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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Parlamentsreform

Bon "Rückgrat" war bei ihm wenig zu bemerken. Die Handelsverträge, deren
Wert doch mindestens bestreitbar ist, wurden kurzer Hand "durchgedrückt,"
und selbst bei der Militärvorlage trat die Neigung zum "Umfallen" stark
hervor. Eine sachliche Kritik des unglücklichen ostafrikanischen Abkommens wagte
keine Partei, und sür die mächtig vordrängenden sozialen Strömungen zeigte
die große Mehrheit des Reichstags wenig Verständnis. Selbst das Wucher-
gesetz hat sie nicht zu Stande kommen lassen. In Fragen der nationalen
Ehre, die für stolze Völker überhaupt keine Fragen sind, zeigte sie eine geradezu
schimpfliche Gleichgiltigkeit. Dieser Reichstag brachte es fertig, von dem Rück¬
tritte des Mannes, der ihn und das Reich geschaffen hatte, keine Notiz zu
nehmen. Bei den einen geschah das aus persönlichem Hasse, den alle großen
Männer tragen müssen, und die größten am meisten, bei den andern, was viel
schlimmer war, aus Feigheit, aus Angst, oben anzustoßen. "Da kennen Sie
die Feigheit der Parteiführer nicht," sagte Fürst Vismarck einmal zu jeman¬
dem, der die Erwartung nussprach, wenn er in den Reichstag eintrete, werde
sich alles um ihn scharen, und er hat mit diesem scharfen Urteil leider Recht
gehabt. Denn in diesem selben Reichstage wagten sich nur schüchterne Äuße¬
rungen des Mißfallens, kein Wiederhall der im Volke herrschenden Entrüstung,
hervor, als es Graf Caprivi über sich gewann, in jenen berufnen Maierlasseu
des vorigen Jahres seinen Vorgänger gesellschaftlich vor Europa zu ächten,
ein Flecken, den auch die letzten anerkennenden Äußerungen des Grafen nicht
haben auslöschen können. Darum noch einmal: Gott sei Dank, daß dieser
Reichstag ein so rasches Ende genommen hat, Gott sei Dank auch deshalb,
weil, wenn er sein Dasein bis zur gesetzlichen Frist fortgeschleppt Hütte, mächtige
Strömungen, die seit kurzem in unserm Volksleben hervorgebrochen sind, im
Sande hätten verlaufen können, ohne ihren parlamentarischen Ausdruck zu
finden. Der Antisemitismus ist in deu letzten Jahren trotz (oder wegen) alles
wütenden Geschreis der Judenpresse und trotz der Thorheiten eines Ahlwarot
eine Macht geworden, mit der man in zahlreichen Wahlkreisen wird rechnen
müssen, und er wird weiter wachsen, denn -- man täusche sich darüber nicht! --
die gebildete Jngend ist heutzutage weithin nicht liberal, sondern antisemitisch.
Der gewerbliche Mittelstand ist es müde, sich mit Redensarten und Shmpathie-
kuudgebuugen abspeisen zu lassen, während er in der That dem Kapitalismus
und Großiudustrialismus wehrlos zur Aufsaugung überlassen bleibt, und mit
einer geradezu elementaren Gewalt hat der "Bund der Landwirte" bewiesen,
daß die Landwirtschaft, der sich immer noch Gott sei Dank der größte Teil
des deutschen Volkes widmet, aufhören will, der geduldige Amboß für den
Hammer des großstädtischen liberalen Kapitalismus zu sein. Alle diese Rich¬
tungen bilden, zusammen mit verwandten Strömungen, die in dem Zentrum,
der einzigen Volkspartei des Reichstages neben der Sozialdemokratie, vertreten
sind, einen lauten Protest gegen die von dem städtischen Liberalismus be-


