Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

träu", mit Frvhn (Herr, Schulze), koreinnnäg, mit Vormund u. s. w. Und
wie frei und offen klingt die altfricsische Jnfinitivenduug s., verglichen mit
unserm en! Ich greife aus der Nähe der genannten Hauptwörter einige
Zeitwörter heraus: to-ssg.ä<zrg,, versammeln; toriormiFg,, vorbringen; tori-
^örnÄ, verweigern; lorAunssg., vergehen. Wer wird nicht durch den Klang
dieser Wörter unwillkürlich an die Sprache jener Angeln und Sachsen er¬
innert, die sich jenseits des Meeres eine neue Heimat schufen? Die große Ver¬
wandtschaft beider Sprachen zeigt, wie nahe sich die beiden Völker standen,
die sie sprachen. So haben sie gewiß auch eine ähnliche Aussprache gehabt.
Nun fehlt leider altfriesische Poesie. Dafür ist aber das Angelsächsische desto
reicher daran. Aber wer könnte sich die gewaltige Sprache des Beowulf
mit geschlossenem Munde gesprochen denken? Freilich wird im Beowulf der
Mund Vorcl-llorä, d. h. Hort des Wortes genannt. Aber damit ist gewiß
nicht gesagt, daß die Alten beim Sprechen das Gehege der Zähne so wenig
geöffnet hätten wie heutigen Tages ihre Söhne, sondern es ist nur die alte,
trotzige, überlegte, vorsichtige, nordische Schweigsamkeit damit angedeutet. Der
fromme Mönch aber, dessen Redaktion wir das Heldenlied verdanken, hatte
offenbar in dem Briefe des Jakobus das Kapitel von der Zunge mit Erfolg
studirt, und er ließ das Wort in pädagogischen Interesse stehen, eine kurze
wirkungsvolle Warnung vor Znngensündcn. Die heutigen Vettern in Ost¬
friesland bedürfen ihrer kaum. Sie sind von einer solchen Vorsicht im Gebrauch
des "unruhigen Übels," daß es einem, der ihre Art nicht ganz genau kennt,
geradezu peinlich werden kann.

Nimm an, du wärest irgend" in einem Bnuernhanse zum Essen geladen.
Dann merke dir ja, daß nicht genötigt wird, und schene dich nicht, trotzdem
tapfer zuzugreifen. In Westfalen sagt der Hausherr, wenn die Gäste alle
sitzen und es ist aufgetragen, wenigstens: So, um plagt euch! In Schwaben
wird man mit den Worten ermuntert: D' Unkeschte sind scho g'macht! Hier
aber giebts nur einen stummen Wink, zuzulangen. Der Hausherr sieht den
Gast an und bewegt den Daumen der rechten Hand nach den Speisen hin.
Das ist alles. Dann aber schlägt die Schweigsamkeit anch hier eine tüchtige
Klinge. Früher pflegte man fogar zu sagen, man müsse essen, als ob alle
Bäume Galgen wären, also flott drauf los. Das war freilich die Zeit, wo
noch alle aus einer Schüssel nßeu.

Oder du gehst über Land, und an deinem Wege siehst du einen Land-
mann Kartoffeln ernten. Na, werden Kartoffeln ausgemacht? sagst du im
Vorbeigehen, um dem arbeitenden Manne eine Freude zu machen. Wäre das
am Rhein oder in Sachsen, da würde der Kartoffelbauer sofort anbeißen; du
würdest merken, daß er bloß darauf gewartet hat, angeredet zu werden. Denn
alsbald würde er losschießen: Ja, es wird jetzt Zeit, der Herbst ist da, sie
müssen jetzt in den Keller, sie sind so wie so nicht zum besten geraten, na,


träu», mit Frvhn (Herr, Schulze), koreinnnäg, mit Vormund u. s. w. Und
wie frei und offen klingt die altfricsische Jnfinitivenduug s., verglichen mit
unserm en! Ich greife aus der Nähe der genannten Hauptwörter einige
Zeitwörter heraus: to-ssg.ä<zrg,, versammeln; toriormiFg,, vorbringen; tori-
^örnÄ, verweigern; lorAunssg., vergehen. Wer wird nicht durch den Klang
dieser Wörter unwillkürlich an die Sprache jener Angeln und Sachsen er¬
innert, die sich jenseits des Meeres eine neue Heimat schufen? Die große Ver¬
wandtschaft beider Sprachen zeigt, wie nahe sich die beiden Völker standen,
die sie sprachen. So haben sie gewiß auch eine ähnliche Aussprache gehabt.
Nun fehlt leider altfriesische Poesie. Dafür ist aber das Angelsächsische desto
reicher daran. Aber wer könnte sich die gewaltige Sprache des Beowulf
mit geschlossenem Munde gesprochen denken? Freilich wird im Beowulf der
Mund Vorcl-llorä, d. h. Hort des Wortes genannt. Aber damit ist gewiß
nicht gesagt, daß die Alten beim Sprechen das Gehege der Zähne so wenig
geöffnet hätten wie heutigen Tages ihre Söhne, sondern es ist nur die alte,
trotzige, überlegte, vorsichtige, nordische Schweigsamkeit damit angedeutet. Der
fromme Mönch aber, dessen Redaktion wir das Heldenlied verdanken, hatte
offenbar in dem Briefe des Jakobus das Kapitel von der Zunge mit Erfolg
studirt, und er ließ das Wort in pädagogischen Interesse stehen, eine kurze
wirkungsvolle Warnung vor Znngensündcn. Die heutigen Vettern in Ost¬
friesland bedürfen ihrer kaum. Sie sind von einer solchen Vorsicht im Gebrauch
des „unruhigen Übels," daß es einem, der ihre Art nicht ganz genau kennt,
geradezu peinlich werden kann.

