Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Parlamentsreform

herrschte Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte. Diese "Reaktion" mußte kommen,
und es ist gut, daß sie da ist.

Aber ob die Bedürfnisse, die sie hervorgetrieben haben, in der üblichen
Parteiwirtschaft zu einer entsprechenden Geltung gelangen werden? Die Mehr-
heitsparteien haben hundertmal bewiesen, und noch zuletzt haben es manche
ihrer Führer mit cynischer Offenheit bekannt, daß ihnen die Partei, d. h. die
Behauptung gewisser Wahlkreise, eines gewissen Einflusses im Reichstage und
nicht am wenigsten persönlicher Machtgelüste höher steht als das Vaterland.
Es ist das alte Leiden deutscher Rechthaberei, das unser Volk einst in das
Elend des dreißigjährigen Krieges hineingeführt hat. Die Schachergeschäfte,
die hinter den Kulissen des Reichstages zu spielen Pflegen um ein paar
Stimmen für oder gegen den oder jenen Antrag zu erHaschen, sind um nichts
würdiger, als der eigensinnige und eigensüchtige Zank deutscher Landtage der
ständischen Zeit. Es fehlt nur noch, daß die Stimmen geradezu gekauft werden,
wie in den Zeiten der blühenden englischen Parlamentsherrschaft unter dem
Ministerium Walpole. Und wer sind denn die meisten dieser "Volksvertreter"?
Gewiß giebt es eine ganze Anzahl unter ihnen, die wirklich im Volke stehen,
aber die eigentlichen "Macher" gehören zur Gattung der Bernfsparlamentarier
die das Leben nnr aus deu Akten des Reichstages und allenfalls aus Wähler-
Versammlungen kennen, die niemals eine Werkstatt, eine Fabrik, ein Landgut,
ein verantwortungsvolles Amt verwaltet haben und von dem, wie es draußen
nit Lande und drinnen im Volke aussieht, nichts ordentliches wissen. Aber
dieser Krebsschaden unsers deutschen Parlamentarismus hängt leider mit der
ganzen Wahlwühlerei aufs engste zusammen. Die Zahl der geeigneten Männer,
die geneigt sind, sich dem Schmutze und den Aufregungen moderner Wahl¬
kämpfe auszusetzen und sich dann in Berlin der Herrschaft der Parteipäpste zu
fügen, die ebenso unbedingt als unausstehlich zu sein pflegt, statt ihrer eignen
Überzeugung und dem Interesse ihrer Wählerschaft zu folgen, wofür sie doch
gewählt worden sind, diese Zahl wird zusehends kleiner, und es ist nicht ab¬
zusehen, wie das anders werden soll, so lange das gegenwärtige Wahlsystem
fortdauert.

Also Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts? Durchaus uicht. Dies
Stimmrecht, das Fürst Bismarck bekanntlich nicht erfunden, sondern aus der
Reichsverfassung von 1849 herübergenommen hat. entspricht der allgemeinen
Wehrpflicht und hat unter manchen Fehlern doch den einen großen Vorzug:
es verhindert, daß große und starke Strömungen des Volkslebens ganz davon
ausgeschlossen werden, sich gesetzlich geltend zu machen und dadurch auf un¬
gesetzliche Bahnen gedrängt werden, wie bis jetzt in Belgien, dein Muster-
Imide des liberalen Geldprotzentnms. Aber muß es denn in den jetzt bestehenden
Formen ausgeübt werden, in örtlichen Wahlkreisen, die oft die allerverschie-
densten Elemente enthalten, in denen also nach erbittertem Wahlkampf eben


Parlamentsreform

herrschte Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte. Diese „Reaktion" mußte kommen,
und es ist gut, daß sie da ist.