Parlamentsreform

Bon „Rückgrat" war bei ihm wenig zu bemerken. Die Handelsverträge, deren
Wert doch mindestens bestreitbar ist, wurden kurzer Hand „durchgedrückt,"
und selbst bei der Militärvorlage trat die Neigung zum „Umfallen" stark
hervor. Eine sachliche Kritik des unglücklichen ostafrikanischen Abkommens wagte
keine Partei, und sür die mächtig vordrängenden sozialen Strömungen zeigte
die große Mehrheit des Reichstags wenig Verständnis. Selbst das Wucher-
gesetz hat sie nicht zu Stande kommen lassen. In Fragen der nationalen
Ehre, die für stolze Völker überhaupt keine Fragen sind, zeigte sie eine geradezu
schimpfliche Gleichgiltigkeit. Dieser Reichstag brachte es fertig, von dem Rück¬
tritte des Mannes, der ihn und das Reich geschaffen hatte, keine Notiz zu
nehmen. Bei den einen geschah das aus persönlichem Hasse, den alle großen
Männer tragen müssen, und die größten am meisten, bei den andern, was viel
schlimmer war, aus Feigheit, aus Angst, oben anzustoßen. „Da kennen Sie
die Feigheit der Parteiführer nicht," sagte Fürst Vismarck einmal zu jeman¬
dem, der die Erwartung nussprach, wenn er in den Reichstag eintrete, werde
sich alles um ihn scharen, und er hat mit diesem scharfen Urteil leider Recht
gehabt. Denn in diesem selben Reichstage wagten sich nur schüchterne Äuße¬
rungen des Mißfallens, kein Wiederhall der im Volke herrschenden Entrüstung,
hervor, als es Graf Caprivi über sich gewann, in jenen berufnen Maierlasseu
des vorigen Jahres seinen Vorgänger gesellschaftlich vor Europa zu ächten,
ein Flecken, den auch die letzten anerkennenden Äußerungen des Grafen nicht
haben auslöschen können. Darum noch einmal: Gott sei Dank, daß dieser
Reichstag ein so rasches Ende genommen hat, Gott sei Dank auch deshalb,
weil, wenn er sein Dasein bis zur gesetzlichen Frist fortgeschleppt Hütte, mächtige
Strömungen, die seit kurzem in unserm Volksleben hervorgebrochen sind, im
Sande hätten verlaufen können, ohne ihren parlamentarischen Ausdruck zu
finden. Der Antisemitismus ist in deu letzten Jahren trotz (oder wegen) alles
wütenden Geschreis der Judenpresse und trotz der Thorheiten eines Ahlwarot
eine Macht geworden, mit der man in zahlreichen Wahlkreisen wird rechnen
müssen, und er wird weiter wachsen, denn — man täusche sich darüber nicht! —
die gebildete Jngend ist heutzutage weithin nicht liberal, sondern antisemitisch.
Der gewerbliche Mittelstand ist es müde, sich mit Redensarten und Shmpathie-
kuudgebuugen abspeisen zu lassen, während er in der That dem Kapitalismus
und Großiudustrialismus wehrlos zur Aufsaugung überlassen bleibt, und mit
einer geradezu elementaren Gewalt hat der „Bund der Landwirte" bewiesen,
daß die Landwirtschaft, der sich immer noch Gott sei Dank der größte Teil
des deutschen Volkes widmet, aufhören will, der geduldige Amboß für den
Hammer des großstädtischen liberalen Kapitalismus zu sein. Alle diese Rich¬
tungen bilden, zusammen mit verwandten Strömungen, die in dem Zentrum,
der einzigen Volkspartei des Reichstages neben der Sozialdemokratie, vertreten
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[0347] Parlamentsreform Bon „Rückgrat" war bei ihm wenig zu bemerken. Die Handelsverträge, deren Wert doch mindestens bestreitbar ist, wurden kurzer Hand „durchgedrückt," und selbst bei der Militärvorlage trat die Neigung zum „Umfallen" stark hervor. Eine sachliche Kritik des unglücklichen ostafrikanischen Abkommens wagte keine Partei, und sür die mächtig vordrängenden sozialen Strömungen zeigte die große Mehrheit des Reichstags wenig Verständnis. Selbst das Wucher- gesetz hat sie nicht zu Stande kommen lassen. In Fragen der nationalen Ehre, die für stolze Völker überhaupt keine Fragen sind, zeigte sie eine geradezu schimpfliche Gleichgiltigkeit. Dieser Reichstag brachte es fertig, von dem Rück¬ tritte des Mannes, der ihn und das Reich geschaffen hatte, keine Notiz zu nehmen. Bei den einen geschah das aus persönlichem Hasse, den alle großen Männer tragen müssen, und die größten am meisten, bei den andern, was viel schlimmer war, aus Feigheit, aus Angst, oben anzustoßen. „Da kennen Sie die Feigheit der Parteiführer nicht," sagte Fürst Vismarck einmal zu jeman¬ dem, der die Erwartung nussprach, wenn er in den Reichstag eintrete, werde sich alles um ihn scharen, und er hat mit diesem scharfen Urteil leider Recht gehabt. Denn in diesem selben Reichstage wagten sich nur schüchterne Äuße¬ rungen des Mißfallens, kein Wiederhall der im Volke herrschenden Entrüstung, hervor, als es Graf Caprivi über sich gewann, in jenen berufnen Maierlasseu des vorigen Jahres seinen Vorgänger gesellschaftlich vor Europa zu ächten, ein Flecken, den auch die letzten anerkennenden Äußerungen des Grafen nicht haben auslöschen können. Darum noch einmal: Gott sei Dank, daß dieser Reichstag ein so rasches Ende genommen hat, Gott sei Dank auch deshalb, weil, wenn er sein Dasein bis zur gesetzlichen Frist fortgeschleppt Hütte, mächtige Strömungen, die seit kurzem in unserm Volksleben hervorgebrochen sind, im Sande hätten verlaufen können, ohne ihren parlamentarischen Ausdruck zu finden. Der Antisemitismus ist in deu letzten Jahren trotz (oder wegen) alles wütenden Geschreis der Judenpresse und trotz der Thorheiten eines Ahlwarot eine Macht geworden, mit der man in zahlreichen Wahlkreisen wird rechnen müssen, und er wird weiter wachsen, denn — man täusche sich darüber nicht! — die gebildete Jngend ist heutzutage weithin nicht liberal, sondern antisemitisch. Der gewerbliche Mittelstand ist es müde, sich mit Redensarten und Shmpathie- kuudgebuugen abspeisen zu lassen, während er in der That dem Kapitalismus und Großiudustrialismus wehrlos zur Aufsaugung überlassen bleibt, und mit einer geradezu elementaren Gewalt hat der „Bund der Landwirte" bewiesen, daß die Landwirtschaft, der sich immer noch Gott sei Dank der größte Teil des deutschen Volkes widmet, aufhören will, der geduldige Amboß für den Hammer des großstädtischen liberalen Kapitalismus zu sein. Alle diese Rich¬ tungen bilden, zusammen mit verwandten Strömungen, die in dem Zentrum, der einzigen Volkspartei des Reichstages neben der Sozialdemokratie, vertreten sind, einen lauten Protest gegen die von dem städtischen Liberalismus be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/347>, abgerufen am 01.07.2024.