Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwei Bücher über Politik

Lehrling vererbt. Verliert sich die Tradition aus dem Schoß der Familien, so
geschieht es auf Kosten des Volkscharakters, und mit dem Ende der Lehrling¬
schaft versiegt die Lebenskraft des Handwerks. Ja die Tradition kann schon
in einem einzigen Gewerbe nicht abreißen, ohne daß auch die übrigen Gewerbe
von der Zersetzung ergriffen wurden; das ist eine verhängnisvolle Wirkung
der Solidarität zwischen den einzelnen Gliedern des sozialen Leibes. (S. 181.)

Demnach ist die ganze moderne Sozialpolitik nur Kurpfuscherei, und eine
recht schädliche dazu. Was soll, fragt Funck, die Beschränkung der Arbeits¬
zeit für einen Sinn haben? Wenn der Staat gewisse Vergnügungen verbietet,
so läßt sich das unter Umständen rechtfertigen; aber wie kann man irgend
jemand die Arbeit verbieten? Kriechen Kinder etwa zum Vergnügen in einen
Kohlenschacht, oder arbeiten Frauen und Mädchen zum Vergnügen die Nacht
hindurch in der Fabrik? Will ihnen der Staat die Arbeit verbieten, so muß
er ihnen den Unterhalt gewähren, den sie sich dnrch ihre Arbeit verdienen.
Die übrigen Gesetze aber, z. B. die Verficheruugsgesetze, haben weiter keinen
Erfolg, als daß sie den Gegensatz von reich und arm allen erst recht zum
Bewußtsein bringen und den Krieg beider Parteien gegen einander förmlich
organisiren. Die Zwangsversicherung steigert den Haß auf beiden Seiten;
den der Armen, weil das, was gewährt werden kann, hinter den wach gerufnen
Ansprüchen weit zurückbleibt, den der Reichen, weil sie es als eine Ungerechtig¬
keit empfinden, für wildfremde Menschen bezahlen zu müssen, die sie uicht kennen,
die sie nichts angehen, und gegen die sie keine Verpflichtung fühlen. Nicht
anders verhält es sich mit der Koalitionsfreiheit; das Endergebnis der eng¬
lischen Gewerkvereinsentwicklung ist ein wohlorganisirter Krieg zwischen den
beide" Klassen der Unternehmer und der Arbeiter, die einander mit unversöhn¬
lichem Hasse gegenüber stehen. Demnach bleibt die Auflösung dieser neuen
Klassen und die Wiederherstellung des Kleingewerbes die einzige Lösung der
sozialen Frage; sollte diese uicht möglich sein, dann giebt es keine. Bei der
fortschreitenden Zerstörung der Mittelklassen kommt noch folgender Umstand in
Betracht. Bestünde die Fabrikarbeiterschaft nur aus Leuten, die nichts besseres
kennen, und die sich nur zu untergeordneten und einförmigen Arbeiten eignen,
dann würde sie, wenn auch vielleicht hie und da aus Not unzufrieden, so doch
nicht grundsätzlich rebellisch sein. Aber in sie strömen fortwährend die Deklas-
sirten ein, die der Zerstörungsprozeß des Mittelstandes von einer höhern Stufe
hinabwirft, und die von Haus aus Ansprüche auf besseres macheu. Ferner,
auch das ist noch zu erwägen, giebt es sowohl unter den aus dem Bürger¬
stande wie unter den aus dem Proletariat stammenden Arbeitern solche, die
zu einer höhern Art von Arbeit befähigt sind oder wenigstens zu sein glauben,
und diese sind notwendigerweise unzufrieden. Von diesen beiden Klassen wird
dann auch die zuerst genannte Klasse rebellisch gemacht, die es von selbst nicht
geworden sein würde.


