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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Proletarierdichter und Proletarierlieder

ein warmes Herz für Familie, Freundschaft und Heimat, er ist auch nicht ohne
schalkhaften Humor. Wie hamburgisch-gemütlich schließt zum Beispiel seine
kleine Betrachtung über das beleidigende Wort "Kerl!" Ja bei dem Namen¬
losen findet sich sogar ein "patriotisches" Lied: Die Mädchen von Kolberg.
Kurz, wenn auch der Grundton proletarisch ist, so fehlt es diesen Gedichten
doch weder an Vielseitigkeit noch an Empfindung. Und es ist ein großes
Glück, daß es so ist; es wäre schlimm, wenn erst beim Bourgeois der Mensch
anfinge, es wäre schlimm, wenn Reich in seinem Buche "Die bürgerliche Kunst
und die besitzlosen Volksklassen" ein Recht hätte zu sagen: "Menschen im wahren
Sinn sind nur die kunstsinnigen Gebildeten und Besitzenden, nicht die wim¬
melnden Massen der kunstfeindlichen Barbaren des Proletariats."

Man kann in den fünf Bänden dieser Gedichtsammlung verschiedne Gat¬
tungen von Gedichten unterscheiden, die zum Teil nur unter Proletariern mög¬
lich sind. Zu den eigentlichen Parteigedichten gesellen sich vor allem solche,
die das Leben, Sinnen und Treiben des Proletariers, sei es des gebildeten,
der gerade wegen seiner Bildung der wahre Proletarier ist, sei es des arbeitenden
und des arbeitslosen behandeln. Hieran schließen sich unter anderm die Mai¬
lieder, die Handwerksburschen- und Vagabundenlieder, sowie die -- Gefängnis¬
lieder, eine sehr neumodische und zeitgemäße Gattung.

Sehen wir uns zunächst einmal den gebildeten Proletarier, wie er uns
in diesen Liedern entgegentritt, etwas näher an. Er hat wie alle andern
Menschen den Wunsch, glücklich zu sein. Es wäre ihm gewiß nicht schwer,
glücklich zu werden, wenn er mit den bescheidensten Verhältnissen noch zu¬
frieden sein könnte. Aber Proletarier und Zufriedenheit sind unverträgliche
Begriffe. Der "verdammten Bedürfnislosigkeit" macht er sich nicht schuldig,
er will ein "menschenwürdiges Dasein" führen oder keins. Einer der Wünsche,
die dem nach Glück begehrenden Proletarier allzu menschlich in den Sinn kommen,
ist der nach Liebesglück, nach Familie und nach einem eignen Herd. Aber darf
ein solcher Habenichts ein Weib nehmen, kann er es verantworten. Wesen, die
er liebt, in sein brotloses Dasein zu verstricken? Eines obrigkeitlichen "Kon¬
senses" bedarf es ja nicht mehr, und ein ungebildeter Arbeiter würde am Ende
darauflos heiraten, aber was sagt das Gewissen dem gebildeten und wissenden
Mann, wenn er nicht zahlungsfähig genug ist? Wird ihn sein klarer Ver¬
stand über die natürlichen Neigungen siegen lassen? Ach, für den Proletarier
scheint es am besten zu sein, auf Familienglück zu verzichten, "sich keiner zu
vermählen."


Proletarierdichter und Proletarierlieder

ein warmes Herz für Familie, Freundschaft und Heimat, er ist auch nicht ohne
schalkhaften Humor. Wie hamburgisch-gemütlich schließt zum Beispiel seine
kleine Betrachtung über das beleidigende Wort „Kerl!" Ja bei dem Namen¬
losen findet sich sogar ein „patriotisches" Lied: Die Mädchen von Kolberg.
Kurz, wenn auch der Grundton proletarisch ist, so fehlt es diesen Gedichten
doch weder an Vielseitigkeit noch an Empfindung. Und es ist ein großes
Glück, daß es so ist; es wäre schlimm, wenn erst beim Bourgeois der Mensch
anfinge, es wäre schlimm, wenn Reich in seinem Buche „Die bürgerliche Kunst
und die besitzlosen Volksklassen" ein Recht hätte zu sagen: „Menschen im wahren
Sinn sind nur die kunstsinnigen Gebildeten und Besitzenden, nicht die wim¬
melnden Massen der kunstfeindlichen Barbaren des Proletariats."

Man kann in den fünf Bänden dieser Gedichtsammlung verschiedne Gat¬
tungen von Gedichten unterscheiden, die zum Teil nur unter Proletariern mög¬
lich sind. Zu den eigentlichen Parteigedichten gesellen sich vor allem solche,
die das Leben, Sinnen und Treiben des Proletariers, sei es des gebildeten,
der gerade wegen seiner Bildung der wahre Proletarier ist, sei es des arbeitenden
und des arbeitslosen behandeln. Hieran schließen sich unter anderm die Mai¬
lieder, die Handwerksburschen- und Vagabundenlieder, sowie die — Gefängnis¬
lieder, eine sehr neumodische und zeitgemäße Gattung.

