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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Parlamentsreform

nur die eine Partei ihren Vertreter durchsetzt und die oft sehr starke Minder¬
heit gar nicht vertreten ist? Oder ist es eine Vertretung der ersten See- und
Hafenstadt des deutschen Reichs und des europäischen Festlandes zu nennen,
wenn Hamburg drei Sozialdemokraten in den Reichstag entsendet? Das ist
doch die roheste Majvrisiruug einer durch Bildung und Vermögen hervor¬
ragenden Minderheit.

Eine wirkliche Heilung solcher Schäden ist kaum anders möglich, als
wenn das allgemeine Wahlrecht mit einer Berufs- (Interessen-) Vertretung ver¬
bunden wird. Eine solche waren seiner Zeit die alten Stände. Geistlichkeit,
Adel, Städte bildeten in verschiedner Gliederung die Landtage der deutschen
Territorien ebenso gut wie in außerdeutschen Ländern. Die Geistlichkeit ver¬
trat neben deu Interessen eines umfangreichen Grundbesitzes doch auch die der
Kirche, also der herrschenden geistigen Macht des Zeitalters und damit über¬
haupt die idealen Interessen, die in unserm heutigen Reichstage unmittelbar
gar nicht und in den Landtagen nur höchst ungenügend vertreten sind, ein
sonderbares Zeugnis für das Volk der Dichter und Denker. Der Adel brachte
die Interessen des Großgrundbesitzes zur Geltung, die Städte die Macht des
in Handel und Wandel angelegten Kapitals. Da zu giltigen Beschlüssen die
Zustimmung aller Stände gehörte, so litten zwar die Beratungen unter einer
großen Schwerfälligkeit, aber es war doch auch ganz ausgeschlossen, daß wich¬
tige Lebensfragen eines Standes einfach beiseite geschoben wurden. Der schwerste
Mangel der ganzen Einrichtung lag darin, daß der zahlreichste Stand, die
Bauern, nicht zu Worte kamen, aber da die Grundherren doch jedenfalls die
Interessen der Landwirtschaft wahrten, so konnte diese von denen des städtischen
Kapitals niemals ganz überwuchert werden. Auch die modernen Landtage der
deutschen Einzelstaaten beruhen thatsächlich auf der ständischen Berufsvertre-
tung, insofern sie vielfach wenigstens die Wahlen für Land und Städte
trennen und das Übergewicht der einen oder der andern Seite verhindern.
Das allgemeine Neichstagswahlrecht in seiner dermaligen Gestalt beruht
auf der Annahme der Gleichheit aller Wähler, also auf einer ungeheuerlichen
Fiktion. Und da diese Gleichheit der Interessen nicht einmal in dem einzelnen
Wahlkreise, geschweige im ganzen Volke besteht, so ist die Vertretung der In¬
teressen den Parteien zugefallen, nur daß sie allesamt damit allgemeine na¬
tionale oder andre Gesichtspunkte verbinden oder jedenfalls benützen, um die
wirklichen Interessen hinter den entsprechenden Redensarten zu verbergen.
Daher sehen sich die Wahlprvgramme sämtlicher Parteien gewöhnlich zum Ver¬
wechseln ähnlich, und wenn man nicht aus Erfahrung wüßte, was dahinter
steckt, und wie die und jene Wendung zu verstehen ist, so würde man sie so
ziemlich alle ohne Bedenken unterschreiben können. Unsre jetzigen Parteien
stellen also thatsächlich, aber nicht verfassungsmäßig und in ganz ungeordneter
Weise, schon eine Interessenvertretung dar. Die Konservativen bringen die


Parlamentsreform

nur die eine Partei ihren Vertreter durchsetzt und die oft sehr starke Minder¬
heit gar nicht vertreten ist? Oder ist es eine Vertretung der ersten See- und
Hafenstadt des deutschen Reichs und des europäischen Festlandes zu nennen,
wenn Hamburg drei Sozialdemokraten in den Reichstag entsendet? Das ist
doch die roheste Majvrisiruug einer durch Bildung und Vermögen hervor¬
ragenden Minderheit.

