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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Bedürfnisse der Landwirtschaft und hie und da auch des städtischen Hand¬
werks, also die alten Grundlagen unsrer Staatsordnung, zur Geltung, die
Nationalliberalen vertreten das höhere kapitalistische Bürgertum und einen
Teil der geistigen Aristokratie, die Freisinnigen das Geldinteresse der Börse
und jene ewig nörgelnde und kritisireude bürgerliche Demokratie, die grund¬
sätzlich an jeder Negierung etwas auszusetzen findet, die Sozialdemokraten die
besitzlosen städtischen Arbeitermassen, das natürliche Erzeugnis und daher die
natürlichen Gegner des kapitalistischen Liberalismus. Im Zentrum werden
noch -- vorläufig -- alle diese verschiednen Strömungen durch das Über¬
gewicht des kirchlichen oder vielmehr hierarchischen Interesses zusammen¬
gehalten.

Aber wie sollen wir, fragt man, zu einer ausgesprochnen, ehrlichen In¬
teressenvertretung gelangen, jetzt, wo sich die alten Berufsstände aufgelöst
haben? Gewiß, es steht jetzt jedem Börsenjobber frei, sich ein Rittergut mit
Ahnenbildern zu kaufen, wenn er das Geld dazu hat, und jeder adliche Guts¬
besitzer kann eine Schnapsbrennerei oder eine Zuckerfabrik anlegen, also unter
die Industriellen gehen, auch ist es keinem ländlichen Tagelöhner verwehrt,
die Genüsse und das Elend der Großstadt zu kosten und die Stadtende und
gesunde Arbeit unter Gottes Sonne mit der mechanischen Thätigkeit in einem
lärmerfüllten, dunstigen Fabriksnale zu vertauschen. Aber giebt es deshalb
nicht sehr bestimmte abgeschlossene Berufskreise? Zwischen dem Fabrikherrn
und seinen Arbeitern gähnt eine so breite und tiefe wirtschaftliche Kluft, daß
sie nur sehr selten überschritten werden kann, und Handwerker, Landwirte,
Beamte, Geistliche, Lehrer bilden thatsächlich ziemlich geschlossene Berufsstände
mit besondern Anschauungen und Bedürfnissen. Trotz aller Nivellirungs-
arbeit der Gesetzgebung und des modernen Verkehrs hat sich diese Scheidung
erhalten und wird sich erhalten, weil sie natürlich ist. Die alten Bernfs-
stände lassen sich selbstverständlich nicht wieder herstellen, aber es gilt eine
Parlamentarische Form für die neuen sozialen und wirtschaftlichen Gruppen
zu finden. Bei der Jnvaliditäts- und Unfallsversicherung ist der Versuch,
geschlossene, obendrein zu ansehnlichen Geldleistungen verpflichtete Berufs¬
genossenschaften zu bilden, bereits gemacht worden. Sollte etwas ähnliches
nicht auch für die Volksvertretung möglich sein? Daß das lebhafte Bedürfnis
darnach vorhanden ist, beweist doch der immer lauter ertönende Ruf der Berufs¬
stände, die sich geschädigt fühlen, nach einer Vertretung durch Berufsgenossen.
Dann würde jeder Wähler eiuen Abgeordneten zu wühlen haben nicht für
eiuen bestimmten Wahlkreis, sondern für seine Berufsgenossenschaft, natürlich
so, daß eine jede je nach ihrer Bedeutung eine kleinere oder geringere Anzahl
von Abgeordneten stellte, und jeder Beruf würde durch Vertreter aus seiner
Mitte seine Bedürfnisse und Anschauungen im Reichstage zur Geltung bringen.
Damit wäre die kaum noch erträgliche Roheit der Wahlkämpfe und die Unter-


Bedürfnisse der Landwirtschaft und hie und da auch des städtischen Hand¬
werks, also die alten Grundlagen unsrer Staatsordnung, zur Geltung, die
Nationalliberalen vertreten das höhere kapitalistische Bürgertum und einen
Teil der geistigen Aristokratie, die Freisinnigen das Geldinteresse der Börse
und jene ewig nörgelnde und kritisireude bürgerliche Demokratie, die grund¬
sätzlich an jeder Negierung etwas auszusetzen findet, die Sozialdemokraten die
besitzlosen städtischen Arbeitermassen, das natürliche Erzeugnis und daher die
natürlichen Gegner des kapitalistischen Liberalismus. Im Zentrum werden
noch — vorläufig — alle diese verschiednen Strömungen durch das Über¬
gewicht des kirchlichen oder vielmehr hierarchischen Interesses zusammen¬
gehalten.

