Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Interessenvertretung und Bundesrat

ihnen bisher hat erkennen lassen, daß er zu einem solchen Kampfe den Mut,
die Willenskraft und die schöpferische Gestaltungskraft besitze. Die letzte Eigen¬
schaft ist aber die wichtigste für den zukünftigen Reformator behält gemeinen Stimm¬
rechts. Kühner Mut, zähe Energie würden sich finden, sobald erst ein Refor¬
mator erstanden wäre, der uns mit prophetischem Scharfblick sagen könnte,
durch welche wirklich lebenskräftige Institution das allgemeine Stimmrecht zu
ersetzen sei. Hier stehen wir aber in Deutschland vor einer absoluten Leere.
Auch nicht der Schatten eines annehmbaren Gedankens darüber, welche bessere
Organisation des Wahlrechts und der Vertretung das allgemeine Stimmrecht
ersetzen könnte, ist bisher aufgetaucht. Wer aber an den Grundlagen unsrer
politischen Organisation rütteln will, der muß vor allen Dingen wissen, auf
welche festern Grundlagen er unsern Staatenbau gründen will, wenn er nicht
auf Sand bauen und das ganze Gebäude zum Wanken bringen will. Die
bloße Erkenntnis der offenkundiger Mängel unsers Verfassungsbaues, nament¬
lich der Unvereinbarkeit des allgemeinen Stimmrechts mit dem dauernden Be¬
stand einer sozialen Monarchie genügt nicht. Wir würden in wahnwitzige Bahnen
einlenken, wenn wir einreißen wollten, ehe wir wissen, ob wir besser und fester
wiederbauen können. Das wäre sozialdemokratisches Gebahren, aber kein mon¬
archisch-staatserhaltendes. Für uns ist deshalb jede Änderung der Neichs-
vertretung und der Reichswahlordnung zur Zeit noch ultim" r^dio, die erst
dann in Frage kommen könnte, wenn der Krieg unvermeidlich geworden wäre.

Und doch verlangt das Volk von Tag zu Tag dringender nach einer
wirksamen Vertretung seiner wirtschaftlichen Interessen und beginnt schon ver¬
einzelt seine Unzufriedenheit mit den bestehenden wirtschaftlichen Zuständen ans
die Staatsleitung zu übertragen! Wir fragen jeden ernsten deutschen Mann:
Soll diese Entfremdung vou Minute zu Minute wachse"? Wohin soll es
führen, wenn sich die konservativsten Teile des Volkes innerlich mehr
und mehr von König und Vaterland abwenden? Hier muß Abhilfe geschafft
werden, wenn die Zustände nicht haltlos werden sollen. Daß Büreaukratie
und Parlament dem nicht gewachsen sind, fühlt jeder deutsche Bürger und
Landmann heute instinktiv. Wer nicht einen Strohhalm sein eigen nennt, wer
mit dem Volks- und Erwerbsleben der Nation gar keine persönliche Fühlung
hat, kann selbst beim besten Willen für die Leiden des Volkes kein wirkliches
Verständnis haben, es fehlt ihm eben an dein geeigneten Organ der Erkenntnis.
Wohl kann man ohne ein solches die statistischen Tabellen über Einfuhr und
Ausfuhr, über Erzeugung und Verbrauch virtuos beherrschen. Aber die Haupt¬
sache: wie diese toten Zahlen auf Volkswohl und Volkswehe wirken, bleibt
dem reingezüchteten Büreaukraten fremd. Denn Volkswohl und Volkswehe ge¬
hören zu jenen wunderbaren "Imponderabilien," die wie Feuer, Licht und
Elektrizität die gewaltigsten Kräfte in sich schließen, die sich aber nicht nach
Zahl und Gewicht bestimmen lassen, sondern nur mit dem Ange wahrgenommen,


Interessenvertretung und Bundesrat

ihnen bisher hat erkennen lassen, daß er zu einem solchen Kampfe den Mut,
die Willenskraft und die schöpferische Gestaltungskraft besitze. Die letzte Eigen¬
schaft ist aber die wichtigste für den zukünftigen Reformator behält gemeinen Stimm¬
rechts. Kühner Mut, zähe Energie würden sich finden, sobald erst ein Refor¬
mator erstanden wäre, der uns mit prophetischem Scharfblick sagen könnte,
durch welche wirklich lebenskräftige Institution das allgemeine Stimmrecht zu
ersetzen sei. Hier stehen wir aber in Deutschland vor einer absoluten Leere.
