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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Proletarierdichter und Proletarierlieder

Aber, wird man fragen, sind diese Jünger Lassalles, diese Sozialdemo¬
kraten wahre und wahrhaftige Dichter? Der dichterische Wert ihrer Verse ist
gewiß sehr verschieden. Einige Erstlingsgedichte sind bloße Übungen. Aber
viele andre Stücke der Sammlung sind der Form wie dem Inhalt nach durch¬
aus tadellos. Warum sollten auch Arbeiter und Arbeiterführer das Verse¬
machen im Nebenamte nicht ebenso gut verstehen, wie so viele besitzende Dichter,
die tagsüber bei den Alten, abends auf dem Helikon verweilten? Es ist aber
bezeichnend, daß sich die beiden Welten des Proletariats und der Bourgeoisie
nicht einmal auf dem doch, wie man denken sollte, neutralen Gebiete der
Kunst vertragen können. Diese Proletarier lehnen, obwohl sie dichten können,
den Titel Dichter ab! Lepp verschmäht "den ziemlich anrüchigen Titel," er
will ein Volkssänger sein. Er hätte sich freilich nicht mit Anlehnung an Be-
renger den "deutschen Chansonnier" nennen sollen, denn mit Beranger kann
er sich nicht messen. Auf alle Fälle aber sollten die bürgerlichen "Dichter"
erkennen, wie nahe die Gefahr liegt, daß sie volksfremd und beim Volke un¬
verstanden werden; der Papierkorb, in den das Volk die ungelesenen Erzeug¬
nisse schleudert, ist riesengroß. Auch der "Namenlose," entschieden der form¬
vollendetste und am tiefsten empfindende unter den Sieben, mag kein "Dichter"
sein, er bestreitet entrüstet, "ästhetisch" erzogen worden zu sein.

Bürgerliche "Kollegen" haben ihm den Vorwurf gemacht, daß er "allzu ein¬
tönig" sei. Aber er weiß darauf zu antworten. Hört ihrs, fragt er die Ver¬
ächter des Eintöniger, die ihr das Meer von eurer Saison im Seebade
kennen müßt,

Und

Übrigens ist der Vorwurf der Eintönigkeit gegenüber dem Namenlosen wie
gegenüber diesen Prvletarierdichtern insgesamt gar nicht gerechtfertigt. Sie
wissen auch andre Töne als die dem engen Parteiprogramm entlehnten anzu¬
schlagen. Nur ein eingefleischter Bourgeois kann sich einbilden, daß ein Sozial¬
demokrat notwendig ein gefühl- und herzloser Mensch sein müsse. Autors hat


Grenzboten 11 1893 S
Proletarierdichter und Proletarierlieder

Aber, wird man fragen, sind diese Jünger Lassalles, diese Sozialdemo¬
kraten wahre und wahrhaftige Dichter? Der dichterische Wert ihrer Verse ist
gewiß sehr verschieden. Einige Erstlingsgedichte sind bloße Übungen. Aber
viele andre Stücke der Sammlung sind der Form wie dem Inhalt nach durch¬
aus tadellos. Warum sollten auch Arbeiter und Arbeiterführer das Verse¬
machen im Nebenamte nicht ebenso gut verstehen, wie so viele besitzende Dichter,
die tagsüber bei den Alten, abends auf dem Helikon verweilten? Es ist aber
bezeichnend, daß sich die beiden Welten des Proletariats und der Bourgeoisie
nicht einmal auf dem doch, wie man denken sollte, neutralen Gebiete der
Kunst vertragen können. Diese Proletarier lehnen, obwohl sie dichten können,
den Titel Dichter ab! Lepp verschmäht „den ziemlich anrüchigen Titel," er
will ein Volkssänger sein. Er hätte sich freilich nicht mit Anlehnung an Be-
renger den „deutschen Chansonnier" nennen sollen, denn mit Beranger kann
er sich nicht messen. Auf alle Fälle aber sollten die bürgerlichen „Dichter"
erkennen, wie nahe die Gefahr liegt, daß sie volksfremd und beim Volke un¬
verstanden werden; der Papierkorb, in den das Volk die ungelesenen Erzeug¬
nisse schleudert, ist riesengroß. Auch der „Namenlose," entschieden der form¬
vollendetste und am tiefsten empfindende unter den Sieben, mag kein „Dichter"
sein, er bestreitet entrüstet, „ästhetisch" erzogen worden zu sein.

