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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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namentlich gegen ein System gerichtet war, für dessen Bestand man keinen
Menschen von Fleisch und Blut, sondern jenes vielvermögende, alles freie Leben
und Gestalten überwuchernde Abstrccktum des modernen Staatslebens, den Geist
oder Urgeist des "grünen Tisches," verantwortlich zu machen hat.

Dieser "Grüne" ist bekanntlich nicht nur unsichtbar, unfaßbar, unnah¬
bar n. s. w., sondern er pflegt auch stumm zu sein, wenn ein vorwitziger Mensch
in seinem naiven Unterthanenverstand einmal erfahren möchte, wann diesem
oder jenem Zopfe die Ehre der Schere zu teil werden soll. Mit dem Stnmm-
sein scheint es freilich in der letzten Zeit etwas besser zu werden, und auch
in unsrer Angelegenheit hat der "Grüne" gesprochen. Er hat anerkannt, das;
die Erziehung des heranwachsenden Geschlechts einen bedauernswerten Mangel
habe, der sich namentlich in zwei Punkten offenbare, in einer geringen Charakter¬
bildung und in einer unzulänglichen Kenntnis der Thatsachen und Gesetze des
gesellschaftlichen Organismus. Für das Defizit in diesen beiden Posten sei
die Schule haftbar, und fo erkläre sich zum großen Teil die geringe Wider¬
standskraft des Volkes gegenüber den modernen Irrlehren. Als dann vollends
aus allerhöchstem Munde jener Vorwurf in der schärfsten Weise wiederholt
wurde, durften wir uns der frohen Erwartung hingeben, daß man nunmehr
dem Übel entschlossen auf den Leib rücken würde. Mit Spannung sahen wir
den kommenden Maßregeln entgegen: Sie kamen auch, aber den Glauben, daß
es jetzt besser werde, haben wir offen gestanden nur bei wenigen Optimisten der
unverbesserlichen Ordnung angetroffen. Die Mehrzahl ist der Meinung, daß
die Neuerungen für die Schule als solche vielleicht einen Borten bedeuten,
daß sie dagegen auf die genannten Schäden keine nachhaltige Einwirkung aus¬
zuüben vermögen. In dieser Hinsicht wäre also die großartig angekündigte
und pomphaft in Szene gesetzte Schulreform leider ein Schlag ins Wasser.

Wer den Sitz eines Übels verkennt, der mag von vornherein die Hoffnung
auf eine endgiltige Heilung aufgeben. In diesem Falle aber befinden sich alle
-- der große "Grüne" nicht ausgenommen --, die in erster Linie die Schule
für die mehrfach erwähnten bedenklichen Erscheinungen verantwortlich machen
wollen und demzufolge von einer Änderung ihres Betriebes die Genesung der
Schäden erwarten, die dem Gebäude der gegenwärtigen Gesellsch<! das Funda¬
ment unterwühlen und das Dach zertrümmern. Versuchen wir also zunächst
eine bessere, die richtige Diagnose.

Es ist eine von allen Seiten zugegebne Thatsache, daß das Ende unsers
Jahrhunderts ein erschreckendes Minus an starke" Charakteren zu verzeichnen
hat. Daß im öffentlichen Leben ein großer Verbrauch von Charakteren statt¬
findet, erkennt jeder, der sich die Wandlung vor Augen hält, die ein guter
Parteiführer an sich vollziehen muß, wenn er beispielsweise ein guter Finanz¬
minister werden soll; ein ähnlicher Prozeß der innern Häutung widerführe dein
für die höchsten Ideale begeisterten Schriftsteller, wenn er den Kränzen der


namentlich gegen ein System gerichtet war, für dessen Bestand man keinen
Menschen von Fleisch und Blut, sondern jenes vielvermögende, alles freie Leben
und Gestalten überwuchernde Abstrccktum des modernen Staatslebens, den Geist
oder Urgeist des „grünen Tisches," verantwortlich zu machen hat.

Dieser „Grüne" ist bekanntlich nicht nur unsichtbar, unfaßbar, unnah¬
bar n. s. w., sondern er pflegt auch stumm zu sein, wenn ein vorwitziger Mensch
in seinem naiven Unterthanenverstand einmal erfahren möchte, wann diesem
oder jenem Zopfe die Ehre der Schere zu teil werden soll. Mit dem Stnmm-
sein scheint es freilich in der letzten Zeit etwas besser zu werden, und auch
in unsrer Angelegenheit hat der „Grüne" gesprochen. Er hat anerkannt, das;
die Erziehung des heranwachsenden Geschlechts einen bedauernswerten Mangel
habe, der sich namentlich in zwei Punkten offenbare, in einer geringen Charakter¬
bildung und in einer unzulänglichen Kenntnis der Thatsachen und Gesetze des
gesellschaftlichen Organismus. Für das Defizit in diesen beiden Posten sei
die Schule haftbar, und fo erkläre sich zum großen Teil die geringe Wider¬
standskraft des Volkes gegenüber den modernen Irrlehren. Als dann vollends
aus allerhöchstem Munde jener Vorwurf in der schärfsten Weise wiederholt
wurde, durften wir uns der frohen Erwartung hingeben, daß man nunmehr
dem Übel entschlossen auf den Leib rücken würde. Mit Spannung sahen wir
den kommenden Maßregeln entgegen: Sie kamen auch, aber den Glauben, daß
es jetzt besser werde, haben wir offen gestanden nur bei wenigen Optimisten der
unverbesserlichen Ordnung angetroffen. Die Mehrzahl ist der Meinung, daß
die Neuerungen für die Schule als solche vielleicht einen Borten bedeuten,
daß sie dagegen auf die genannten Schäden keine nachhaltige Einwirkung aus¬
zuüben vermögen. In dieser Hinsicht wäre also die großartig angekündigte
und pomphaft in Szene gesetzte Schulreform leider ein Schlag ins Wasser.

Wer den Sitz eines Übels verkennt, der mag von vornherein die Hoffnung
auf eine endgiltige Heilung aufgeben. In diesem Falle aber befinden sich alle
— der große „Grüne" nicht ausgenommen —, die in erster Linie die Schule
für die mehrfach erwähnten bedenklichen Erscheinungen verantwortlich machen
wollen und demzufolge von einer Änderung ihres Betriebes die Genesung der
Schäden erwarten, die dem Gebäude der gegenwärtigen Gesellsch<! das Funda¬
ment unterwühlen und das Dach zertrümmern. Versuchen wir also zunächst
eine bessere, die richtige Diagnose.

Es ist eine von allen Seiten zugegebne Thatsache, daß das Ende unsers
Jahrhunderts ein erschreckendes Minus an starke» Charakteren zu verzeichnen
hat. Daß im öffentlichen Leben ein großer Verbrauch von Charakteren statt¬
findet, erkennt jeder, der sich die Wandlung vor Augen hält, die ein guter
Parteiführer an sich vollziehen muß, wenn er beispielsweise ein guter Finanz¬
minister werden soll; ein ähnlicher Prozeß der innern Häutung widerführe dein
für die höchsten Ideale begeisterten Schriftsteller, wenn er den Kränzen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/544>, abgerufen am 23.07.2024.