Auch nicht der Schatten eines annehmbaren Gedankens darüber, welche bessere
Organisation des Wahlrechts und der Vertretung das allgemeine Stimmrecht
ersetzen könnte, ist bisher aufgetaucht. Wer aber an den Grundlagen unsrer
politischen Organisation rütteln will, der muß vor allen Dingen wissen, auf
welche festern Grundlagen er unsern Staatenbau gründen will, wenn er nicht
auf Sand bauen und das ganze Gebäude zum Wanken bringen will. Die
bloße Erkenntnis der offenkundiger Mängel unsers Verfassungsbaues, nament¬
lich der Unvereinbarkeit des allgemeinen Stimmrechts mit dem dauernden Be¬
stand einer sozialen Monarchie genügt nicht. Wir würden in wahnwitzige Bahnen
einlenken, wenn wir einreißen wollten, ehe wir wissen, ob wir besser und fester
wiederbauen können. Das wäre sozialdemokratisches Gebahren, aber kein mon¬
archisch-staatserhaltendes. Für uns ist deshalb jede Änderung der Neichs-
vertretung und der Reichswahlordnung zur Zeit noch ultim» r^dio, die erst
dann in Frage kommen könnte, wenn der Krieg unvermeidlich geworden wäre.

Und doch verlangt das Volk von Tag zu Tag dringender nach einer
wirksamen Vertretung seiner wirtschaftlichen Interessen und beginnt schon ver¬
einzelt seine Unzufriedenheit mit den bestehenden wirtschaftlichen Zuständen ans
die Staatsleitung zu übertragen! Wir fragen jeden ernsten deutschen Mann:
Soll diese Entfremdung vou Minute zu Minute wachse»? Wohin soll es
führen, wenn sich die konservativsten Teile des Volkes innerlich mehr
und mehr von König und Vaterland abwenden? Hier muß Abhilfe geschafft
werden, wenn die Zustände nicht haltlos werden sollen. Daß Büreaukratie
und Parlament dem nicht gewachsen sind, fühlt jeder deutsche Bürger und
Landmann heute instinktiv. Wer nicht einen Strohhalm sein eigen nennt, wer
mit dem Volks- und Erwerbsleben der Nation gar keine persönliche Fühlung
hat, kann selbst beim besten Willen für die Leiden des Volkes kein wirkliches
Verständnis haben, es fehlt ihm eben an dein geeigneten Organ der Erkenntnis.
