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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

Was aber diese Rebellion ganz besonders befördert, das ist--die Schule.
Wir geben nachstehend einen Auszug aus der vortrefflichen Abhandlung Funcks
über diesen Gegenstand (S. 262). Zwar spricht er nur von der Schule seines
Vaterlandes, aber was er sagt, paßt größtenteils auf die moderne Schule
überhaupt und geht uns Deutsche um so mehr an, als sich die französische
Unterrichtsverwaltung die deutschen Schuleinrichtungen vielfach zum Muster
genommen hat.

Unterrichten und erziehen ist zweierlei. Der öffentliche Unterricht befindet
sich in den Händen eines besondern Standes und kann daher vom Staate
geleitet werden, während die öffentliche Erziehung nichts andres ist als der
Kulturfortschritt der Völker, von deren Sitten und Gewohnheiten abhängt und
sich der Politik vollständig entzieht. Die Erziehung eines jeden kann nur von
seiner Familie und vou feinem Berufsstande besorgt werden, von der Um¬
gebung, in der er lebt; unterrichten kaun der erste beste. Gewiß kann auch
ein Schullehrer auf die Neigungen und Empfindungen seines Schülers Ein¬
fluß üben, aber zu glauben, daß er einen solchen Einfluß uns vierzig, sechzig
oder hundert Schüler üben könne, ist leere Einbildung, Das äußerste, was
die Regierung von ihm fordern kann, ist, daß er durch seine persönliche Hal¬
tung und seinen Wandel ein gutes Beispiel gebe; aber dieser Einfluß ver¬
schwindet unter den täglichen unmittelbaren Einwirkungen der Familienglieder
und Kameraden des Zöglings. Unsre Katechismen der bürgerlichen Moral
können so wenig wirkliche Moral lehren, als sie die schönen Empfindungen,
von denen sie reden, zu erzeugen vermögen. Man mag Worte wie Auf¬
opferung und Biederkeit mit so viel Kommentaren versehen, wie man will, sie
bleiben leere Worte, wenn nicht dauernde Anleitung durch die tägliche Um¬
gebung bewirkt, daß der Zögling diese Tugenden lebt. Weil uns die Formu-
lirung eines Moralgrundsatzes vorzüglich gelungen erscheint, so bilden wir
uns ein, wir brauchten den Kindern bloß den Satz einzuprägen, so hätten
wir ihnen damit schon die Tugend eingeprägt. Es giebt Menschen, die von
den edelsten Empfindungen beseelt sind, aber nicht eine einzige in Worten aus¬
zudrücken vermögen; das sind wirklich erzogene, wahrhaft gebildete Menschen.
Andre kennen alle Moralgrundsätze und find dabei jeder edeln Empfindung
bar; diese sind nicht allein schlecht erzogen, sondern verderbt. Sie benutzen
ihre Kenntnis der sittlichen Natur des Menschen dazu, die wirklich Sittlichen
auszubeuten. Außer einer schlechten Erziehung haben sie auch noch einen ab¬
scheulichen Unterricht genossen. Mit einem solchen Unterrichte erziehen wir
heutzutage ein Geschlecht von Sophisten, Politikern, Ränkeschmieden und Aus¬
beutern.

Und so wenig der Unterricht Empfindungen zu wecken vermag, die der
Schüler nicht von Natur hat, so wenig vermag er geistige Anlagen zu ent¬
wickeln, die den Menschen abgehen. Der Unterricht vermag wohl die Anlagen,


Zwei Bücher über Politik

Was aber diese Rebellion ganz besonders befördert, das ist—die Schule.
Wir geben nachstehend einen Auszug aus der vortrefflichen Abhandlung Funcks
über diesen Gegenstand (S. 262). Zwar spricht er nur von der Schule seines
Vaterlandes, aber was er sagt, paßt größtenteils auf die moderne Schule
überhaupt und geht uns Deutsche um so mehr an, als sich die französische
Unterrichtsverwaltung die deutschen Schuleinrichtungen vielfach zum Muster
genommen hat.

