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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Bücher über Politik

Schnitter, beschäftigt. Diese Leute konnten ihre furchtbar schlechte Behandlung
nicht mehr länger ertragen, denn sie werden viehisch gemißhandelt; sie be¬
schlossen daher allesammen, zu fliehen, und führten dieses Vorhaben am Sonn¬
abend aus, indem sie mit einem Zuge uach Berlin kamen, um hier Schutz zu
suchen. Kaum wurde aber auf dem Gute die Flucht entdeckt, als ihnen sofort
ein Telegramm hierher nachging, in dem der Kriminalpolizei aufgegeben wurde,
die Flüchtlinge anzuhalten und zu verhaften. Es wurden sofort zwei grüne
Wagen nach dem Bahnhof geschickt, und beim Eintreffen des Zuges, mit dem
die Entflohenen ankamen, wurden sie samt und sonders als Gefangne nach
dem Polizeipräsidium gebracht. Dieser Augenblick soll herzergreifend gewesen
sein; die Leute verstehen kein Wort deutsch, und kein Dolmetscher war zu¬
gegen, der ihnen hätte zur Seite stehen können; dabei zeigten sie ihre blau
und braun geschlagner, mit fingerdicken Striemen bedeckten Körperteile." Was
haben diese Leute für Hoffnung? Gar keine! Man lasse ihnen also ihre
geistige Hornhaut, daß sie nicht erst Dummheiten machen und fliehen, sondern
sich widerstandslos die körperliche anPrügeln lassen. Rvschers Ansicht ist richtig
für die Völker im allgemeinen; das russische Volk kann sich niemals aus eigner
Kraft zur Kultur erheben, weil es inwendig und auswendig mit Hornhaut
und Schmutzkruste überzogen ist. Aber sie gilt nicht für die unterdrückten
Klassen in zivilisirten Staaten, solange die herrschenden Klassen samt dem
ihnen verbündeten Staate den Willen haben, diese im Zustande der Unter¬
drückung festzuhalten. Hier ist das Abziehen der Schwielenhaut durch Schul¬
bildung und Lektüre nicht allein ganz zweckwidrig, sondern zugleich eine solche
Grausamkeit, wie wenn ein böser Zauberer dem Stück Eisen, das er mit Feuer
und Schmiedehammer bearbeitet, Empfindung einhauchen wollte.^) Auch daß
Röscher die Bevölkerungsfrage, die für die Geschicke der Mittel- und west¬
europäischen Staaten über kurz oder lang verhängnisvoll werden muß, nicht
besonders behandelt, erscheint uns als ein Mangel. Daß er ihre Bedeutung
gar wohl kennt und würdigt, wissen wir nicht allein aus seinem großen
Werke, sondern es geht auch aus gelegentlichen Äußerungen im vorliegenden
Buche hervor. So rügt er es, daß die Arbeiter Kinder zeugen, ehe sie deren
Unterhalt gesichert haben, und wendet sich gegen die phantastische Vorstellung
des Amerikaners Henry George, wenn man nur seine Vorschlüge annähme,
dann werde die Erde eine ungemessene Zahl von Menschen ernähren können.

Ganz und gar stimmen wir den Sätzen bei, mit denen Röscher auf
S. 56" seine Kritik des Sozialismus und Kommunismus beschließt. "Die



Eine Frage an die Altertumskundigen: Ist aus Bildern oder schriftlichen Nachrichten
zu ersehen, daß römische Sklavinnen bei der Arbeit von den Aufsehern geprügelt worden
wären? Viele römische Damen haben allerdings ihre Sklavinnen grausam behandelt, aber
dafür, daß Frauen und Mädchen von Männern geprügelt worden wären, kennt der Verfasser
dieses Aufsatzes kein Beispiel.
Zwei Bücher über Politik

Schnitter, beschäftigt. Diese Leute konnten ihre furchtbar schlechte Behandlung
nicht mehr länger ertragen, denn sie werden viehisch gemißhandelt; sie be¬
schlossen daher allesammen, zu fliehen, und führten dieses Vorhaben am Sonn¬
abend aus, indem sie mit einem Zuge uach Berlin kamen, um hier Schutz zu
suchen. Kaum wurde aber auf dem Gute die Flucht entdeckt, als ihnen sofort
ein Telegramm hierher nachging, in dem der Kriminalpolizei aufgegeben wurde,
die Flüchtlinge anzuhalten und zu verhaften. Es wurden sofort zwei grüne
Wagen nach dem Bahnhof geschickt, und beim Eintreffen des Zuges, mit dem
die Entflohenen ankamen, wurden sie samt und sonders als Gefangne nach
dem Polizeipräsidium gebracht. Dieser Augenblick soll herzergreifend gewesen
sein; die Leute verstehen kein Wort deutsch, und kein Dolmetscher war zu¬
gegen, der ihnen hätte zur Seite stehen können; dabei zeigten sie ihre blau
und braun geschlagner, mit fingerdicken Striemen bedeckten Körperteile." Was
haben diese Leute für Hoffnung? Gar keine! Man lasse ihnen also ihre
geistige Hornhaut, daß sie nicht erst Dummheiten machen und fliehen, sondern
sich widerstandslos die körperliche anPrügeln lassen. Rvschers Ansicht ist richtig
für die Völker im allgemeinen; das russische Volk kann sich niemals aus eigner
Kraft zur Kultur erheben, weil es inwendig und auswendig mit Hornhaut
und Schmutzkruste überzogen ist. Aber sie gilt nicht für die unterdrückten
Klassen in zivilisirten Staaten, solange die herrschenden Klassen samt dem
ihnen verbündeten Staate den Willen haben, diese im Zustande der Unter¬
drückung festzuhalten. Hier ist das Abziehen der Schwielenhaut durch Schul¬
bildung und Lektüre nicht allein ganz zweckwidrig, sondern zugleich eine solche
Grausamkeit, wie wenn ein böser Zauberer dem Stück Eisen, das er mit Feuer
und Schmiedehammer bearbeitet, Empfindung einhauchen wollte.^) Auch daß
Röscher die Bevölkerungsfrage, die für die Geschicke der Mittel- und west¬
europäischen Staaten über kurz oder lang verhängnisvoll werden muß, nicht
besonders behandelt, erscheint uns als ein Mangel. Daß er ihre Bedeutung
gar wohl kennt und würdigt, wissen wir nicht allein aus seinem großen
Werke, sondern es geht auch aus gelegentlichen Äußerungen im vorliegenden
Buche hervor. So rügt er es, daß die Arbeiter Kinder zeugen, ehe sie deren
Unterhalt gesichert haben, und wendet sich gegen die phantastische Vorstellung
des Amerikaners Henry George, wenn man nur seine Vorschlüge annähme,
dann werde die Erde eine ungemessene Zahl von Menschen ernähren können.