Wohl kann man ohne ein solches die statistischen Tabellen über Einfuhr und
Ausfuhr, über Erzeugung und Verbrauch virtuos beherrschen. Aber die Haupt¬
sache: wie diese toten Zahlen auf Volkswohl und Volkswehe wirken, bleibt
dem reingezüchteten Büreaukraten fremd. Denn Volkswohl und Volkswehe ge¬
hören zu jenen wunderbaren „Imponderabilien," die wie Feuer, Licht und
Elektrizität die gewaltigsten Kräfte in sich schließen, die sich aber nicht nach
Zahl und Gewicht bestimmen lassen, sondern nur mit dem Ange wahrgenommen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0301" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214756"/>
          <fw type="header" place="top"> Interessenvertretung und Bundesrat</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1151" prev="#ID_1150"> ihnen bisher hat erkennen lassen, daß er zu einem solchen Kampfe den Mut,<lb/>
die Willenskraft und die schöpferische Gestaltungskraft besitze. Die letzte Eigen¬<lb/>
schaft ist aber die wichtigste für den zukünftigen Reformator behält gemeinen Stimm¬<lb/>
rechts. Kühner Mut, zähe Energie würden sich finden, sobald erst ein Refor¬<lb/>
mator erstanden wäre, der uns mit prophetischem Scharfblick sagen könnte,<lb/>
durch welche wirklich lebenskräftige Institution das allgemeine Stimmrecht zu<lb/>
ersetzen sei. Hier stehen wir aber in Deutschland vor einer absoluten Leere.<lb/>
Auch nicht der Schatten eines annehmbaren Gedankens darüber, welche bessere<lb/>
Organisation des Wahlrechts und der Vertretung das allgemeine Stimmrecht<lb/>
ersetzen könnte, ist bisher aufgetaucht. Wer aber an den Grundlagen unsrer<lb/>
politischen Organisation rütteln will, der muß vor allen Dingen wissen, auf<lb/>
welche festern Grundlagen er unsern Staatenbau gründen will, wenn er nicht<lb/>
auf Sand bauen und das ganze Gebäude zum Wanken bringen will. Die<lb/>
bloße Erkenntnis der offenkundiger Mängel unsers Verfassungsbaues, nament¬<lb/>
lich der Unvereinbarkeit des allgemeinen Stimmrechts mit dem dauernden Be¬<lb/>
stand einer sozialen Monarchie genügt nicht. Wir würden in wahnwitzige Bahnen<lb/>
einlenken, wenn wir einreißen wollten, ehe wir wissen, ob wir besser und fester<lb/>
wiederbauen können. Das wäre sozialdemokratisches Gebahren, aber kein mon¬<lb/>
archisch-staatserhaltendes. Für uns ist deshalb jede Änderung der Neichs-<lb/>
vertretung und der Reichswahlordnung zur Zeit noch ultim» r^dio, die erst<lb/>
dann in Frage kommen könnte, wenn der Krieg unvermeidlich geworden wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1152" next="#ID_1153"> Und doch verlangt das Volk von Tag zu Tag dringender nach einer<lb/>
wirksamen Vertretung seiner wirtschaftlichen Interessen und beginnt schon ver¬<lb/>
einzelt seine Unzufriedenheit mit den bestehenden wirtschaftlichen Zuständen ans<lb/>
die Staatsleitung zu übertragen! Wir fragen jeden ernsten deutschen Mann:<lb/>
Soll diese Entfremdung vou Minute zu Minute wachse»? Wohin soll es<lb/>
führen, wenn sich die konservativsten Teile des Volkes innerlich mehr<lb/>
und mehr von König und Vaterland abwenden? Hier muß Abhilfe geschafft<lb/>
werden, wenn die Zustände nicht haltlos werden sollen. Daß Büreaukratie<lb/>
und Parlament dem nicht gewachsen sind, fühlt jeder deutsche Bürger und<lb/>
Landmann heute instinktiv. Wer nicht einen Strohhalm sein eigen nennt, wer<lb/>
mit dem Volks- und Erwerbsleben der Nation gar keine persönliche Fühlung<lb/>
hat, kann selbst beim besten Willen für die Leiden des Volkes kein wirkliches<lb/>
Verständnis haben, es fehlt ihm eben an dein geeigneten Organ der Erkenntnis.<lb/>
Wohl kann man ohne ein solches die statistischen Tabellen über Einfuhr und<lb/>
Ausfuhr, über Erzeugung und Verbrauch virtuos beherrschen. Aber die Haupt¬<lb/>