Eine wirkliche Heilung solcher Schäden ist kaum anders möglich, als
wenn das allgemeine Wahlrecht mit einer Berufs- (Interessen-) Vertretung ver¬
bunden wird. Eine solche waren seiner Zeit die alten Stände. Geistlichkeit,
Adel, Städte bildeten in verschiedner Gliederung die Landtage der deutschen
Territorien ebenso gut wie in außerdeutschen Ländern. Die Geistlichkeit ver¬
trat neben deu Interessen eines umfangreichen Grundbesitzes doch auch die der
Kirche, also der herrschenden geistigen Macht des Zeitalters und damit über¬
haupt die idealen Interessen, die in unserm heutigen Reichstage unmittelbar
gar nicht und in den Landtagen nur höchst ungenügend vertreten sind, ein
sonderbares Zeugnis für das Volk der Dichter und Denker. Der Adel brachte
die Interessen des Großgrundbesitzes zur Geltung, die Städte die Macht des
in Handel und Wandel angelegten Kapitals. Da zu giltigen Beschlüssen die
Zustimmung aller Stände gehörte, so litten zwar die Beratungen unter einer
großen Schwerfälligkeit, aber es war doch auch ganz ausgeschlossen, daß wich¬
tige Lebensfragen eines Standes einfach beiseite geschoben wurden. Der schwerste
Mangel der ganzen Einrichtung lag darin, daß der zahlreichste Stand, die
Bauern, nicht zu Worte kamen, aber da die Grundherren doch jedenfalls die
Interessen der Landwirtschaft wahrten, so konnte diese von denen des städtischen
Kapitals niemals ganz überwuchert werden. Auch die modernen Landtage der
deutschen Einzelstaaten beruhen thatsächlich auf der ständischen Berufsvertre-
tung, insofern sie vielfach wenigstens die Wahlen für Land und Städte
trennen und das Übergewicht der einen oder der andern Seite verhindern.
Das allgemeine Neichstagswahlrecht in seiner dermaligen Gestalt beruht
auf der Annahme der Gleichheit aller Wähler, also auf einer ungeheuerlichen
Fiktion. Und da diese Gleichheit der Interessen nicht einmal in dem einzelnen
Wahlkreise, geschweige im ganzen Volke besteht, so ist die Vertretung der In¬
teressen den Parteien zugefallen, nur daß sie allesamt damit allgemeine na¬
tionale oder andre Gesichtspunkte verbinden oder jedenfalls benützen, um die
wirklichen Interessen hinter den entsprechenden Redensarten zu verbergen.
Daher sehen sich die Wahlprvgramme sämtlicher Parteien gewöhnlich zum Ver¬
wechseln ähnlich, und wenn man nicht aus Erfahrung wüßte, was dahinter
steckt, und wie die und jene Wendung zu verstehen ist, so würde man sie so
ziemlich alle ohne Bedenken unterschreiben können. Unsre jetzigen Parteien
stellen also thatsächlich, aber nicht verfassungsmäßig und in ganz ungeordneter
Weise, schon eine Interessenvertretung dar. Die Konservativen bringen die


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[0349] Parlamentsreform nur die eine Partei ihren Vertreter durchsetzt und die oft sehr starke Minder¬ heit gar nicht vertreten ist? Oder ist es eine Vertretung der ersten See- und Hafenstadt des deutschen Reichs und des europäischen Festlandes zu nennen, wenn Hamburg drei Sozialdemokraten in den Reichstag entsendet? Das ist doch die roheste Majvrisiruug einer durch Bildung und Vermögen hervor¬ ragenden Minderheit. Eine wirkliche Heilung solcher Schäden ist kaum anders möglich, als wenn das allgemeine Wahlrecht mit einer Berufs- (Interessen-) Vertretung ver¬ bunden wird. Eine solche waren seiner Zeit die alten Stände. Geistlichkeit, Adel, Städte bildeten in verschiedner Gliederung die Landtage der deutschen Territorien ebenso gut wie in außerdeutschen Ländern. Die Geistlichkeit ver¬ trat neben deu Interessen eines umfangreichen Grundbesitzes doch auch die der Kirche, also der herrschenden geistigen Macht des Zeitalters und damit über¬ haupt die idealen Interessen, die in unserm heutigen Reichstage unmittelbar gar nicht und in den Landtagen nur höchst ungenügend vertreten sind, ein sonderbares Zeugnis für das Volk der Dichter und Denker. Der Adel brachte die Interessen des Großgrundbesitzes zur Geltung, die Städte die Macht des in Handel und Wandel angelegten Kapitals. Da zu giltigen Beschlüssen die Zustimmung aller Stände gehörte, so litten zwar die Beratungen unter einer großen Schwerfälligkeit, aber es war doch auch ganz ausgeschlossen, daß wich¬ tige Lebensfragen eines Standes einfach beiseite geschoben wurden. Der schwerste Mangel der ganzen Einrichtung lag darin, daß der zahlreichste Stand, die Bauern, nicht zu Worte kamen, aber da die Grundherren doch jedenfalls die Interessen der Landwirtschaft wahrten, so konnte diese von denen des städtischen Kapitals niemals ganz überwuchert werden. Auch die modernen Landtage der deutschen Einzelstaaten beruhen thatsächlich auf der ständischen Berufsvertre- tung, insofern sie vielfach wenigstens die Wahlen für Land und Städte trennen und das Übergewicht der einen oder der andern Seite verhindern. Das allgemeine Neichstagswahlrecht in seiner dermaligen Gestalt beruht auf der Annahme der Gleichheit aller Wähler, also auf einer ungeheuerlichen Fiktion. Und da diese Gleichheit der Interessen nicht einmal in dem einzelnen Wahlkreise, geschweige im ganzen Volke besteht, so ist die Vertretung der In¬ teressen den Parteien zugefallen, nur daß sie allesamt damit allgemeine na¬ tionale oder andre Gesichtspunkte verbinden oder jedenfalls benützen, um die wirklichen Interessen hinter den entsprechenden Redensarten zu verbergen. Daher sehen sich die Wahlprvgramme sämtlicher Parteien gewöhnlich zum Ver¬ wechseln ähnlich, und wenn man nicht aus Erfahrung wüßte, was dahinter steckt, und wie die und jene Wendung zu verstehen ist, so würde man sie so ziemlich alle ohne Bedenken unterschreiben können. Unsre jetzigen Parteien stellen also thatsächlich, aber nicht verfassungsmäßig und in ganz ungeordneter Weise, schon eine Interessenvertretung dar. Die Konservativen bringen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/349>, abgerufen am 01.10.2024.