Aber wie sollen wir, fragt man, zu einer ausgesprochnen, ehrlichen In¬
teressenvertretung gelangen, jetzt, wo sich die alten Berufsstände aufgelöst
haben? Gewiß, es steht jetzt jedem Börsenjobber frei, sich ein Rittergut mit
Ahnenbildern zu kaufen, wenn er das Geld dazu hat, und jeder adliche Guts¬
besitzer kann eine Schnapsbrennerei oder eine Zuckerfabrik anlegen, also unter
die Industriellen gehen, auch ist es keinem ländlichen Tagelöhner verwehrt,
die Genüsse und das Elend der Großstadt zu kosten und die Stadtende und
gesunde Arbeit unter Gottes Sonne mit der mechanischen Thätigkeit in einem
lärmerfüllten, dunstigen Fabriksnale zu vertauschen. Aber giebt es deshalb
nicht sehr bestimmte abgeschlossene Berufskreise? Zwischen dem Fabrikherrn
und seinen Arbeitern gähnt eine so breite und tiefe wirtschaftliche Kluft, daß
sie nur sehr selten überschritten werden kann, und Handwerker, Landwirte,
Beamte, Geistliche, Lehrer bilden thatsächlich ziemlich geschlossene Berufsstände
mit besondern Anschauungen und Bedürfnissen. Trotz aller Nivellirungs-
arbeit der Gesetzgebung und des modernen Verkehrs hat sich diese Scheidung
erhalten und wird sich erhalten, weil sie natürlich ist. Die alten Bernfs-
stände lassen sich selbstverständlich nicht wieder herstellen, aber es gilt eine
Parlamentarische Form für die neuen sozialen und wirtschaftlichen Gruppen
zu finden. Bei der Jnvaliditäts- und Unfallsversicherung ist der Versuch,
geschlossene, obendrein zu ansehnlichen Geldleistungen verpflichtete Berufs¬
genossenschaften zu bilden, bereits gemacht worden. Sollte etwas ähnliches
nicht auch für die Volksvertretung möglich sein? Daß das lebhafte Bedürfnis
darnach vorhanden ist, beweist doch der immer lauter ertönende Ruf der Berufs¬
stände, die sich geschädigt fühlen, nach einer Vertretung durch Berufsgenossen.
Dann würde jeder Wähler eiuen Abgeordneten zu wühlen haben nicht für
eiuen bestimmten Wahlkreis, sondern für seine Berufsgenossenschaft, natürlich
so, daß eine jede je nach ihrer Bedeutung eine kleinere oder geringere Anzahl
von Abgeordneten stellte, und jeder Beruf würde durch Vertreter aus seiner
Mitte seine Bedürfnisse und Anschauungen im Reichstage zur Geltung bringen.
Damit wäre die kaum noch erträgliche Roheit der Wahlkämpfe und die Unter-


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[0350] Bedürfnisse der Landwirtschaft und hie und da auch des städtischen Hand¬ werks, also die alten Grundlagen unsrer Staatsordnung, zur Geltung, die Nationalliberalen vertreten das höhere kapitalistische Bürgertum und einen Teil der geistigen Aristokratie, die Freisinnigen das Geldinteresse der Börse und jene ewig nörgelnde und kritisireude bürgerliche Demokratie, die grund¬ sätzlich an jeder Negierung etwas auszusetzen findet, die Sozialdemokraten die besitzlosen städtischen Arbeitermassen, das natürliche Erzeugnis und daher die natürlichen Gegner des kapitalistischen Liberalismus. Im Zentrum werden noch — vorläufig — alle diese verschiednen Strömungen durch das Über¬ gewicht des kirchlichen oder vielmehr hierarchischen Interesses zusammen¬ gehalten. Aber wie sollen wir, fragt man, zu einer ausgesprochnen, ehrlichen In¬ teressenvertretung gelangen, jetzt, wo sich die alten Berufsstände aufgelöst haben? Gewiß, es steht jetzt jedem Börsenjobber frei, sich ein Rittergut mit Ahnenbildern zu kaufen, wenn er das Geld dazu hat, und jeder adliche Guts¬ besitzer kann eine Schnapsbrennerei oder eine Zuckerfabrik anlegen, also unter die Industriellen gehen, auch ist es keinem ländlichen Tagelöhner verwehrt, die Genüsse und das Elend der Großstadt zu kosten und die Stadtende und gesunde Arbeit unter Gottes Sonne mit der mechanischen Thätigkeit in einem lärmerfüllten, dunstigen Fabriksnale zu vertauschen. Aber giebt es deshalb nicht sehr bestimmte abgeschlossene Berufskreise? Zwischen dem Fabrikherrn und seinen Arbeitern gähnt eine so breite und tiefe wirtschaftliche Kluft, daß sie nur sehr selten überschritten werden kann, und Handwerker, Landwirte, Beamte, Geistliche, Lehrer bilden thatsächlich ziemlich geschlossene Berufsstände mit besondern Anschauungen und Bedürfnissen. Trotz aller Nivellirungs- arbeit der Gesetzgebung und des modernen Verkehrs hat sich diese Scheidung erhalten und wird sich erhalten, weil sie natürlich ist. Die alten Bernfs- stände lassen sich selbstverständlich nicht wieder herstellen, aber es gilt eine Parlamentarische Form für die neuen sozialen und wirtschaftlichen Gruppen zu finden. Bei der Jnvaliditäts- und Unfallsversicherung ist der Versuch, geschlossene, obendrein zu ansehnlichen Geldleistungen verpflichtete Berufs¬ genossenschaften zu bilden, bereits gemacht worden. Sollte etwas ähnliches nicht auch für die Volksvertretung möglich sein? Daß das lebhafte Bedürfnis darnach vorhanden ist, beweist doch der immer lauter ertönende Ruf der Berufs¬ stände, die sich geschädigt fühlen, nach einer Vertretung durch Berufsgenossen. Dann würde jeder Wähler eiuen Abgeordneten zu wühlen haben nicht für eiuen bestimmten Wahlkreis, sondern für seine Berufsgenossenschaft, natürlich so, daß eine jede je nach ihrer Bedeutung eine kleinere oder geringere Anzahl von Abgeordneten stellte, und jeder Beruf würde durch Vertreter aus seiner Mitte seine Bedürfnisse und Anschauungen im Reichstage zur Geltung bringen. Damit wäre die kaum noch erträgliche Roheit der Wahlkämpfe und die Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/350>, abgerufen am 01.07.2024.