sache: wie diese toten Zahlen auf Volkswohl und Volkswehe wirken, bleibt<lb/>
dem reingezüchteten Büreaukraten fremd. Denn Volkswohl und Volkswehe ge¬<lb/>
hören zu jenen wunderbaren &#x201E;Imponderabilien," die wie Feuer, Licht und<lb/>
Elektrizität die gewaltigsten Kräfte in sich schließen, die sich aber nicht nach<lb/>
Zahl und Gewicht bestimmen lassen, sondern nur mit dem Ange wahrgenommen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0301] Interessenvertretung und Bundesrat ihnen bisher hat erkennen lassen, daß er zu einem solchen Kampfe den Mut, die Willenskraft und die schöpferische Gestaltungskraft besitze. Die letzte Eigen¬ schaft ist aber die wichtigste für den zukünftigen Reformator behält gemeinen Stimm¬ rechts. Kühner Mut, zähe Energie würden sich finden, sobald erst ein Refor¬ mator erstanden wäre, der uns mit prophetischem Scharfblick sagen könnte, durch welche wirklich lebenskräftige Institution das allgemeine Stimmrecht zu ersetzen sei. Hier stehen wir aber in Deutschland vor einer absoluten Leere. Auch nicht der Schatten eines annehmbaren Gedankens darüber, welche bessere Organisation des Wahlrechts und der Vertretung das allgemeine Stimmrecht ersetzen könnte, ist bisher aufgetaucht. Wer aber an den Grundlagen unsrer politischen Organisation rütteln will, der muß vor allen Dingen wissen, auf welche festern Grundlagen er unsern Staatenbau gründen will, wenn er nicht auf Sand bauen und das ganze Gebäude zum Wanken bringen will. Die bloße Erkenntnis der offenkundiger Mängel unsers Verfassungsbaues, nament¬ lich der Unvereinbarkeit des allgemeinen Stimmrechts mit dem dauernden Be¬ stand einer sozialen Monarchie genügt nicht. Wir würden in wahnwitzige Bahnen einlenken, wenn wir einreißen wollten, ehe wir wissen, ob wir besser und fester wiederbauen können. Das wäre sozialdemokratisches Gebahren, aber kein mon¬ archisch-staatserhaltendes. Für uns ist deshalb jede Änderung der Neichs- vertretung und der Reichswahlordnung zur Zeit noch ultim» r^dio, die erst dann in Frage kommen könnte, wenn der Krieg unvermeidlich geworden wäre. Und doch verlangt das Volk von Tag zu Tag dringender nach einer wirksamen Vertretung seiner wirtschaftlichen Interessen und beginnt schon ver¬ einzelt seine Unzufriedenheit mit den bestehenden wirtschaftlichen Zuständen ans die Staatsleitung zu übertragen! Wir fragen jeden ernsten deutschen Mann: Soll diese Entfremdung vou Minute zu Minute wachse»? Wohin soll es führen, wenn sich die konservativsten Teile des Volkes innerlich mehr und mehr von König und Vaterland abwenden? Hier muß Abhilfe geschafft werden, wenn die Zustände nicht haltlos werden sollen. Daß Büreaukratie und Parlament dem nicht gewachsen sind, fühlt jeder deutsche Bürger und Landmann heute instinktiv. Wer nicht einen Strohhalm sein eigen nennt, wer mit dem Volks- und Erwerbsleben der Nation gar keine persönliche Fühlung hat, kann selbst beim besten Willen für die Leiden des Volkes kein wirkliches Verständnis haben, es fehlt ihm eben an dein geeigneten Organ der Erkenntnis. Wohl kann man ohne ein solches die statistischen Tabellen über Einfuhr und Ausfuhr, über Erzeugung und Verbrauch virtuos beherrschen. Aber die Haupt¬ sache: wie diese toten Zahlen auf Volkswohl und Volkswehe wirken, bleibt dem reingezüchteten Büreaukraten fremd. Denn Volkswohl und Volkswehe ge¬ hören zu jenen wunderbaren „Imponderabilien," die wie Feuer, Licht und Elektrizität die gewaltigsten Kräfte in sich schließen, die sich aber nicht nach Zahl und Gewicht bestimmen lassen, sondern nur mit dem Ange wahrgenommen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/301
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/301>, abgerufen am 03.07.2024.