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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

die das Kind hat, zu entfalten, aber nicht ihm welche einzupfropfen, wenn es
keine hat; wie übertriebne Leibesübungen die gesündesten Glieder verrenken
können, so zerrütten die übertriebnen Übungen unsrer Schulen die begabtesten
Köpfe. Möchte man doch der Einbildung entsagen, daß wir durch Häufung
des Unterrichtsstoffs und der Prüfungen aus allen Knaben Genies machen
könnten! Ein Genie, das in der Schule nichts als lesen, schreiben und rechnen
gelernt hat, wird ein Pascal, und alle mögliche" Kenntnisse, die man einem
Dummkopf einbläut, andern nichts daran, daß er ein Dummkopf ist und bleibt.
Jede Kenntnis, die nicht im richtigen Verhältnis zu unsern Fähigkeiten steht,
wirkt nicht als Hebel, sondern nnr als Fessel unsrer geistigen Entwicklung.
Demnach wirken unsre Schulen verderblich von der niedrigsten bis zur höchsten
Stufe; nach zwanzigjähriger Absetzung des Schülers sind seine Ideen der¬
maßen zerhämmert, daß nnr noch Splitter davon übrig bleiben, und sein
Denkvermögen ist zum Stumpf verstümmelt. Der falsche Fortschritt macht das
ganze Volk so nervös wie den einzelnen; und wie bei diesen, so kann auch
beim Volke das Ende nur eine Gehirnlähmnng sein, die sich dnrch Größen¬
wahn ankündigt; jeder einzelne wird dazu gedrillt, sich für einen König, für
ein Genie, für unsern Herrgott zu halten.

Vierundneunzig Prozent unsrer Nvlksschüler sind Kinder von kleinen
Leuten und dazu verurteilt, selbst zeitlebens kleine und arme Leute zu bleiben.
Indem wir ihnen Naturwissenschaften, Geschichte und Geographie, Moral samt
Rechtskunde und Volkswirtschaft lehren, können wir damit weiter nichts er¬
reichen, als daß wir bei deu einen die Einbildungskraft überreizen und den
andern das Bedürfnis nach höherer Ausbildung einpflanzen. Da aber die
ungeheure Mehrheit zu einer mechanischen oft sehr unangenehmen Arbeit zeit¬
lebens verurteilt bleibt, so können die geweckten Bedürfnisse und Ansprüche
nicht befriedigt werden, und ihre Berufsarbeit erscheint ihnen unerträglich.
Zwar zur Unwissenheit und Unbildung früherer Zeiten dürfen wir nicht zurück¬
kehren, der Unterricht muß obligatorisch und allgemein bleiben, aber er muß
sich auf die Elemente und die Einführung ins wirkliche Leben beschränken und
sich den Bedürfnissen des zukünftigen Standes des Schülers anpassen, daher
nicht allein für Stadt und Land, sondern auch für die verschiednen Gegenden,
Z. V. für die Wein oder Getreide bauenden verschieden sein.

Der heutige Unterricht trügt ganz wesentlich dazu bei, das Kind seiner
häuslichen und natürlichen Umgebung, seinem zukünftigen Berufe zu entfremden,
die Armen vom Lande in die Stadt, in der Stadt aus dem niedern in einen
höhern Beruf zu locken, den Klemgewerbestand aufzulösen; gerade die Arbeiter
mit der besten Schulbildung sind die Führer in allen revolutionären Be¬
wegungen. Ja sogar das Bedürfnis nach einer Ernährungsweise, die der
Arme nicht erschwingen kann, erzieht man seinen Kindern an. Denn stramme
geistige Arbeit erfordert sehr stickstoffhaltige Nahrung; das Kind des Armen,


Zwei Bücher über Politik

die das Kind hat, zu entfalten, aber nicht ihm welche einzupfropfen, wenn es
keine hat; wie übertriebne Leibesübungen die gesündesten Glieder verrenken
können, so zerrütten die übertriebnen Übungen unsrer Schulen die begabtesten
Köpfe. Möchte man doch der Einbildung entsagen, daß wir durch Häufung
des Unterrichtsstoffs und der Prüfungen aus allen Knaben Genies machen
könnten! Ein Genie, das in der Schule nichts als lesen, schreiben und rechnen
gelernt hat, wird ein Pascal, und alle mögliche» Kenntnisse, die man einem
Dummkopf einbläut, andern nichts daran, daß er ein Dummkopf ist und bleibt.
Jede Kenntnis, die nicht im richtigen Verhältnis zu unsern Fähigkeiten steht,
wirkt nicht als Hebel, sondern nnr als Fessel unsrer geistigen Entwicklung.
Demnach wirken unsre Schulen verderblich von der niedrigsten bis zur höchsten
Stufe; nach zwanzigjähriger Absetzung des Schülers sind seine Ideen der¬
maßen zerhämmert, daß nnr noch Splitter davon übrig bleiben, und sein
Denkvermögen ist zum Stumpf verstümmelt. Der falsche Fortschritt macht das
ganze Volk so nervös wie den einzelnen; und wie bei diesen, so kann auch
beim Volke das Ende nur eine Gehirnlähmnng sein, die sich dnrch Größen¬
wahn ankündigt; jeder einzelne wird dazu gedrillt, sich für einen König, für
ein Genie, für unsern Herrgott zu halten.