Nimm an, du wärest irgend» in einem Bnuernhanse zum Essen geladen.
Dann merke dir ja, daß nicht genötigt wird, und schene dich nicht, trotzdem
tapfer zuzugreifen. In Westfalen sagt der Hausherr, wenn die Gäste alle
sitzen und es ist aufgetragen, wenigstens: So, um plagt euch! In Schwaben
wird man mit den Worten ermuntert: D' Unkeschte sind scho g'macht! Hier
aber giebts nur einen stummen Wink, zuzulangen. Der Hausherr sieht den
Gast an und bewegt den Daumen der rechten Hand nach den Speisen hin.
Das ist alles. Dann aber schlägt die Schweigsamkeit anch hier eine tüchtige
Klinge. Früher pflegte man fogar zu sagen, man müsse essen, als ob alle
Bäume Galgen wären, also flott drauf los. Das war freilich die Zeit, wo
noch alle aus einer Schüssel nßeu.

Oder du gehst über Land, und an deinem Wege siehst du einen Land-
mann Kartoffeln ernten. Na, werden Kartoffeln ausgemacht? sagst du im
Vorbeigehen, um dem arbeitenden Manne eine Freude zu machen. Wäre das
am Rhein oder in Sachsen, da würde der Kartoffelbauer sofort anbeißen; du
würdest merken, daß er bloß darauf gewartet hat, angeredet zu werden. Denn
alsbald würde er losschießen: Ja, es wird jetzt Zeit, der Herbst ist da, sie
müssen jetzt in den Keller, sie sind so wie so nicht zum besten geraten, na,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214918"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1805" prev="#ID_1804"> träu», mit Frvhn (Herr, Schulze), koreinnnäg, mit Vormund u. s. w. Und<lb/>
wie frei und offen klingt die altfricsische Jnfinitivenduug s., verglichen mit<lb/>
unserm en! Ich greife aus der Nähe der genannten Hauptwörter einige<lb/>
Zeitwörter heraus: to-ssg.ä&lt;zrg,, versammeln; toriormiFg,, vorbringen; tori-<lb/>
^örnÄ, verweigern; lorAunssg., vergehen. Wer wird nicht durch den Klang<lb/>
dieser Wörter unwillkürlich an die Sprache jener Angeln und Sachsen er¬<lb/>
innert, die sich jenseits des Meeres eine neue Heimat schufen? Die große Ver¬<lb/>
wandtschaft beider Sprachen zeigt, wie nahe sich die beiden Völker standen,<lb/>
die sie sprachen. So haben sie gewiß auch eine ähnliche Aussprache gehabt.<lb/>
Nun fehlt leider altfriesische Poesie. Dafür ist aber das Angelsächsische desto<lb/>
reicher daran. Aber wer könnte sich die gewaltige Sprache des Beowulf<lb/>
mit geschlossenem Munde gesprochen denken? Freilich wird im Beowulf der<lb/>
Mund Vorcl-llorä, d. h. Hort des Wortes genannt. Aber damit ist gewiß<lb/>
nicht gesagt, daß die Alten beim Sprechen das Gehege der Zähne so wenig<lb/>
geöffnet hätten wie heutigen Tages ihre Söhne, sondern es ist nur die alte,<lb/>
trotzige, überlegte, vorsichtige, nordische Schweigsamkeit damit angedeutet. Der<lb/>
fromme Mönch aber, dessen Redaktion wir das Heldenlied verdanken, hatte<lb/>
offenbar in dem Briefe des Jakobus das Kapitel von der Zunge mit Erfolg<lb/>
studirt, und er ließ das Wort in pädagogischen Interesse stehen, eine kurze<lb/>
wirkungsvolle Warnung vor Znngensündcn. Die heutigen Vettern in Ost¬<lb/>
friesland bedürfen ihrer kaum. Sie sind von einer solchen Vorsicht im Gebrauch<lb/>
des &#x201E;unruhigen Übels," daß es einem, der ihre Art nicht ganz genau kennt,<lb/>
geradezu peinlich werden kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1806"> Nimm an, du wärest irgend» in einem Bnuernhanse zum Essen geladen.<lb/>
Dann merke dir ja, daß nicht genötigt wird, und schene dich nicht, trotzdem<lb/>
tapfer zuzugreifen. In Westfalen sagt der Hausherr, wenn die Gäste alle<lb/>
sitzen und es ist aufgetragen, wenigstens: So, um plagt euch! In Schwaben<lb/>
wird man mit den Worten ermuntert: D' Unkeschte sind scho g'macht! Hier<lb/>
aber giebts nur einen stummen Wink, zuzulangen. Der Hausherr sieht den<lb/>
Gast an und bewegt den Daumen der rechten Hand nach den Speisen hin.<lb/>
Das ist alles. Dann aber schlägt die Schweigsamkeit anch hier eine tüchtige<lb/>