Unterrichten und erziehen ist zweierlei. Der öffentliche Unterricht befindet
sich in den Händen eines besondern Standes und kann daher vom Staate
geleitet werden, während die öffentliche Erziehung nichts andres ist als der
Kulturfortschritt der Völker, von deren Sitten und Gewohnheiten abhängt und
sich der Politik vollständig entzieht. Die Erziehung eines jeden kann nur von
seiner Familie und vou feinem Berufsstande besorgt werden, von der Um¬
gebung, in der er lebt; unterrichten kaun der erste beste. Gewiß kann auch
ein Schullehrer auf die Neigungen und Empfindungen seines Schülers Ein¬
fluß üben, aber zu glauben, daß er einen solchen Einfluß uns vierzig, sechzig
oder hundert Schüler üben könne, ist leere Einbildung, Das äußerste, was
die Regierung von ihm fordern kann, ist, daß er durch seine persönliche Hal¬
tung und seinen Wandel ein gutes Beispiel gebe; aber dieser Einfluß ver¬
schwindet unter den täglichen unmittelbaren Einwirkungen der Familienglieder
und Kameraden des Zöglings. Unsre Katechismen der bürgerlichen Moral
können so wenig wirkliche Moral lehren, als sie die schönen Empfindungen,
von denen sie reden, zu erzeugen vermögen. Man mag Worte wie Auf¬
opferung und Biederkeit mit so viel Kommentaren versehen, wie man will, sie
bleiben leere Worte, wenn nicht dauernde Anleitung durch die tägliche Um¬
gebung bewirkt, daß der Zögling diese Tugenden lebt. Weil uns die Formu-
lirung eines Moralgrundsatzes vorzüglich gelungen erscheint, so bilden wir
uns ein, wir brauchten den Kindern bloß den Satz einzuprägen, so hätten
wir ihnen damit schon die Tugend eingeprägt. Es giebt Menschen, die von
den edelsten Empfindungen beseelt sind, aber nicht eine einzige in Worten aus¬
zudrücken vermögen; das sind wirklich erzogene, wahrhaft gebildete Menschen.
Andre kennen alle Moralgrundsätze und find dabei jeder edeln Empfindung
bar; diese sind nicht allein schlecht erzogen, sondern verderbt. Sie benutzen
ihre Kenntnis der sittlichen Natur des Menschen dazu, die wirklich Sittlichen
auszubeuten. Außer einer schlechten Erziehung haben sie auch noch einen ab¬
scheulichen Unterricht genossen. Mit einem solchen Unterrichte erziehen wir
heutzutage ein Geschlecht von Sophisten, Politikern, Ränkeschmieden und Aus¬
beutern.

Und so wenig der Unterricht Empfindungen zu wecken vermag, die der
Schüler nicht von Natur hat, so wenig vermag er geistige Anlagen zu ent¬
wickeln, die den Menschen abgehen. Der Unterricht vermag wohl die Anlagen,


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[0455] Zwei Bücher über Politik Was aber diese Rebellion ganz besonders befördert, das ist—die Schule. Wir geben nachstehend einen Auszug aus der vortrefflichen Abhandlung Funcks über diesen Gegenstand (S. 262). Zwar spricht er nur von der Schule seines Vaterlandes, aber was er sagt, paßt größtenteils auf die moderne Schule überhaupt und geht uns Deutsche um so mehr an, als sich die französische Unterrichtsverwaltung die deutschen Schuleinrichtungen vielfach zum Muster genommen hat. Unterrichten und erziehen ist zweierlei. Der öffentliche Unterricht befindet sich in den Händen eines besondern Standes und kann daher vom Staate geleitet werden, während die öffentliche Erziehung nichts andres ist als der Kulturfortschritt der Völker, von deren Sitten und Gewohnheiten abhängt und sich der Politik vollständig entzieht. Die Erziehung eines jeden kann nur von seiner Familie und vou feinem Berufsstande besorgt werden, von der Um¬ gebung, in der er lebt; unterrichten kaun der erste beste. Gewiß kann auch ein Schullehrer auf die Neigungen und Empfindungen seines Schülers Ein¬ fluß üben, aber zu glauben, daß er einen solchen Einfluß uns vierzig, sechzig oder hundert Schüler üben könne, ist leere Einbildung, Das äußerste, was die Regierung von ihm fordern kann, ist, daß er durch seine persönliche Hal¬ tung und seinen Wandel ein gutes Beispiel gebe; aber dieser Einfluß ver¬ schwindet unter den täglichen unmittelbaren Einwirkungen der Familienglieder und Kameraden des Zöglings. Unsre Katechismen der bürgerlichen Moral können so wenig wirkliche Moral lehren, als sie die schönen Empfindungen, von denen sie reden, zu erzeugen vermögen. Man mag Worte wie Auf¬ opferung und Biederkeit mit so viel Kommentaren versehen, wie man will, sie bleiben leere Worte, wenn nicht dauernde Anleitung durch die tägliche Um¬ gebung bewirkt, daß der Zögling diese Tugenden lebt. Weil uns die Formu- lirung eines Moralgrundsatzes vorzüglich gelungen erscheint, so bilden wir uns ein, wir brauchten den Kindern bloß den Satz einzuprägen, so hätten wir ihnen damit schon die Tugend eingeprägt. Es giebt Menschen, die von den edelsten Empfindungen beseelt sind, aber nicht eine einzige in Worten aus¬ zudrücken vermögen; das sind wirklich erzogene, wahrhaft gebildete Menschen. Andre kennen alle Moralgrundsätze und find dabei jeder edeln Empfindung bar; diese sind nicht allein schlecht erzogen, sondern verderbt. Sie benutzen ihre Kenntnis der sittlichen Natur des Menschen dazu, die wirklich Sittlichen auszubeuten. Außer einer schlechten Erziehung haben sie auch noch einen ab¬ scheulichen Unterricht genossen. Mit einem solchen Unterrichte erziehen wir heutzutage ein Geschlecht von Sophisten, Politikern, Ränkeschmieden und Aus¬ beutern. Und so wenig der Unterricht Empfindungen zu wecken vermag, die der Schüler nicht von Natur hat, so wenig vermag er geistige Anlagen zu ent¬ wickeln, die den Menschen abgehen. Der Unterricht vermag wohl die Anlagen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/455>, abgerufen am 29.09.2024.