Vierundneunzig Prozent unsrer Nvlksschüler sind Kinder von kleinen
Leuten und dazu verurteilt, selbst zeitlebens kleine und arme Leute zu bleiben.
Indem wir ihnen Naturwissenschaften, Geschichte und Geographie, Moral samt
Rechtskunde und Volkswirtschaft lehren, können wir damit weiter nichts er¬
reichen, als daß wir bei deu einen die Einbildungskraft überreizen und den
andern das Bedürfnis nach höherer Ausbildung einpflanzen. Da aber die
ungeheure Mehrheit zu einer mechanischen oft sehr unangenehmen Arbeit zeit¬
lebens verurteilt bleibt, so können die geweckten Bedürfnisse und Ansprüche
nicht befriedigt werden, und ihre Berufsarbeit erscheint ihnen unerträglich.
Zwar zur Unwissenheit und Unbildung früherer Zeiten dürfen wir nicht zurück¬
kehren, der Unterricht muß obligatorisch und allgemein bleiben, aber er muß
sich auf die Elemente und die Einführung ins wirkliche Leben beschränken und
sich den Bedürfnissen des zukünftigen Standes des Schülers anpassen, daher
nicht allein für Stadt und Land, sondern auch für die verschiednen Gegenden,
Z. V. für die Wein oder Getreide bauenden verschieden sein.

Der heutige Unterricht trügt ganz wesentlich dazu bei, das Kind seiner
häuslichen und natürlichen Umgebung, seinem zukünftigen Berufe zu entfremden,
die Armen vom Lande in die Stadt, in der Stadt aus dem niedern in einen
höhern Beruf zu locken, den Klemgewerbestand aufzulösen; gerade die Arbeiter
mit der besten Schulbildung sind die Führer in allen revolutionären Be¬
wegungen. Ja sogar das Bedürfnis nach einer Ernährungsweise, die der
Arme nicht erschwingen kann, erzieht man seinen Kindern an. Denn stramme
geistige Arbeit erfordert sehr stickstoffhaltige Nahrung; das Kind des Armen,


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[0456] Zwei Bücher über Politik die das Kind hat, zu entfalten, aber nicht ihm welche einzupfropfen, wenn es keine hat; wie übertriebne Leibesübungen die gesündesten Glieder verrenken können, so zerrütten die übertriebnen Übungen unsrer Schulen die begabtesten Köpfe. Möchte man doch der Einbildung entsagen, daß wir durch Häufung des Unterrichtsstoffs und der Prüfungen aus allen Knaben Genies machen könnten! Ein Genie, das in der Schule nichts als lesen, schreiben und rechnen gelernt hat, wird ein Pascal, und alle mögliche» Kenntnisse, die man einem Dummkopf einbläut, andern nichts daran, daß er ein Dummkopf ist und bleibt. Jede Kenntnis, die nicht im richtigen Verhältnis zu unsern Fähigkeiten steht, wirkt nicht als Hebel, sondern nnr als Fessel unsrer geistigen Entwicklung. Demnach wirken unsre Schulen verderblich von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe; nach zwanzigjähriger Absetzung des Schülers sind seine Ideen der¬ maßen zerhämmert, daß nnr noch Splitter davon übrig bleiben, und sein Denkvermögen ist zum Stumpf verstümmelt. Der falsche Fortschritt macht das ganze Volk so nervös wie den einzelnen; und wie bei diesen, so kann auch beim Volke das Ende nur eine Gehirnlähmnng sein, die sich dnrch Größen¬ wahn ankündigt; jeder einzelne wird dazu gedrillt, sich für einen König, für ein Genie, für unsern Herrgott zu halten. Vierundneunzig Prozent unsrer Nvlksschüler sind Kinder von kleinen Leuten und dazu verurteilt, selbst zeitlebens kleine und arme Leute zu bleiben. Indem wir ihnen Naturwissenschaften, Geschichte und Geographie, Moral samt Rechtskunde und Volkswirtschaft lehren, können wir damit weiter nichts er¬ reichen, als daß wir bei deu einen die Einbildungskraft überreizen und den andern das Bedürfnis nach höherer Ausbildung einpflanzen. Da aber die ungeheure Mehrheit zu einer mechanischen oft sehr unangenehmen Arbeit zeit¬ lebens verurteilt bleibt, so können die geweckten Bedürfnisse und Ansprüche nicht befriedigt werden, und ihre Berufsarbeit erscheint ihnen unerträglich. Zwar zur Unwissenheit und Unbildung früherer Zeiten dürfen wir nicht zurück¬ kehren, der Unterricht muß obligatorisch und allgemein bleiben, aber er muß sich auf die Elemente und die Einführung ins wirkliche Leben beschränken und sich den Bedürfnissen des zukünftigen Standes des Schülers anpassen, daher nicht allein für Stadt und Land, sondern auch für die verschiednen Gegenden, Z. V. für die Wein oder Getreide bauenden verschieden sein. Der heutige Unterricht trügt ganz wesentlich dazu bei, das Kind seiner häuslichen und natürlichen Umgebung, seinem zukünftigen Berufe zu entfremden, die Armen vom Lande in die Stadt, in der Stadt aus dem niedern in einen höhern Beruf zu locken, den Klemgewerbestand aufzulösen; gerade die Arbeiter mit der besten Schulbildung sind die Führer in allen revolutionären Be¬ wegungen. Ja sogar das Bedürfnis nach einer Ernährungsweise, die der Arme nicht erschwingen kann, erzieht man seinen Kindern an. Denn stramme geistige Arbeit erfordert sehr stickstoffhaltige Nahrung; das Kind des Armen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/456>, abgerufen am 29.09.2024.