Klinge. Früher pflegte man fogar zu sagen, man müsse essen, als ob alle<lb/>
Bäume Galgen wären, also flott drauf los. Das war freilich die Zeit, wo<lb/>
noch alle aus einer Schüssel nßeu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1807" next="#ID_1808"> Oder du gehst über Land, und an deinem Wege siehst du einen Land-<lb/>
mann Kartoffeln ernten. Na, werden Kartoffeln ausgemacht? sagst du im<lb/>
Vorbeigehen, um dem arbeitenden Manne eine Freude zu machen. Wäre das<lb/>
am Rhein oder in Sachsen, da würde der Kartoffelbauer sofort anbeißen; du<lb/>
würdest merken, daß er bloß darauf gewartet hat, angeredet zu werden. Denn<lb/>
alsbald würde er losschießen: Ja, es wird jetzt Zeit, der Herbst ist da, sie<lb/>
müssen jetzt in den Keller, sie sind so wie so nicht zum besten geraten, na,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0463] träu», mit Frvhn (Herr, Schulze), koreinnnäg, mit Vormund u. s. w. Und wie frei und offen klingt die altfricsische Jnfinitivenduug s., verglichen mit unserm en! Ich greife aus der Nähe der genannten Hauptwörter einige Zeitwörter heraus: to-ssg.ä<zrg,, versammeln; toriormiFg,, vorbringen; tori- ^örnÄ, verweigern; lorAunssg., vergehen. Wer wird nicht durch den Klang dieser Wörter unwillkürlich an die Sprache jener Angeln und Sachsen er¬ innert, die sich jenseits des Meeres eine neue Heimat schufen? Die große Ver¬ wandtschaft beider Sprachen zeigt, wie nahe sich die beiden Völker standen, die sie sprachen. So haben sie gewiß auch eine ähnliche Aussprache gehabt. Nun fehlt leider altfriesische Poesie. Dafür ist aber das Angelsächsische desto reicher daran. Aber wer könnte sich die gewaltige Sprache des Beowulf mit geschlossenem Munde gesprochen denken? Freilich wird im Beowulf der Mund Vorcl-llorä, d. h. Hort des Wortes genannt. Aber damit ist gewiß nicht gesagt, daß die Alten beim Sprechen das Gehege der Zähne so wenig geöffnet hätten wie heutigen Tages ihre Söhne, sondern es ist nur die alte, trotzige, überlegte, vorsichtige, nordische Schweigsamkeit damit angedeutet. Der fromme Mönch aber, dessen Redaktion wir das Heldenlied verdanken, hatte offenbar in dem Briefe des Jakobus das Kapitel von der Zunge mit Erfolg studirt, und er ließ das Wort in pädagogischen Interesse stehen, eine kurze wirkungsvolle Warnung vor Znngensündcn. Die heutigen Vettern in Ost¬ friesland bedürfen ihrer kaum. Sie sind von einer solchen Vorsicht im Gebrauch des „unruhigen Übels," daß es einem, der ihre Art nicht ganz genau kennt, geradezu peinlich werden kann. Nimm an, du wärest irgend» in einem Bnuernhanse zum Essen geladen. Dann merke dir ja, daß nicht genötigt wird, und schene dich nicht, trotzdem tapfer zuzugreifen. In Westfalen sagt der Hausherr, wenn die Gäste alle sitzen und es ist aufgetragen, wenigstens: So, um plagt euch! In Schwaben wird man mit den Worten ermuntert: D' Unkeschte sind scho g'macht! Hier aber giebts nur einen stummen Wink, zuzulangen. Der Hausherr sieht den Gast an und bewegt den Daumen der rechten Hand nach den Speisen hin. Das ist alles. Dann aber schlägt die Schweigsamkeit anch hier eine tüchtige Klinge. Früher pflegte man fogar zu sagen, man müsse essen, als ob alle Bäume Galgen wären, also flott drauf los. Das war freilich die Zeit, wo noch alle aus einer Schüssel nßeu. Oder du gehst über Land, und an deinem Wege siehst du einen Land- mann Kartoffeln ernten. Na, werden Kartoffeln ausgemacht? sagst du im Vorbeigehen, um dem arbeitenden Manne eine Freude zu machen. Wäre das am Rhein oder in Sachsen, da würde der Kartoffelbauer sofort anbeißen; du würdest merken, daß er bloß darauf gewartet hat, angeredet zu werden. Denn alsbald würde er losschießen: Ja, es wird jetzt Zeit, der Herbst ist da, sie müssen jetzt in den Keller, sie sind so wie so nicht zum besten geraten, na,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/463
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/463>, abgerufen am 29.09.2024.