, der sich im großen Ganzen als der verdichtete Niederschlag einer
Arbeit darstellt, an der einundvierzig Lehrerkollegien der Provinz teilgenommen
haben. Dabei offenbart sich eine erfreuliche Übereinstimmung hinsichtlich des
Satzes, daß es der Schule möglich und geboten sei, das wirtschaftliche Leben
der Gegenwart durch vergleichende Betrachtungen der Vergangenheit näher zu
bringen. Der Geschichtsunterricht sei hauptsächlich zur Lösung dieser Aufgabe
berufen, aber auch einige andre Fächer seien geeignet, das erstrebte Ziel er¬
reichen zu helfen. Während aber in diesen Punkten, wie schon bemerkt, die
einzelnen Berichterstatter keine großen Meinungsverschiedenheiten zeigen, ergab
sich eine geringere Übereinstimmung in der Beantwortung der Frage, auf
welche Weise die Schule die Ziele der Sozialdemokratie zu bekämpfen habe,
eine Aufgabe, die der Kaiser in die Worte gefaßt hatte: "der Jugend die
Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur
den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern
in der Wirklichkeit unausführbar und dem Ganzen wie dem Einzelnen ver¬
derblich sind." Gegenüber dieser Forderung, die später von dem preußischen
Staatsministerium in die Form gebracht wurde, "die Unmöglichkeit der sozial¬
demokratischen Bestrebungen ist an den positiven Zielen der Sozialdemokratie
nachzuweisen," haben verschiedne Lehrerkollegien schwere Bedenken geltend ge¬
macht, indem sie darauf hinwiesen, daß man im Begriffe stehe, den weisen
Weg der Alten zu verlassen und die jugendlichen Gemüter in die Parteiungen
der Gegenwart hineinzuzerren. Nicht in bestimmten Lektionen habe die Be¬
kämpfung der genannten Irrlehren zu erfolgen, sondern der Unterricht müsse
in seiner Gesamtheit darauf angelegt sein, die Jugend an harte Arbeit zu
gewöhnen und den Sinn für Wahrheit zu wecken.

Wir beginnen die Untersuchung, was hier das richtige sei, wieder mit der
Frage nach der Quelle des Übels. Daß das gewaltige Anwachsen der sozial¬
demokratischen Stimmen nur ein Symptom der Krankheit darstellt, und daß
diese selbst tiefer sitzt, giebt der Verfasser des Berichtes (Direktor Asbach)
selber zu, wenn er sagt: "Aus dem gesamten Unterricht muß die Überzeugung
hervorwachsen, daß es in der Entwicklung der Menschheit keinen Stillstand
giebt, daß die Formen, in denen sich ihr Leben bewegt, in stetem Fluß sind...
Zu behaupten, daß die bestehende Gesellschaftsordnung vollkommen und keiner
Besserung fähig sei, würde gleichbedeutend sein mit der Leugnung des Fortschritts
überhaupt." Und etwas weiter heißt es sogar: "Dem vernünftigen Kern des
sozialistischen Programms wird der Sieg nicht fehlen, der unvernünftige Teil
derartiger Bestrebungen wird an seinem eignen Widersinn scheitern." Schade
nur, daß uns verschwiegen wird, wo das Vernünftige aufhört und die Un¬
vernunft beginnt. Wir bezweifeln, daß irgend jemand, auch wenn er dem
Pulsschlag des wirtschaftlichen Lebens näher stünde, als das bei unsern Gym-


Die Beteiligung der Schule an den Aufgaben der Gegenwart

worden ist. Eine Menge von redlichem Wollen und Bemühen steckt in diesem
Berichte, der sich im großen Ganzen als der verdichtete Niederschlag einer
Arbeit darstellt, an der einundvierzig Lehrerkollegien der Provinz teilgenommen
haben. Dabei offenbart sich eine erfreuliche Übereinstimmung hinsichtlich des
Satzes, daß es der Schule möglich und geboten sei, das wirtschaftliche Leben
der Gegenwart durch vergleichende Betrachtungen der Vergangenheit näher zu
bringen. Der Geschichtsunterricht sei hauptsächlich zur Lösung dieser Aufgabe
berufen, aber auch einige andre Fächer seien geeignet, das erstrebte Ziel er¬
reichen zu helfen. Während aber in diesen Punkten, wie schon bemerkt, die
einzelnen Berichterstatter keine großen Meinungsverschiedenheiten zeigen, ergab
sich eine geringere Übereinstimmung in der Beantwortung der Frage, auf
welche Weise die Schule die Ziele der Sozialdemokratie zu bekämpfen habe,
eine Aufgabe, die der Kaiser in die Worte gefaßt hatte: „der Jugend die
Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur
den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern
in der Wirklichkeit unausführbar und dem Ganzen wie dem Einzelnen ver¬
derblich sind." Gegenüber dieser Forderung, die später von dem preußischen
Staatsministerium in die Form gebracht wurde, „die Unmöglichkeit der sozial¬
demokratischen Bestrebungen ist an den positiven Zielen der Sozialdemokratie
nachzuweisen," haben verschiedne Lehrerkollegien schwere Bedenken geltend ge¬
macht, indem sie darauf hinwiesen, daß man im Begriffe stehe, den weisen
Weg der Alten zu verlassen und die jugendlichen Gemüter in die Parteiungen
der Gegenwart hineinzuzerren. Nicht in bestimmten Lektionen habe die Be¬
kämpfung der genannten Irrlehren zu erfolgen, sondern der Unterricht müsse
in seiner Gesamtheit darauf angelegt sein, die Jugend an harte Arbeit zu
gewöhnen und den Sinn für Wahrheit zu wecken.