Zwei Bücher über Politik

Lehrling vererbt. Verliert sich die Tradition aus dem Schoß der Familien, so
geschieht es auf Kosten des Volkscharakters, und mit dem Ende der Lehrling¬
schaft versiegt die Lebenskraft des Handwerks. Ja die Tradition kann schon
in einem einzigen Gewerbe nicht abreißen, ohne daß auch die übrigen Gewerbe
von der Zersetzung ergriffen wurden; das ist eine verhängnisvolle Wirkung
der Solidarität zwischen den einzelnen Gliedern des sozialen Leibes. (S. 181.)

Demnach ist die ganze moderne Sozialpolitik nur Kurpfuscherei, und eine
recht schädliche dazu. Was soll, fragt Funck, die Beschränkung der Arbeits¬
zeit für einen Sinn haben? Wenn der Staat gewisse Vergnügungen verbietet,
so läßt sich das unter Umständen rechtfertigen; aber wie kann man irgend
jemand die Arbeit verbieten? Kriechen Kinder etwa zum Vergnügen in einen
Kohlenschacht, oder arbeiten Frauen und Mädchen zum Vergnügen die Nacht
hindurch in der Fabrik? Will ihnen der Staat die Arbeit verbieten, so muß
er ihnen den Unterhalt gewähren, den sie sich dnrch ihre Arbeit verdienen.
Die übrigen Gesetze aber, z. B. die Verficheruugsgesetze, haben weiter keinen
Erfolg, als daß sie den Gegensatz von reich und arm allen erst recht zum
Bewußtsein bringen und den Krieg beider Parteien gegen einander förmlich
organisiren. Die Zwangsversicherung steigert den Haß auf beiden Seiten;
den der Armen, weil das, was gewährt werden kann, hinter den wach gerufnen
Ansprüchen weit zurückbleibt, den der Reichen, weil sie es als eine Ungerechtig¬
keit empfinden, für wildfremde Menschen bezahlen zu müssen, die sie uicht kennen,
die sie nichts angehen, und gegen die sie keine Verpflichtung fühlen. Nicht
anders verhält es sich mit der Koalitionsfreiheit; das Endergebnis der eng¬
lischen Gewerkvereinsentwicklung ist ein wohlorganisirter Krieg zwischen den
beide» Klassen der Unternehmer und der Arbeiter, die einander mit unversöhn¬
lichem Hasse gegenüber stehen. Demnach bleibt die Auflösung dieser neuen
Klassen und die Wiederherstellung des Kleingewerbes die einzige Lösung der
sozialen Frage; sollte diese uicht möglich sein, dann giebt es keine. Bei der
fortschreitenden Zerstörung der Mittelklassen kommt noch folgender Umstand in
Betracht. Bestünde die Fabrikarbeiterschaft nur aus Leuten, die nichts besseres
kennen, und die sich nur zu untergeordneten und einförmigen Arbeiten eignen,
dann würde sie, wenn auch vielleicht hie und da aus Not unzufrieden, so doch
nicht grundsätzlich rebellisch sein. Aber in sie strömen fortwährend die Deklas-
sirten ein, die der Zerstörungsprozeß des Mittelstandes von einer höhern Stufe
hinabwirft, und die von Haus aus Ansprüche auf besseres macheu. Ferner,
auch das ist noch zu erwägen, giebt es sowohl unter den aus dem Bürger¬
stande wie unter den aus dem Proletariat stammenden Arbeitern solche, die
zu einer höhern Art von Arbeit befähigt sind oder wenigstens zu sein glauben,
und diese sind notwendigerweise unzufrieden. Von diesen beiden Klassen wird
dann auch die zuerst genannte Klasse rebellisch gemacht, die es von selbst nicht
geworden sein würde.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0454" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214909"/>
