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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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selben Maße wie alle andern gemessen zu werden. Aber gerade hier, wo die
Schule am unmittelbarsten den jugendlichen Charakter zu erfassen und zu
bilden trachtet, tritt nur allzu oft das Elternhaus hemmend und störend da¬
zwischen- Es ließen sich Bücher voll schreiben von jenen unerquicklichen
Zwischenfällen, wo ein schwacher Vater oder eine noch schwächere Mutter der
Schule und der Wahrheit ein Schnippchen schlägt, um den Sohn irgend
einer Pflicht oder einer auf Pflichtverletzung gesetzten Strafe zu entziehen.
Von andern Dingen, wodurch sich manches Elternhaus an der Charakterbildung
der Kinder versündigt, wollen wir lieber schweigen. Wer heute in einer Stadt
von über 100 000 Einwohnern die Angen offen hält, kann beobachten, wie
manche Familien -- und vor allem die sogenannten besten -- systematisch an der
Charakterverschlechterung ihrer Kinder arbeiten. Da und nirgends anders
liegt der Nährboden, aus dem das blasirte, absatz- und rückgratlose um-äs-
siöelö-Geschlecht unsrer Großstädte hervorwächst. Höre man doch endlich auf,
die Verantwortung für das Strebertum, für die Vergnügungssucht, für die
geistige und moralische Verkrüppelung der sogenannten Mmssse- ckorve- auf
fremde Schultern zu legen! Zerstöre man endlich den bequemen und pflicht¬
vergessenen unter den Eltern die Freude an dieser Lüge, indem man mit allem
Nachdruck darauf hinweist, daß sie, sie allein vor Gott und vor der Nation
für die Erziehung ihrer Kinder haftbar sind. In diesem Sinne muß man es
mit Freuden begrüßen, daß neuerdings aus den meisten Schulordnungen jener
Paragraph verschwunden ist, der den Besuch eines Wirtshauses mit Strafe
bedrohte, ein Paragraph, der in der That, aber im Übeln Sinne des Wortes,
zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, weil er die Eltern zu einer unange¬
brachter Sicherheit verleitete und zugleich die Lehrer mit dem verächtlichen
Beruf der Spionage betraute.

So viel über die Schäden am Dache, insofern sich die Dinge, die wir
zuletzt besprachen, hauptsächlich auf die Kreise erstrecken, ans denen die
"Führenden" der Nation hervorzugehen pflegen. Nun zur Besprechung des
zweiten Punktes.

Bekanntlich wurde von allerhöchster Stelle der Schule der Vorwurf ge¬
macht, daß sie dem Staate in der Bekämpfung der sozialdemokratischen Pro¬
paganda seit einigen Jahrzehnten keinen, jedenfalls nicht den ihr möglichen
Beistand gewährt habe. Wenn aber hier eine Schuld vorliegt, so hat sie der
"Grüne," insofern er den Lehrern jedes Eingehen auf Zeit- und Streitfragen
untersagt hatte. Die neuen preußischen Lehrpläne haben nun in dieser An¬
gelegenheit eine der frühern entgegengesetzte Stellung eingenommen und ver¬
langen "mit sicherm Takt und großer Umsicht" Belehrungen "über wirtschaft¬
liche und gesellschaftliche Fragen in ihrem Verhältnis zur Gegenwart."

Vor uns liegt der Bericht, der in diesen Tagen der rheinischen Dirct-
torenkonferenz über die Gestaltung der eben erwähnten Belehrungen vorgelegt


Grenzboten II 1893 68

selben Maße wie alle andern gemessen zu werden. Aber gerade hier, wo die
Schule am unmittelbarsten den jugendlichen Charakter zu erfassen und zu
bilden trachtet, tritt nur allzu oft das Elternhaus hemmend und störend da¬
zwischen- Es ließen sich Bücher voll schreiben von jenen unerquicklichen
Zwischenfällen, wo ein schwacher Vater oder eine noch schwächere Mutter der
Schule und der Wahrheit ein Schnippchen schlägt, um den Sohn irgend
einer Pflicht oder einer auf Pflichtverletzung gesetzten Strafe zu entziehen.
Von andern Dingen, wodurch sich manches Elternhaus an der Charakterbildung
der Kinder versündigt, wollen wir lieber schweigen. Wer heute in einer Stadt
von über 100 000 Einwohnern die Angen offen hält, kann beobachten, wie
manche Familien — und vor allem die sogenannten besten — systematisch an der
Charakterverschlechterung ihrer Kinder arbeiten. Da und nirgends anders
liegt der Nährboden, aus dem das blasirte, absatz- und rückgratlose um-äs-
siöelö-Geschlecht unsrer Großstädte hervorwächst. Höre man doch endlich auf,
die Verantwortung für das Strebertum, für die Vergnügungssucht, für die
geistige und moralische Verkrüppelung der sogenannten Mmssse- ckorve- auf
fremde Schultern zu legen! Zerstöre man endlich den bequemen und pflicht¬
vergessenen unter den Eltern die Freude an dieser Lüge, indem man mit allem
Nachdruck darauf hinweist, daß sie, sie allein vor Gott und vor der Nation
für die Erziehung ihrer Kinder haftbar sind. In diesem Sinne muß man es
mit Freuden begrüßen, daß neuerdings aus den meisten Schulordnungen jener
Paragraph verschwunden ist, der den Besuch eines Wirtshauses mit Strafe
bedrohte, ein Paragraph, der in der That, aber im Übeln Sinne des Wortes,
zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, weil er die Eltern zu einer unange¬
brachter Sicherheit verleitete und zugleich die Lehrer mit dem verächtlichen
Beruf der Spionage betraute.

So viel über die Schäden am Dache, insofern sich die Dinge, die wir
zuletzt besprachen, hauptsächlich auf die Kreise erstrecken, ans denen die
„Führenden" der Nation hervorzugehen pflegen. Nun zur Besprechung des
zweiten Punktes.

Bekanntlich wurde von allerhöchster Stelle der Schule der Vorwurf ge¬
macht, daß sie dem Staate in der Bekämpfung der sozialdemokratischen Pro¬
paganda seit einigen Jahrzehnten keinen, jedenfalls nicht den ihr möglichen
Beistand gewährt habe. Wenn aber hier eine Schuld vorliegt, so hat sie der
„Grüne," insofern er den Lehrern jedes Eingehen auf Zeit- und Streitfragen
untersagt hatte. Die neuen preußischen Lehrpläne haben nun in dieser An¬
gelegenheit eine der frühern entgegengesetzte Stellung eingenommen und ver¬
langen „mit sicherm Takt und großer Umsicht" Belehrungen „über wirtschaft¬
liche und gesellschaftliche Fragen in ihrem Verhältnis zur Gegenwart."

Vor uns liegt der Bericht, der in diesen Tagen der rheinischen Dirct-
torenkonferenz über die Gestaltung der eben erwähnten Belehrungen vorgelegt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/546>, abgerufen am 05.02.2025.