Ganz und gar stimmen wir den Sätzen bei, mit denen Röscher auf
S. 56« seine Kritik des Sozialismus und Kommunismus beschließt. „Die



Eine Frage an die Altertumskundigen: Ist aus Bildern oder schriftlichen Nachrichten
zu ersehen, daß römische Sklavinnen bei der Arbeit von den Aufsehern geprügelt worden
wären? Viele römische Damen haben allerdings ihre Sklavinnen grausam behandelt, aber
dafür, daß Frauen und Mädchen von Männern geprügelt worden wären, kennt der Verfasser
dieses Aufsatzes kein Beispiel.
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[0448] Zwei Bücher über Politik Schnitter, beschäftigt. Diese Leute konnten ihre furchtbar schlechte Behandlung nicht mehr länger ertragen, denn sie werden viehisch gemißhandelt; sie be¬ schlossen daher allesammen, zu fliehen, und führten dieses Vorhaben am Sonn¬ abend aus, indem sie mit einem Zuge uach Berlin kamen, um hier Schutz zu suchen. Kaum wurde aber auf dem Gute die Flucht entdeckt, als ihnen sofort ein Telegramm hierher nachging, in dem der Kriminalpolizei aufgegeben wurde, die Flüchtlinge anzuhalten und zu verhaften. Es wurden sofort zwei grüne Wagen nach dem Bahnhof geschickt, und beim Eintreffen des Zuges, mit dem die Entflohenen ankamen, wurden sie samt und sonders als Gefangne nach dem Polizeipräsidium gebracht. Dieser Augenblick soll herzergreifend gewesen sein; die Leute verstehen kein Wort deutsch, und kein Dolmetscher war zu¬ gegen, der ihnen hätte zur Seite stehen können; dabei zeigten sie ihre blau und braun geschlagner, mit fingerdicken Striemen bedeckten Körperteile." Was haben diese Leute für Hoffnung? Gar keine! Man lasse ihnen also ihre geistige Hornhaut, daß sie nicht erst Dummheiten machen und fliehen, sondern sich widerstandslos die körperliche anPrügeln lassen. Rvschers Ansicht ist richtig für die Völker im allgemeinen; das russische Volk kann sich niemals aus eigner Kraft zur Kultur erheben, weil es inwendig und auswendig mit Hornhaut und Schmutzkruste überzogen ist. Aber sie gilt nicht für die unterdrückten Klassen in zivilisirten Staaten, solange die herrschenden Klassen samt dem ihnen verbündeten Staate den Willen haben, diese im Zustande der Unter¬ drückung festzuhalten. Hier ist das Abziehen der Schwielenhaut durch Schul¬ bildung und Lektüre nicht allein ganz zweckwidrig, sondern zugleich eine solche Grausamkeit, wie wenn ein böser Zauberer dem Stück Eisen, das er mit Feuer und Schmiedehammer bearbeitet, Empfindung einhauchen wollte.^) Auch daß Röscher die Bevölkerungsfrage, die für die Geschicke der Mittel- und west¬ europäischen Staaten über kurz oder lang verhängnisvoll werden muß, nicht besonders behandelt, erscheint uns als ein Mangel. Daß er ihre Bedeutung gar wohl kennt und würdigt, wissen wir nicht allein aus seinem großen Werke, sondern es geht auch aus gelegentlichen Äußerungen im vorliegenden Buche hervor. So rügt er es, daß die Arbeiter Kinder zeugen, ehe sie deren Unterhalt gesichert haben, und wendet sich gegen die phantastische Vorstellung des Amerikaners Henry George, wenn man nur seine Vorschlüge annähme, dann werde die Erde eine ungemessene Zahl von Menschen ernähren können. Ganz und gar stimmen wir den Sätzen bei, mit denen Röscher auf S. 56« seine Kritik des Sozialismus und Kommunismus beschließt. „Die Eine Frage an die Altertumskundigen: Ist aus Bildern oder schriftlichen Nachrichten zu ersehen, daß römische Sklavinnen bei der Arbeit von den Aufsehern geprügelt worden wären? Viele römische Damen haben allerdings ihre Sklavinnen grausam behandelt, aber dafür, daß Frauen und Mädchen von Männern geprügelt worden wären, kennt der Verfasser dieses Aufsatzes kein Beispiel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/448>, abgerufen am 29.09.2024.