          <fw type="header" place="top"> Zwei Bücher über Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1781" prev="#ID_1780"> Lehrling vererbt. Verliert sich die Tradition aus dem Schoß der Familien, so<lb/>
geschieht es auf Kosten des Volkscharakters, und mit dem Ende der Lehrling¬<lb/>
schaft versiegt die Lebenskraft des Handwerks. Ja die Tradition kann schon<lb/>
in einem einzigen Gewerbe nicht abreißen, ohne daß auch die übrigen Gewerbe<lb/>
von der Zersetzung ergriffen wurden; das ist eine verhängnisvolle Wirkung<lb/>
der Solidarität zwischen den einzelnen Gliedern des sozialen Leibes. (S. 181.)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1782"> Demnach ist die ganze moderne Sozialpolitik nur Kurpfuscherei, und eine<lb/>
recht schädliche dazu. Was soll, fragt Funck, die Beschränkung der Arbeits¬<lb/>
zeit für einen Sinn haben? Wenn der Staat gewisse Vergnügungen verbietet,<lb/>
so läßt sich das unter Umständen rechtfertigen; aber wie kann man irgend<lb/>
jemand die Arbeit verbieten? Kriechen Kinder etwa zum Vergnügen in einen<lb/>
Kohlenschacht, oder arbeiten Frauen und Mädchen zum Vergnügen die Nacht<lb/>
hindurch in der Fabrik? Will ihnen der Staat die Arbeit verbieten, so muß<lb/>
er ihnen den Unterhalt gewähren, den sie sich dnrch ihre Arbeit verdienen.<lb/>
Die übrigen Gesetze aber, z. B. die Verficheruugsgesetze, haben weiter keinen<lb/>
Erfolg, als daß sie den Gegensatz von reich und arm allen erst recht zum<lb/>
Bewußtsein bringen und den Krieg beider Parteien gegen einander förmlich<lb/>
organisiren. Die Zwangsversicherung steigert den Haß auf beiden Seiten;<lb/>
den der Armen, weil das, was gewährt werden kann, hinter den wach gerufnen<lb/>
Ansprüchen weit zurückbleibt, den der Reichen, weil sie es als eine Ungerechtig¬<lb/>
keit empfinden, für wildfremde Menschen bezahlen zu müssen, die sie uicht kennen,<lb/>
die sie nichts angehen, und gegen die sie keine Verpflichtung fühlen. Nicht<lb/>
anders verhält es sich mit der Koalitionsfreiheit; das Endergebnis der eng¬<lb/>
lischen Gewerkvereinsentwicklung ist ein wohlorganisirter Krieg zwischen den<lb/>
beide» Klassen der Unternehmer und der Arbeiter, die einander mit unversöhn¬<lb/>
lichem Hasse gegenüber stehen. Demnach bleibt die Auflösung dieser neuen<lb/>
Klassen und die Wiederherstellung des Kleingewerbes die einzige Lösung der<lb/>
sozialen Frage; sollte diese uicht möglich sein, dann giebt es keine. Bei der<lb/>
fortschreitenden Zerstörung der Mittelklassen kommt noch folgender Umstand in<lb/>
Betracht. Bestünde die Fabrikarbeiterschaft nur aus Leuten, die nichts besseres<lb/>
kennen, und die sich nur zu untergeordneten und einförmigen Arbeiten eignen,<lb/>
dann würde sie, wenn auch vielleicht hie und da aus Not unzufrieden, so doch<lb/>
nicht grundsätzlich rebellisch sein. Aber in sie strömen fortwährend die Deklas-<lb/>
sirten ein, die der Zerstörungsprozeß des Mittelstandes von einer höhern Stufe<lb/>
hinabwirft, und die von Haus aus Ansprüche auf besseres macheu. Ferner,<lb/>
auch das ist noch zu erwägen, giebt es sowohl unter den aus dem Bürger¬<lb/>
stande wie unter den aus dem Proletariat stammenden Arbeitern solche, die<lb/>
zu einer höhern Art von Arbeit befähigt sind oder wenigstens zu sein glauben,<lb/>
und diese sind notwendigerweise unzufrieden. Von diesen beiden Klassen wird<lb/>
dann auch die zuerst genannte Klasse rebellisch gemacht, die es von selbst nicht<lb/>