Wir beginnen die Untersuchung, was hier das richtige sei, wieder mit der
Frage nach der Quelle des Übels. Daß das gewaltige Anwachsen der sozial¬
demokratischen Stimmen nur ein Symptom der Krankheit darstellt, und daß
diese selbst tiefer sitzt, giebt der Verfasser des Berichtes (Direktor Asbach)
selber zu, wenn er sagt: „Aus dem gesamten Unterricht muß die Überzeugung
hervorwachsen, daß es in der Entwicklung der Menschheit keinen Stillstand
giebt, daß die Formen, in denen sich ihr Leben bewegt, in stetem Fluß sind...
Zu behaupten, daß die bestehende Gesellschaftsordnung vollkommen und keiner
Besserung fähig sei, würde gleichbedeutend sein mit der Leugnung des Fortschritts
überhaupt." Und etwas weiter heißt es sogar: „Dem vernünftigen Kern des
sozialistischen Programms wird der Sieg nicht fehlen, der unvernünftige Teil
derartiger Bestrebungen wird an seinem eignen Widersinn scheitern." Schade
nur, daß uns verschwiegen wird, wo das Vernünftige aufhört und die Un¬
vernunft beginnt. Wir bezweifeln, daß irgend jemand, auch wenn er dem
Pulsschlag des wirtschaftlichen Lebens näher stünde, als das bei unsern Gym-


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[0547] Die Beteiligung der Schule an den Aufgaben der Gegenwart worden ist. Eine Menge von redlichem Wollen und Bemühen steckt in diesem Berichte, der sich im großen Ganzen als der verdichtete Niederschlag einer Arbeit darstellt, an der einundvierzig Lehrerkollegien der Provinz teilgenommen haben. Dabei offenbart sich eine erfreuliche Übereinstimmung hinsichtlich des Satzes, daß es der Schule möglich und geboten sei, das wirtschaftliche Leben der Gegenwart durch vergleichende Betrachtungen der Vergangenheit näher zu bringen. Der Geschichtsunterricht sei hauptsächlich zur Lösung dieser Aufgabe berufen, aber auch einige andre Fächer seien geeignet, das erstrebte Ziel er¬ reichen zu helfen. Während aber in diesen Punkten, wie schon bemerkt, die einzelnen Berichterstatter keine großen Meinungsverschiedenheiten zeigen, ergab sich eine geringere Übereinstimmung in der Beantwortung der Frage, auf welche Weise die Schule die Ziele der Sozialdemokratie zu bekämpfen habe, eine Aufgabe, die der Kaiser in die Worte gefaßt hatte: „der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in der Wirklichkeit unausführbar und dem Ganzen wie dem Einzelnen ver¬ derblich sind." Gegenüber dieser Forderung, die später von dem preußischen Staatsministerium in die Form gebracht wurde, „die Unmöglichkeit der sozial¬ demokratischen Bestrebungen ist an den positiven Zielen der Sozialdemokratie nachzuweisen," haben verschiedne Lehrerkollegien schwere Bedenken geltend ge¬ macht, indem sie darauf hinwiesen, daß man im Begriffe stehe, den weisen Weg der Alten zu verlassen und die jugendlichen Gemüter in die Parteiungen der Gegenwart hineinzuzerren. Nicht in bestimmten Lektionen habe die Be¬ kämpfung der genannten Irrlehren zu erfolgen, sondern der Unterricht müsse in seiner Gesamtheit darauf angelegt sein, die Jugend an harte Arbeit zu gewöhnen und den Sinn für Wahrheit zu wecken. Wir beginnen die Untersuchung, was hier das richtige sei, wieder mit der Frage nach der Quelle des Übels. Daß das gewaltige Anwachsen der sozial¬ demokratischen Stimmen nur ein Symptom der Krankheit darstellt, und daß diese selbst tiefer sitzt, giebt der Verfasser des Berichtes (Direktor Asbach) selber zu, wenn er sagt: „Aus dem gesamten Unterricht muß die Überzeugung hervorwachsen, daß es in der Entwicklung der Menschheit keinen Stillstand giebt, daß die Formen, in denen sich ihr Leben bewegt, in stetem Fluß sind... Zu behaupten, daß die bestehende Gesellschaftsordnung vollkommen und keiner Besserung fähig sei, würde gleichbedeutend sein mit der Leugnung des Fortschritts überhaupt." Und etwas weiter heißt es sogar: „Dem vernünftigen Kern des sozialistischen Programms wird der Sieg nicht fehlen, der unvernünftige Teil derartiger Bestrebungen wird an seinem eignen Widersinn scheitern." Schade nur, daß uns verschwiegen wird, wo das Vernünftige aufhört und die Un¬ vernunft beginnt. Wir bezweifeln, daß irgend jemand, auch wenn er dem Pulsschlag des wirtschaftlichen Lebens näher stünde, als das bei unsern Gym-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/547>, abgerufen am 23.07.2024.