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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

Annäherung an die Gütergemeinschaft soll von der Liebe der Reichen aus¬
gehen, nicht von dem Hasse der Armen. Wenn alle Menschen wahre Christen
waren, dann könnte die Gütergemeinschaft ohne Gefahr bestehen; dann würde
freilich auch das Privateigentum keine Schattenseite mehr haben. In der Wirk¬
lichkeit halte ich es leider für sehr denkbar, daß uns die Zukunft noch be¬
deutende Annäherungen an die Pläne des heutigen Sozialismus bringen
möchte, vielleicht noch mehr auf eäsaristischem als auf ochlokratischem Wege:
durch eine sehr gesteigerte Besteuerung, Polizei, Zentralisirung, überhaupt
Annäherung an die Staatsallmacht im Innern. Gehen aber diese Entwick¬
lungen vor sich, ohne daß gleichzeitig eine großartige Reform des religiösen
und sittlichen Volkslebens den Gemeinsinn verstärkt und veredelt hat, so würde
ich eben sie für die vornehmsten ^ Ursachen, Wirkungen, Symptome des Ver¬
falls der neuern.Völker halten." Bei dem letzten Satze erstreckt sich unsre Bei¬
stimmung nur auf die Hälfte. Kann denn von Religion, Sittlichkeit und Ge¬
meinsinn überhaupt noch die Rede sein, wo lauter Zwang und nichts als
Zwang herrscht? Und beruht denn dieser Verfall nicht vielmehr auf äußern
Verhältnissen, die sich vielleicht ändern lassen, als auf einer Entartung der
Menschennatur? Giebt es nicht überall auch heute noch kreuzbrave, thatkräftige,
einsichtige, zu allem Guten willige Menschen? Und würde es nicht zu den
Aufgaben des im übrigen so vortrefflichen und so inhaltsreichen Buches ge¬
hört haben, die Mittel und Wege zu einer solchen Änderung wenigstens an¬
zudeuten ?

Der Franzose, der seinem Namen zu schließen deutschen Ursprungs ist,
verfolgt in seinem Buche*) einen unmittelbar praktischen Zweck. Er kritisirt
den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Zustand Europas mit be¬
sondrer Rücksicht auf Frankreich, weist seine UnHaltbarkeit nach und giebt die
Heilmittel an. Die gewöhnlichen politischen Streitfragen behandelt er als
Nichtigkeiten mit Verachtung. "Wir fahren fort, uns für Wahlangelegenheiten,
für Unterrichtsfreiheit, über die Beziehungen zwischen Kirche und Staat,
über die Formen der höchsten Gewalt zu erhitzen, als ob sich seit 1840 gar
nichts ereignet hätte in Europa. Politik eines verstorbnen Geschlechts (xoli-
tiauö ä'out,rö-t0ends), deren Gespenst die Einfältigen schreckt, während sich die
Schlauen seiner bedienen, diese zu leiten." "S. 209.)

In der Einleitung entwickelt er seine politische Grundansicht. "Zwei
Lehren teilen sich in die Herrschaft der Geister. Nach der einen haben die
Menschen mit Freiheit über ihre Einrichtungen zu entscheiden und ihre Ober¬
häupter zu wühlen, nach der andern ist es lediglich das Übergewicht der
Gewalt, das beides bestimmt. Die Bewundrer des Absolutismus unterscheiden



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prot'egZvur ü, l'öoolo lidrs do8 seisoc-os xoliti^usg. ?ari8, ^.rtiuir Roussss,u, 1892.
Zwei Bücher über Politik

Annäherung an die Gütergemeinschaft soll von der Liebe der Reichen aus¬
gehen, nicht von dem Hasse der Armen. Wenn alle Menschen wahre Christen
waren, dann könnte die Gütergemeinschaft ohne Gefahr bestehen; dann würde
freilich auch das Privateigentum keine Schattenseite mehr haben. In der Wirk¬
lichkeit halte ich es leider für sehr denkbar, daß uns die Zukunft noch be¬
deutende Annäherungen an die Pläne des heutigen Sozialismus bringen
möchte, vielleicht noch mehr auf eäsaristischem als auf ochlokratischem Wege:
durch eine sehr gesteigerte Besteuerung, Polizei, Zentralisirung, überhaupt
Annäherung an die Staatsallmacht im Innern. Gehen aber diese Entwick¬
lungen vor sich, ohne daß gleichzeitig eine großartige Reform des religiösen
und sittlichen Volkslebens den Gemeinsinn verstärkt und veredelt hat, so würde
ich eben sie für die vornehmsten ^ Ursachen, Wirkungen, Symptome des Ver¬
falls der neuern.Völker halten." Bei dem letzten Satze erstreckt sich unsre Bei¬
stimmung nur auf die Hälfte. Kann denn von Religion, Sittlichkeit und Ge¬
meinsinn überhaupt noch die Rede sein, wo lauter Zwang und nichts als
Zwang herrscht? Und beruht denn dieser Verfall nicht vielmehr auf äußern
Verhältnissen, die sich vielleicht ändern lassen, als auf einer Entartung der
Menschennatur? Giebt es nicht überall auch heute noch kreuzbrave, thatkräftige,
einsichtige, zu allem Guten willige Menschen? Und würde es nicht zu den
Aufgaben des im übrigen so vortrefflichen und so inhaltsreichen Buches ge¬
hört haben, die Mittel und Wege zu einer solchen Änderung wenigstens an¬
zudeuten ?