Aber ob die Bedürfnisse, die sie hervorgetrieben haben, in der üblichen
Parteiwirtschaft zu einer entsprechenden Geltung gelangen werden? Die Mehr-
heitsparteien haben hundertmal bewiesen, und noch zuletzt haben es manche
ihrer Führer mit cynischer Offenheit bekannt, daß ihnen die Partei, d. h. die
Behauptung gewisser Wahlkreise, eines gewissen Einflusses im Reichstage und
nicht am wenigsten persönlicher Machtgelüste höher steht als das Vaterland.
Es ist das alte Leiden deutscher Rechthaberei, das unser Volk einst in das
Elend des dreißigjährigen Krieges hineingeführt hat. Die Schachergeschäfte,
die hinter den Kulissen des Reichstages zu spielen Pflegen um ein paar
Stimmen für oder gegen den oder jenen Antrag zu erHaschen, sind um nichts
würdiger, als der eigensinnige und eigensüchtige Zank deutscher Landtage der
ständischen Zeit. Es fehlt nur noch, daß die Stimmen geradezu gekauft werden,
wie in den Zeiten der blühenden englischen Parlamentsherrschaft unter dem
Ministerium Walpole. Und wer sind denn die meisten dieser „Volksvertreter"?
Gewiß giebt es eine ganze Anzahl unter ihnen, die wirklich im Volke stehen,
aber die eigentlichen „Macher" gehören zur Gattung der Bernfsparlamentarier
die das Leben nnr aus deu Akten des Reichstages und allenfalls aus Wähler-
Versammlungen kennen, die niemals eine Werkstatt, eine Fabrik, ein Landgut,
ein verantwortungsvolles Amt verwaltet haben und von dem, wie es draußen
nit Lande und drinnen im Volke aussieht, nichts ordentliches wissen. Aber
dieser Krebsschaden unsers deutschen Parlamentarismus hängt leider mit der
ganzen Wahlwühlerei aufs engste zusammen. Die Zahl der geeigneten Männer,
die geneigt sind, sich dem Schmutze und den Aufregungen moderner Wahl¬
kämpfe auszusetzen und sich dann in Berlin der Herrschaft der Parteipäpste zu
fügen, die ebenso unbedingt als unausstehlich zu sein pflegt, statt ihrer eignen
Überzeugung und dem Interesse ihrer Wählerschaft zu folgen, wofür sie doch
gewählt worden sind, diese Zahl wird zusehends kleiner, und es ist nicht ab¬
zusehen, wie das anders werden soll, so lange das gegenwärtige Wahlsystem
fortdauert.