Bürgerliche „Kollegen" haben ihm den Vorwurf gemacht, daß er „allzu ein¬
tönig" sei. Aber er weiß darauf zu antworten. Hört ihrs, fragt er die Ver¬
ächter des Eintöniger, die ihr das Meer von eurer Saison im Seebade
kennen müßt,

Und

Übrigens ist der Vorwurf der Eintönigkeit gegenüber dem Namenlosen wie
gegenüber diesen Prvletarierdichtern insgesamt gar nicht gerechtfertigt. Sie
wissen auch andre Töne als die dem engen Parteiprogramm entlehnten anzu¬
schlagen. Nur ein eingefleischter Bourgeois kann sich einbilden, daß ein Sozial¬
demokrat notwendig ein gefühl- und herzloser Mensch sein müsse. Autors hat


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[0043] Proletarierdichter und Proletarierlieder Aber, wird man fragen, sind diese Jünger Lassalles, diese Sozialdemo¬ kraten wahre und wahrhaftige Dichter? Der dichterische Wert ihrer Verse ist gewiß sehr verschieden. Einige Erstlingsgedichte sind bloße Übungen. Aber viele andre Stücke der Sammlung sind der Form wie dem Inhalt nach durch¬ aus tadellos. Warum sollten auch Arbeiter und Arbeiterführer das Verse¬ machen im Nebenamte nicht ebenso gut verstehen, wie so viele besitzende Dichter, die tagsüber bei den Alten, abends auf dem Helikon verweilten? Es ist aber bezeichnend, daß sich die beiden Welten des Proletariats und der Bourgeoisie nicht einmal auf dem doch, wie man denken sollte, neutralen Gebiete der Kunst vertragen können. Diese Proletarier lehnen, obwohl sie dichten können, den Titel Dichter ab! Lepp verschmäht „den ziemlich anrüchigen Titel," er will ein Volkssänger sein. Er hätte sich freilich nicht mit Anlehnung an Be- renger den „deutschen Chansonnier" nennen sollen, denn mit Beranger kann er sich nicht messen. Auf alle Fälle aber sollten die bürgerlichen „Dichter" erkennen, wie nahe die Gefahr liegt, daß sie volksfremd und beim Volke un¬ verstanden werden; der Papierkorb, in den das Volk die ungelesenen Erzeug¬ nisse schleudert, ist riesengroß. Auch der „Namenlose," entschieden der form¬ vollendetste und am tiefsten empfindende unter den Sieben, mag kein „Dichter" sein, er bestreitet entrüstet, „ästhetisch" erzogen worden zu sein. Bürgerliche „Kollegen" haben ihm den Vorwurf gemacht, daß er „allzu ein¬ tönig" sei. Aber er weiß darauf zu antworten. Hört ihrs, fragt er die Ver¬ ächter des Eintöniger, die ihr das Meer von eurer Saison im Seebade kennen müßt, Und Übrigens ist der Vorwurf der Eintönigkeit gegenüber dem Namenlosen wie gegenüber diesen Prvletarierdichtern insgesamt gar nicht gerechtfertigt. Sie wissen auch andre Töne als die dem engen Parteiprogramm entlehnten anzu¬ schlagen. Nur ein eingefleischter Bourgeois kann sich einbilden, daß ein Sozial¬ demokrat notwendig ein gefühl- und herzloser Mensch sein müsse. Autors hat Grenzboten 11 1893 S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/43>, abgerufen am 23.07.2024.