Der Franzose, der seinem Namen zu schließen deutschen Ursprungs ist,
verfolgt in seinem Buche*) einen unmittelbar praktischen Zweck. Er kritisirt
den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Zustand Europas mit be¬
sondrer Rücksicht auf Frankreich, weist seine UnHaltbarkeit nach und giebt die
Heilmittel an. Die gewöhnlichen politischen Streitfragen behandelt er als
Nichtigkeiten mit Verachtung. „Wir fahren fort, uns für Wahlangelegenheiten,
für Unterrichtsfreiheit, über die Beziehungen zwischen Kirche und Staat,
über die Formen der höchsten Gewalt zu erhitzen, als ob sich seit 1840 gar
nichts ereignet hätte in Europa. Politik eines verstorbnen Geschlechts (xoli-
tiauö ä'out,rö-t0ends), deren Gespenst die Einfältigen schreckt, während sich die
Schlauen seiner bedienen, diese zu leiten." «S. 209.)

In der Einleitung entwickelt er seine politische Grundansicht. „Zwei
Lehren teilen sich in die Herrschaft der Geister. Nach der einen haben die
Menschen mit Freiheit über ihre Einrichtungen zu entscheiden und ihre Ober¬
häupter zu wühlen, nach der andern ist es lediglich das Übergewicht der
Gewalt, das beides bestimmt. Die Bewundrer des Absolutismus unterscheiden



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[0449] Zwei Bücher über Politik Annäherung an die Gütergemeinschaft soll von der Liebe der Reichen aus¬ gehen, nicht von dem Hasse der Armen. Wenn alle Menschen wahre Christen waren, dann könnte die Gütergemeinschaft ohne Gefahr bestehen; dann würde freilich auch das Privateigentum keine Schattenseite mehr haben. In der Wirk¬ lichkeit halte ich es leider für sehr denkbar, daß uns die Zukunft noch be¬ deutende Annäherungen an die Pläne des heutigen Sozialismus bringen möchte, vielleicht noch mehr auf eäsaristischem als auf ochlokratischem Wege: durch eine sehr gesteigerte Besteuerung, Polizei, Zentralisirung, überhaupt Annäherung an die Staatsallmacht im Innern. Gehen aber diese Entwick¬ lungen vor sich, ohne daß gleichzeitig eine großartige Reform des religiösen und sittlichen Volkslebens den Gemeinsinn verstärkt und veredelt hat, so würde ich eben sie für die vornehmsten ^ Ursachen, Wirkungen, Symptome des Ver¬ falls der neuern.Völker halten." Bei dem letzten Satze erstreckt sich unsre Bei¬ stimmung nur auf die Hälfte. Kann denn von Religion, Sittlichkeit und Ge¬ meinsinn überhaupt noch die Rede sein, wo lauter Zwang und nichts als Zwang herrscht? Und beruht denn dieser Verfall nicht vielmehr auf äußern Verhältnissen, die sich vielleicht ändern lassen, als auf einer Entartung der Menschennatur? Giebt es nicht überall auch heute noch kreuzbrave, thatkräftige, einsichtige, zu allem Guten willige Menschen? Und würde es nicht zu den Aufgaben des im übrigen so vortrefflichen und so inhaltsreichen Buches ge¬ hört haben, die Mittel und Wege zu einer solchen Änderung wenigstens an¬ zudeuten ? Der Franzose, der seinem Namen zu schließen deutschen Ursprungs ist, verfolgt in seinem Buche*) einen unmittelbar praktischen Zweck. Er kritisirt den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Zustand Europas mit be¬ sondrer Rücksicht auf Frankreich, weist seine UnHaltbarkeit nach und giebt die Heilmittel an. Die gewöhnlichen politischen Streitfragen behandelt er als Nichtigkeiten mit Verachtung. „Wir fahren fort, uns für Wahlangelegenheiten, für Unterrichtsfreiheit, über die Beziehungen zwischen Kirche und Staat, über die Formen der höchsten Gewalt zu erhitzen, als ob sich seit 1840 gar nichts ereignet hätte in Europa. Politik eines verstorbnen Geschlechts (xoli- tiauö ä'out,rö-t0ends), deren Gespenst die Einfältigen schreckt, während sich die Schlauen seiner bedienen, diese zu leiten." «S. 209.) In der Einleitung entwickelt er seine politische Grundansicht. „Zwei Lehren teilen sich in die Herrschaft der Geister. Nach der einen haben die Menschen mit Freiheit über ihre Einrichtungen zu entscheiden und ihre Ober¬ häupter zu wühlen, nach der andern ist es lediglich das Übergewicht der Gewalt, das beides bestimmt. Die Bewundrer des Absolutismus unterscheiden !,!>, ?o1itiqus. ?rinoi^Sö, vritiguss, L/ckorrllvs xar 1K. ?unoK-Li'SQtg,no, prot'egZvur ü, l'öoolo lidrs do8 seisoc-os xoliti^usg. ?ari8, ^.rtiuir Roussss,u, 1892.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/449>, abgerufen am 29.09.2024.