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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Beteiligung der Schule an den Aufgabe" der Gegenwart

Nachwelt, bei denen man verhungern kann, die Tantiemen der Theaterdirek¬
toren vorzieht; kurz, wohin wir sehen, gewahren wir einen starken Verbrauch
an Charakteren, der sich natürlich überall da einstellt, wo die Leute "nach
oben" "vollen. Aber diesem starken Abgang fehlt von unten her, d. h. aus
den Reihen der Jugend, der ausreichende Ersatz. Das soll aber, dank der
Fürsorge einer weisen Regierung, in Zukunft anders werden; schon haben die
Schulen die erforderlichen Anweisungen erhalten, und die Charakterfabrikation
wird demnächst im großen Stil betrieben werden. Was wohl dabei heraus¬
kommen mag? Fabrikware!

Wer hat die Möglichkeit und damit die Verpflichtung, für die Charakter¬
bildung des heranwachsenden Geschlechts zu sorgen? Bor fünfzig Jahren wäre
ein Mann, der eine solche Frage vor ernsten Zuhörern hätte erörtern wollen,
mit Kopfschütteln angesehen wordeu. Heute sind wir dahingetommeu, daß es
die ganze Nation, die Nation der Denker, ruhig hinnimmt, wenn ihr von
einigen Tamtamschlügern auf jene Frage eine falsche oder vielmehr eine ge¬
fälschte Antwort gegeben wird. Wie verhält es sich denn um diese Sache,
ihr Väter und Mütter? Euch sind die Kinder bis zum siebenten Jahre zur
alleinigen Hut gegeben, euch allein gehören sie in jenem Alter, wo das Wachs
des jungen Herzens für jeden Eindruck empfänglich ist, wo sich ihm die ersten
Spuren eindrücken, die allmählich zum tiefen Geleise der Gewöhnung werden.
Vou euch lernt das Kind sprechen und beten, gutes und böses unterscheiden,
ihr seid ihm der Inhalt seiner Liebe und seines Lebens. Und erst dann,
wenn die Ketten des Gewebes für den künftigen Charakter längst in der Seele
euers Kindes gelegt sind, kommt es in die Schule. Der Mann, der hier, wie
man sagt, an eure Stelle tritt, ist nicht imstande, die Ansätze der Charakter¬
bildung, die das Kind, sich selbst und leider auch vielen Eltern unbewußt, bis
zum siebenten Lebensjahre gemacht hat, zu beseitigen. Und wenn ihr euch ver¬
gegenwärtigt, daß dieser Mann vierzig, fünfzig, ja sechzig Schüler zugleich
unterrichtet, daß sein nächstes Ziel doch nach wie vor die Pflege der Ver¬
standeskräfte ist, so werdet ihr euch gegen die Annahme auflehnen, daß irgend
eines andern Menschen Einwirkung auf eure Kinder der eurigen vorangehen
könnte. Gewiß wäre es schlimm, wenn in der Schule nicht manches gute
Saatkorn in die jungen Herzen gelegt würde; ob aber dieses Korn aufgeht
und wie es sich entwickelt, das hängt in erster Linie davon ab, wie das Eltern¬
haus in der Kindesseele den Boden bereitet hat.

Wenden wir von der Volksschule den Blick auf die höhern Unterrichts-
anstalten, so gewahren wir da ein ähnliches Verhältnis. Wohl vermag die
höhere Schule gegenüber der Charakterbildung ihrer Zöglinge eine wichtige
Aufgabe zu lösen, indem sie einerseits vor sie hintritt mit der Forderung, Tag
für Tag die ganze Kraft und das ganze Wollen einzusetzen, andrerseits ihnen
die Überzeugung beibringt, daß sie es sich gefallen lassen müssen, mit dem-


Die Beteiligung der Schule an den Aufgabe» der Gegenwart

Nachwelt, bei denen man verhungern kann, die Tantiemen der Theaterdirek¬
toren vorzieht; kurz, wohin wir sehen, gewahren wir einen starken Verbrauch
an Charakteren, der sich natürlich überall da einstellt, wo die Leute „nach
oben" »vollen. Aber diesem starken Abgang fehlt von unten her, d. h. aus
den Reihen der Jugend, der ausreichende Ersatz. Das soll aber, dank der
Fürsorge einer weisen Regierung, in Zukunft anders werden; schon haben die
Schulen die erforderlichen Anweisungen erhalten, und die Charakterfabrikation
wird demnächst im großen Stil betrieben werden. Was wohl dabei heraus¬
kommen mag? Fabrikware!

Wer hat die Möglichkeit und damit die Verpflichtung, für die Charakter¬
bildung des heranwachsenden Geschlechts zu sorgen? Bor fünfzig Jahren wäre
ein Mann, der eine solche Frage vor ernsten Zuhörern hätte erörtern wollen,
mit Kopfschütteln angesehen wordeu. Heute sind wir dahingetommeu, daß es
die ganze Nation, die Nation der Denker, ruhig hinnimmt, wenn ihr von
einigen Tamtamschlügern auf jene Frage eine falsche oder vielmehr eine ge¬
fälschte Antwort gegeben wird. Wie verhält es sich denn um diese Sache,
ihr Väter und Mütter? Euch sind die Kinder bis zum siebenten Jahre zur
alleinigen Hut gegeben, euch allein gehören sie in jenem Alter, wo das Wachs
des jungen Herzens für jeden Eindruck empfänglich ist, wo sich ihm die ersten
Spuren eindrücken, die allmählich zum tiefen Geleise der Gewöhnung werden.
Vou euch lernt das Kind sprechen und beten, gutes und böses unterscheiden,
ihr seid ihm der Inhalt seiner Liebe und seines Lebens. Und erst dann,
wenn die Ketten des Gewebes für den künftigen Charakter längst in der Seele
euers Kindes gelegt sind, kommt es in die Schule. Der Mann, der hier, wie
man sagt, an eure Stelle tritt, ist nicht imstande, die Ansätze der Charakter¬
bildung, die das Kind, sich selbst und leider auch vielen Eltern unbewußt, bis
zum siebenten Lebensjahre gemacht hat, zu beseitigen. Und wenn ihr euch ver¬
gegenwärtigt, daß dieser Mann vierzig, fünfzig, ja sechzig Schüler zugleich
unterrichtet, daß sein nächstes Ziel doch nach wie vor die Pflege der Ver¬
standeskräfte ist, so werdet ihr euch gegen die Annahme auflehnen, daß irgend
eines andern Menschen Einwirkung auf eure Kinder der eurigen vorangehen
könnte. Gewiß wäre es schlimm, wenn in der Schule nicht manches gute
Saatkorn in die jungen Herzen gelegt würde; ob aber dieses Korn aufgeht
und wie es sich entwickelt, das hängt in erster Linie davon ab, wie das Eltern¬
haus in der Kindesseele den Boden bereitet hat.

Wenden wir von der Volksschule den Blick auf die höhern Unterrichts-
anstalten, so gewahren wir da ein ähnliches Verhältnis. Wohl vermag die
höhere Schule gegenüber der Charakterbildung ihrer Zöglinge eine wichtige
Aufgabe zu lösen, indem sie einerseits vor sie hintritt mit der Forderung, Tag
für Tag die ganze Kraft und das ganze Wollen einzusetzen, andrerseits ihnen
die Überzeugung beibringt, daß sie es sich gefallen lassen müssen, mit dem-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/545>, abgerufen am 23.07.2024.