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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Land und Leute in Vstfriesland

kommt noch der schwere Luftdruck von oben und der schwere Kleibvden vou
unten, der sich wie Blei an die (nicht unbedeutenden) Sohlen -- man lebt
hier auf großem Fuße! -- hängt. Kurz, man begreift es wohl, wie diese
Leute so langsam und gemessen in ihren Bewegungen, so langsam und nach¬
drücklich bei ihrer Arbeit, so langsam und einsilbig in ihrem Reden ge¬
worden sind.

Einsilbig bitte ich übrigens wörtlich zu nehmen. Der Ostfriese ist zwar
von Alters her nicht einsilbig angelegt gewesen, aber er hat sich nach und
nach künstlich zur Einsilbigkeit entwickelt. Statt Lübeck sagt er nämlich Lück;
statt Nachen Ak; statt Siebe Sie (Schlitten); statt Rede Ne (Reede). Die
häusig verbunden vorkommenden Vornamen Katharine Christine hat er zwar
nicht ganz in eine Silbe pressen können, aber kurz genug ist es doch geworden:
Rinste. Bei solcher Neigung zur Kürze ist es fast ein tragisches Geschick zu
nennen, daß bei jedem Bau eines neuen Siels, bei jeder neuen Eindeichung
eines Groden (Polders), bei jedem neu angelegten Fehlt ein neuer Name herbei
muß. Und da sich die neuen natürlich von den alten unterscheiden müssen,
so muß die Unterscheidung manchmal etwas weitläufig und umständlich aus¬
fallen. So entstehen Neuharlingersiel, Westeraceumcrsiel, Neueuderaltengroden,
Kleiusüdercharlottenpolder, Stickelkamperfehu, Westermarschaltendeich und un¬
zählige ähnliche Namen, und sie sind alle so gut wie gar nicht abzu¬
kürzen! Der Pfülzer kürzt sein Niederschönwattenwag zu Schimmedewvg ab; der
Oldenburger nennt seinen Stolz, nämlich Dorf, Park und Schloß Rnstede,
kurzweg Rost; und auch der Ostfriese hat bei Nordernheoog eine schüchterne
Abkürzung in Norderney gewagt; aber was soll er mit Bunderinteressenten-
pvlder anfangen?

Weil wir sie aber begreifen, so verzeihen wir auch diese Schweigsamkeit,
die ein weniger wohlwollender Beurteiler Maulfaulheit nennen würde. Eins
aber ist bei allem Wohlwollen unverzeihlich. Die Leute thun, wenn sie auch
wirklich einmal etwas sagen wollen, den Mund nicht ans, sondern quetschen
ihr geliebtes Plattdeutsch so undeutlich durch die Zähne, daß ein Schwabe
oder Baier, der plötzlich hierher verschlagen würde, deute" könnte, er sei in
die Mandschurei oder auf Vorneo geraten. Muß ich doch offen eingestehen,
daß ich selber Mühe genug habe, zwei mit einander plattdeutsch redende "Ein-
geborne" zu verstehen, obwohl mir theoretisch kaum eine der gangbaren Vo¬
kabeln des Niedersächsisch-Friesischen unbekannt sein dürfte. Unmöglich können
es die alten Friesen ebenso gemacht haben. Die müssen eine sehr wohlklingende
Sprache gehabt haben, denn diese Sprache hatte viele Wörter mit offner End¬
silbe -- da muß doch der Mund aufgemacht worden sein! Der altfriesische
Gnu z. B., wo die neue deutsche Reichskriegshafenstadt liegt, hieß UrioZkringis,
nebenbei bemerkt fünfsilbig, jetzt heißt er Rustringer. Man spreche beide Wörter
aus und vergleiche! Man vergleiche weiter loräa mit Furt, dorso mit Fürst,


Land und Leute in Vstfriesland

kommt noch der schwere Luftdruck von oben und der schwere Kleibvden vou
unten, der sich wie Blei an die (nicht unbedeutenden) Sohlen — man lebt
hier auf großem Fuße! — hängt. Kurz, man begreift es wohl, wie diese
Leute so langsam und gemessen in ihren Bewegungen, so langsam und nach¬
drücklich bei ihrer Arbeit, so langsam und einsilbig in ihrem Reden ge¬
worden sind.

Einsilbig bitte ich übrigens wörtlich zu nehmen. Der Ostfriese ist zwar
von Alters her nicht einsilbig angelegt gewesen, aber er hat sich nach und
nach künstlich zur Einsilbigkeit entwickelt. Statt Lübeck sagt er nämlich Lück;
statt Nachen Ak; statt Siebe Sie (Schlitten); statt Rede Ne (Reede). Die
häusig verbunden vorkommenden Vornamen Katharine Christine hat er zwar
nicht ganz in eine Silbe pressen können, aber kurz genug ist es doch geworden:
Rinste. Bei solcher Neigung zur Kürze ist es fast ein tragisches Geschick zu
nennen, daß bei jedem Bau eines neuen Siels, bei jeder neuen Eindeichung
eines Groden (Polders), bei jedem neu angelegten Fehlt ein neuer Name herbei
muß. Und da sich die neuen natürlich von den alten unterscheiden müssen,
so muß die Unterscheidung manchmal etwas weitläufig und umständlich aus¬
fallen. So entstehen Neuharlingersiel, Westeraceumcrsiel, Neueuderaltengroden,
Kleiusüdercharlottenpolder, Stickelkamperfehu, Westermarschaltendeich und un¬
zählige ähnliche Namen, und sie sind alle so gut wie gar nicht abzu¬
kürzen! Der Pfülzer kürzt sein Niederschönwattenwag zu Schimmedewvg ab; der
Oldenburger nennt seinen Stolz, nämlich Dorf, Park und Schloß Rnstede,
kurzweg Rost; und auch der Ostfriese hat bei Nordernheoog eine schüchterne
Abkürzung in Norderney gewagt; aber was soll er mit Bunderinteressenten-
pvlder anfangen?