Also Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts? Durchaus uicht. Dies
Stimmrecht, das Fürst Bismarck bekanntlich nicht erfunden, sondern aus der
Reichsverfassung von 1849 herübergenommen hat. entspricht der allgemeinen
Wehrpflicht und hat unter manchen Fehlern doch den einen großen Vorzug:
es verhindert, daß große und starke Strömungen des Volkslebens ganz davon
ausgeschlossen werden, sich gesetzlich geltend zu machen und dadurch auf un¬
gesetzliche Bahnen gedrängt werden, wie bis jetzt in Belgien, dein Muster-
Imide des liberalen Geldprotzentnms. Aber muß es denn in den jetzt bestehenden
Formen ausgeübt werden, in örtlichen Wahlkreisen, die oft die allerverschie-
densten Elemente enthalten, in denen also nach erbittertem Wahlkampf eben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214803"/>
          <fw type="header" place="top"> Parlamentsreform</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1378" prev="#ID_1377"> herrschte Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte. Diese &#x201E;Reaktion" mußte kommen,<lb/>
und es ist gut, daß sie da ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1379"> Aber ob die Bedürfnisse, die sie hervorgetrieben haben, in der üblichen<lb/>
Parteiwirtschaft zu einer entsprechenden Geltung gelangen werden? Die Mehr-<lb/>
heitsparteien haben hundertmal bewiesen, und noch zuletzt haben es manche<lb/>
ihrer Führer mit cynischer Offenheit bekannt, daß ihnen die Partei, d. h. die<lb/>
Behauptung gewisser Wahlkreise, eines gewissen Einflusses im Reichstage und<lb/>
nicht am wenigsten persönlicher Machtgelüste höher steht als das Vaterland.<lb/>
Es ist das alte Leiden deutscher Rechthaberei, das unser Volk einst in das<lb/>
Elend des dreißigjährigen Krieges hineingeführt hat. Die Schachergeschäfte,<lb/>
die hinter den Kulissen des Reichstages zu spielen Pflegen um ein paar<lb/>
Stimmen für oder gegen den oder jenen Antrag zu erHaschen, sind um nichts<lb/>
würdiger, als der eigensinnige und eigensüchtige Zank deutscher Landtage der<lb/>
ständischen Zeit. Es fehlt nur noch, daß die Stimmen geradezu gekauft werden,<lb/>
wie in den Zeiten der blühenden englischen Parlamentsherrschaft unter dem<lb/>
Ministerium Walpole. Und wer sind denn die meisten dieser &#x201E;Volksvertreter"?<lb/>
Gewiß giebt es eine ganze Anzahl unter ihnen, die wirklich im Volke stehen,<lb/>
aber die eigentlichen &#x201E;Macher" gehören zur Gattung der Bernfsparlamentarier<lb/>
die das Leben nnr aus deu Akten des Reichstages und allenfalls aus Wähler-<lb/>
Versammlungen kennen, die niemals eine Werkstatt, eine Fabrik, ein Landgut,<lb/>
ein verantwortungsvolles Amt verwaltet haben und von dem, wie es draußen<lb/>
nit Lande und drinnen im Volke aussieht, nichts ordentliches wissen. Aber<lb/>
dieser Krebsschaden unsers deutschen Parlamentarismus hängt leider mit der<lb/>
ganzen Wahlwühlerei aufs engste zusammen. Die Zahl der geeigneten Männer,<lb/>
die geneigt sind, sich dem Schmutze und den Aufregungen moderner Wahl¬<lb/>
kämpfe auszusetzen und sich dann in Berlin der Herrschaft der Parteipäpste zu<lb/>
fügen, die ebenso unbedingt als unausstehlich zu sein pflegt, statt ihrer eignen<lb/>
Überzeugung und dem Interesse ihrer Wählerschaft zu folgen, wofür sie doch<lb/>
gewählt worden sind, diese Zahl wird zusehends kleiner, und es ist nicht ab¬<lb/>
zusehen, wie das anders werden soll, so lange das gegenwärtige Wahlsystem<lb/>
fortdauert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1380" next="#ID_1381"> Also Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts? Durchaus uicht. Dies<lb/>
Stimmrecht, das Fürst Bismarck bekanntlich nicht erfunden, sondern aus der<lb/>
Reichsverfassung von 1849 herübergenommen hat. entspricht der allgemeinen<lb/>
Wehrpflicht und hat unter manchen Fehlern doch den einen großen Vorzug:<lb/>
es verhindert, daß große und starke Strömungen des Volkslebens ganz davon<lb/>
ausgeschlossen werden, sich gesetzlich geltend zu machen und dadurch auf un¬<lb/>
gesetzliche Bahnen gedrängt werden, wie bis jetzt in Belgien, dein Muster-<lb/>
Imide des liberalen Geldprotzentnms. Aber muß es denn in den jetzt bestehenden<lb/>
Formen ausgeübt werden, in örtlichen Wahlkreisen, die oft die allerverschie-<lb/>
densten Elemente enthalten, in denen also nach erbittertem Wahlkampf eben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0348] Parlamentsreform herrschte Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte. Diese „Reaktion" mußte kommen, und es ist gut, daß sie da ist. Aber ob die Bedürfnisse, die sie hervorgetrieben haben, in der üblichen Parteiwirtschaft zu einer entsprechenden Geltung gelangen werden? Die Mehr- heitsparteien haben hundertmal bewiesen, und noch zuletzt haben es manche ihrer Führer mit cynischer Offenheit bekannt, daß ihnen die Partei, d. h. die Behauptung gewisser Wahlkreise, eines gewissen Einflusses im Reichstage und nicht am wenigsten persönlicher Machtgelüste höher steht als das Vaterland. Es ist das alte Leiden deutscher Rechthaberei, das unser Volk einst in das Elend des dreißigjährigen Krieges hineingeführt hat. Die Schachergeschäfte, die hinter den Kulissen des Reichstages zu spielen Pflegen um ein paar Stimmen für oder gegen den oder jenen Antrag zu erHaschen, sind um nichts würdiger, als der eigensinnige und eigensüchtige Zank deutscher Landtage der ständischen Zeit. Es fehlt nur noch, daß die Stimmen geradezu gekauft werden, wie in den Zeiten der blühenden englischen Parlamentsherrschaft unter dem Ministerium Walpole. Und wer sind denn die meisten dieser „Volksvertreter"? Gewiß giebt es eine ganze Anzahl unter ihnen, die wirklich im Volke stehen, aber die eigentlichen „Macher" gehören zur Gattung der Bernfsparlamentarier die das Leben nnr aus deu Akten des Reichstages und allenfalls aus Wähler- Versammlungen kennen, die niemals eine Werkstatt, eine Fabrik, ein Landgut, ein verantwortungsvolles Amt verwaltet haben und von dem, wie es draußen nit Lande und drinnen im Volke aussieht, nichts ordentliches wissen. Aber dieser Krebsschaden unsers deutschen Parlamentarismus hängt leider mit der ganzen Wahlwühlerei aufs engste zusammen. Die Zahl der geeigneten Männer, die geneigt sind, sich dem Schmutze und den Aufregungen moderner Wahl¬ kämpfe auszusetzen und sich dann in Berlin der Herrschaft der Parteipäpste zu fügen, die ebenso unbedingt als unausstehlich zu sein pflegt, statt ihrer eignen Überzeugung und dem Interesse ihrer Wählerschaft zu folgen, wofür sie doch gewählt worden sind, diese Zahl wird zusehends kleiner, und es ist nicht ab¬ zusehen, wie das anders werden soll, so lange das gegenwärtige Wahlsystem fortdauert. Also Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts? Durchaus uicht. Dies Stimmrecht, das Fürst Bismarck bekanntlich nicht erfunden, sondern aus der Reichsverfassung von 1849 herübergenommen hat. entspricht der allgemeinen Wehrpflicht und hat unter manchen Fehlern doch den einen großen Vorzug: es verhindert, daß große und starke Strömungen des Volkslebens ganz davon ausgeschlossen werden, sich gesetzlich geltend zu machen und dadurch auf un¬ gesetzliche Bahnen gedrängt werden, wie bis jetzt in Belgien, dein Muster- Imide des liberalen Geldprotzentnms. Aber muß es denn in den jetzt bestehenden Formen ausgeübt werden, in örtlichen Wahlkreisen, die oft die allerverschie- densten Elemente enthalten, in denen also nach erbittertem Wahlkampf eben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/348
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/348>, abgerufen am 01.10.2024.