geworden sein würde.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0454] Zwei Bücher über Politik Lehrling vererbt. Verliert sich die Tradition aus dem Schoß der Familien, so geschieht es auf Kosten des Volkscharakters, und mit dem Ende der Lehrling¬ schaft versiegt die Lebenskraft des Handwerks. Ja die Tradition kann schon in einem einzigen Gewerbe nicht abreißen, ohne daß auch die übrigen Gewerbe von der Zersetzung ergriffen wurden; das ist eine verhängnisvolle Wirkung der Solidarität zwischen den einzelnen Gliedern des sozialen Leibes. (S. 181.) Demnach ist die ganze moderne Sozialpolitik nur Kurpfuscherei, und eine recht schädliche dazu. Was soll, fragt Funck, die Beschränkung der Arbeits¬ zeit für einen Sinn haben? Wenn der Staat gewisse Vergnügungen verbietet, so läßt sich das unter Umständen rechtfertigen; aber wie kann man irgend jemand die Arbeit verbieten? Kriechen Kinder etwa zum Vergnügen in einen Kohlenschacht, oder arbeiten Frauen und Mädchen zum Vergnügen die Nacht hindurch in der Fabrik? Will ihnen der Staat die Arbeit verbieten, so muß er ihnen den Unterhalt gewähren, den sie sich dnrch ihre Arbeit verdienen. Die übrigen Gesetze aber, z. B. die Verficheruugsgesetze, haben weiter keinen Erfolg, als daß sie den Gegensatz von reich und arm allen erst recht zum Bewußtsein bringen und den Krieg beider Parteien gegen einander förmlich organisiren. Die Zwangsversicherung steigert den Haß auf beiden Seiten; den der Armen, weil das, was gewährt werden kann, hinter den wach gerufnen Ansprüchen weit zurückbleibt, den der Reichen, weil sie es als eine Ungerechtig¬ keit empfinden, für wildfremde Menschen bezahlen zu müssen, die sie uicht kennen, die sie nichts angehen, und gegen die sie keine Verpflichtung fühlen. Nicht anders verhält es sich mit der Koalitionsfreiheit; das Endergebnis der eng¬ lischen Gewerkvereinsentwicklung ist ein wohlorganisirter Krieg zwischen den beide» Klassen der Unternehmer und der Arbeiter, die einander mit unversöhn¬ lichem Hasse gegenüber stehen. Demnach bleibt die Auflösung dieser neuen Klassen und die Wiederherstellung des Kleingewerbes die einzige Lösung der sozialen Frage; sollte diese uicht möglich sein, dann giebt es keine. Bei der fortschreitenden Zerstörung der Mittelklassen kommt noch folgender Umstand in Betracht. Bestünde die Fabrikarbeiterschaft nur aus Leuten, die nichts besseres kennen, und die sich nur zu untergeordneten und einförmigen Arbeiten eignen, dann würde sie, wenn auch vielleicht hie und da aus Not unzufrieden, so doch nicht grundsätzlich rebellisch sein. Aber in sie strömen fortwährend die Deklas- sirten ein, die der Zerstörungsprozeß des Mittelstandes von einer höhern Stufe hinabwirft, und die von Haus aus Ansprüche auf besseres macheu. Ferner, auch das ist noch zu erwägen, giebt es sowohl unter den aus dem Bürger¬ stande wie unter den aus dem Proletariat stammenden Arbeitern solche, die zu einer höhern Art von Arbeit befähigt sind oder wenigstens zu sein glauben, und diese sind notwendigerweise unzufrieden. Von diesen beiden Klassen wird dann auch die zuerst genannte Klasse rebellisch gemacht, die es von selbst nicht geworden sein würde.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/454
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/454>, abgerufen am 29.09.2024.