Weil wir sie aber begreifen, so verzeihen wir auch diese Schweigsamkeit,
die ein weniger wohlwollender Beurteiler Maulfaulheit nennen würde. Eins
aber ist bei allem Wohlwollen unverzeihlich. Die Leute thun, wenn sie auch
wirklich einmal etwas sagen wollen, den Mund nicht ans, sondern quetschen
ihr geliebtes Plattdeutsch so undeutlich durch die Zähne, daß ein Schwabe
oder Baier, der plötzlich hierher verschlagen würde, deute» könnte, er sei in
die Mandschurei oder auf Vorneo geraten. Muß ich doch offen eingestehen,
daß ich selber Mühe genug habe, zwei mit einander plattdeutsch redende „Ein-
geborne" zu verstehen, obwohl mir theoretisch kaum eine der gangbaren Vo¬
kabeln des Niedersächsisch-Friesischen unbekannt sein dürfte. Unmöglich können
es die alten Friesen ebenso gemacht haben. Die müssen eine sehr wohlklingende
Sprache gehabt haben, denn diese Sprache hatte viele Wörter mit offner End¬
silbe — da muß doch der Mund aufgemacht worden sein! Der altfriesische
Gnu z. B., wo die neue deutsche Reichskriegshafenstadt liegt, hieß UrioZkringis,
nebenbei bemerkt fünfsilbig, jetzt heißt er Rustringer. Man spreche beide Wörter
aus und vergleiche! Man vergleiche weiter loräa mit Furt, dorso mit Fürst,


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[0462] Land und Leute in Vstfriesland kommt noch der schwere Luftdruck von oben und der schwere Kleibvden vou unten, der sich wie Blei an die (nicht unbedeutenden) Sohlen — man lebt hier auf großem Fuße! — hängt. Kurz, man begreift es wohl, wie diese Leute so langsam und gemessen in ihren Bewegungen, so langsam und nach¬ drücklich bei ihrer Arbeit, so langsam und einsilbig in ihrem Reden ge¬ worden sind. Einsilbig bitte ich übrigens wörtlich zu nehmen. Der Ostfriese ist zwar von Alters her nicht einsilbig angelegt gewesen, aber er hat sich nach und nach künstlich zur Einsilbigkeit entwickelt. Statt Lübeck sagt er nämlich Lück; statt Nachen Ak; statt Siebe Sie (Schlitten); statt Rede Ne (Reede). Die häusig verbunden vorkommenden Vornamen Katharine Christine hat er zwar nicht ganz in eine Silbe pressen können, aber kurz genug ist es doch geworden: Rinste. Bei solcher Neigung zur Kürze ist es fast ein tragisches Geschick zu nennen, daß bei jedem Bau eines neuen Siels, bei jeder neuen Eindeichung eines Groden (Polders), bei jedem neu angelegten Fehlt ein neuer Name herbei muß. Und da sich die neuen natürlich von den alten unterscheiden müssen, so muß die Unterscheidung manchmal etwas weitläufig und umständlich aus¬ fallen. So entstehen Neuharlingersiel, Westeraceumcrsiel, Neueuderaltengroden, Kleiusüdercharlottenpolder, Stickelkamperfehu, Westermarschaltendeich und un¬ zählige ähnliche Namen, und sie sind alle so gut wie gar nicht abzu¬ kürzen! Der Pfülzer kürzt sein Niederschönwattenwag zu Schimmedewvg ab; der Oldenburger nennt seinen Stolz, nämlich Dorf, Park und Schloß Rnstede, kurzweg Rost; und auch der Ostfriese hat bei Nordernheoog eine schüchterne Abkürzung in Norderney gewagt; aber was soll er mit Bunderinteressenten- pvlder anfangen? Weil wir sie aber begreifen, so verzeihen wir auch diese Schweigsamkeit, die ein weniger wohlwollender Beurteiler Maulfaulheit nennen würde. Eins aber ist bei allem Wohlwollen unverzeihlich. Die Leute thun, wenn sie auch wirklich einmal etwas sagen wollen, den Mund nicht ans, sondern quetschen ihr geliebtes Plattdeutsch so undeutlich durch die Zähne, daß ein Schwabe oder Baier, der plötzlich hierher verschlagen würde, deute» könnte, er sei in die Mandschurei oder auf Vorneo geraten. Muß ich doch offen eingestehen, daß ich selber Mühe genug habe, zwei mit einander plattdeutsch redende „Ein- geborne" zu verstehen, obwohl mir theoretisch kaum eine der gangbaren Vo¬ kabeln des Niedersächsisch-Friesischen unbekannt sein dürfte. Unmöglich können es die alten Friesen ebenso gemacht haben. Die müssen eine sehr wohlklingende Sprache gehabt haben, denn diese Sprache hatte viele Wörter mit offner End¬ silbe — da muß doch der Mund aufgemacht worden sein! Der altfriesische Gnu z. B., wo die neue deutsche Reichskriegshafenstadt liegt, hieß UrioZkringis, nebenbei bemerkt fünfsilbig, jetzt heißt er Rustringer. Man spreche beide Wörter aus und vergleiche! Man vergleiche weiter loräa mit Furt, dorso mit Fürst,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/462>, abgerufen am 29.09.2024.