Sehen wir uns zunächst einmal den gebildeten Proletarier, wie er uns
in diesen Liedern entgegentritt, etwas näher an. Er hat wie alle andern
Menschen den Wunsch, glücklich zu sein. Es wäre ihm gewiß nicht schwer,
glücklich zu werden, wenn er mit den bescheidensten Verhältnissen noch zu¬
frieden sein könnte. Aber Proletarier und Zufriedenheit sind unverträgliche
Begriffe. Der „verdammten Bedürfnislosigkeit" macht er sich nicht schuldig,
er will ein „menschenwürdiges Dasein" führen oder keins. Einer der Wünsche,
die dem nach Glück begehrenden Proletarier allzu menschlich in den Sinn kommen,
ist der nach Liebesglück, nach Familie und nach einem eignen Herd. Aber darf
ein solcher Habenichts ein Weib nehmen, kann er es verantworten. Wesen, die
er liebt, in sein brotloses Dasein zu verstricken? Eines obrigkeitlichen „Kon¬
senses" bedarf es ja nicht mehr, und ein ungebildeter Arbeiter würde am Ende
darauflos heiraten, aber was sagt das Gewissen dem gebildeten und wissenden
Mann, wenn er nicht zahlungsfähig genug ist? Wird ihn sein klarer Ver¬
stand über die natürlichen Neigungen siegen lassen? Ach, für den Proletarier
scheint es am besten zu sein, auf Familienglück zu verzichten, „sich keiner zu
vermählen."


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[0044] Proletarierdichter und Proletarierlieder ein warmes Herz für Familie, Freundschaft und Heimat, er ist auch nicht ohne schalkhaften Humor. Wie hamburgisch-gemütlich schließt zum Beispiel seine kleine Betrachtung über das beleidigende Wort „Kerl!" Ja bei dem Namen¬ losen findet sich sogar ein „patriotisches" Lied: Die Mädchen von Kolberg. Kurz, wenn auch der Grundton proletarisch ist, so fehlt es diesen Gedichten doch weder an Vielseitigkeit noch an Empfindung. Und es ist ein großes Glück, daß es so ist; es wäre schlimm, wenn erst beim Bourgeois der Mensch anfinge, es wäre schlimm, wenn Reich in seinem Buche „Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklassen" ein Recht hätte zu sagen: „Menschen im wahren Sinn sind nur die kunstsinnigen Gebildeten und Besitzenden, nicht die wim¬ melnden Massen der kunstfeindlichen Barbaren des Proletariats." Man kann in den fünf Bänden dieser Gedichtsammlung verschiedne Gat¬ tungen von Gedichten unterscheiden, die zum Teil nur unter Proletariern mög¬ lich sind. Zu den eigentlichen Parteigedichten gesellen sich vor allem solche, die das Leben, Sinnen und Treiben des Proletariers, sei es des gebildeten, der gerade wegen seiner Bildung der wahre Proletarier ist, sei es des arbeitenden und des arbeitslosen behandeln. Hieran schließen sich unter anderm die Mai¬ lieder, die Handwerksburschen- und Vagabundenlieder, sowie die — Gefängnis¬ lieder, eine sehr neumodische und zeitgemäße Gattung. Sehen wir uns zunächst einmal den gebildeten Proletarier, wie er uns in diesen Liedern entgegentritt, etwas näher an. Er hat wie alle andern Menschen den Wunsch, glücklich zu sein. Es wäre ihm gewiß nicht schwer, glücklich zu werden, wenn er mit den bescheidensten Verhältnissen noch zu¬ frieden sein könnte. Aber Proletarier und Zufriedenheit sind unverträgliche Begriffe. Der „verdammten Bedürfnislosigkeit" macht er sich nicht schuldig, er will ein „menschenwürdiges Dasein" führen oder keins. Einer der Wünsche, die dem nach Glück begehrenden Proletarier allzu menschlich in den Sinn kommen, ist der nach Liebesglück, nach Familie und nach einem eignen Herd. Aber darf ein solcher Habenichts ein Weib nehmen, kann er es verantworten. Wesen, die er liebt, in sein brotloses Dasein zu verstricken? Eines obrigkeitlichen „Kon¬ senses" bedarf es ja nicht mehr, und ein ungebildeter Arbeiter würde am Ende darauflos heiraten, aber was sagt das Gewissen dem gebildeten und wissenden Mann, wenn er nicht zahlungsfähig genug ist? Wird ihn sein klarer Ver¬ stand über die natürlichen Neigungen siegen lassen? Ach, für den Proletarier scheint es am besten zu sein, auf Familienglück zu verzichten, „sich keiner zu vermählen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/44>, abgerufen am 03.07.2024.