Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.Interessenvertretung und Bundesrat als der andre, und in einer Frage, deren Lösung durch bisher unbekannte Ge¬ In einem monarchischen Staat ist die Lösung einer solchen fundamen¬ Wie und wo aber kann die Regierung den Hebel ansetzen, ohne den wohl- Wer wie das deutsche Volk jetzt unter dem Eindruck steht, den das un¬ Und doch, wer hätte heute wirklich die Macht und den Mut, deu Kampf Interessenvertretung und Bundesrat als der andre, und in einer Frage, deren Lösung durch bisher unbekannte Ge¬ In einem monarchischen Staat ist die Lösung einer solchen fundamen¬ Wie und wo aber kann die Regierung den Hebel ansetzen, ohne den wohl- Wer wie das deutsche Volk jetzt unter dem Eindruck steht, den das un¬ Und doch, wer hätte heute wirklich die Macht und den Mut, deu Kampf <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0300" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214755"/> <fw type="header" place="top"> Interessenvertretung und Bundesrat</fw><lb/> <p xml:id="ID_1146" prev="#ID_1145"> als der andre, und in einer Frage, deren Lösung durch bisher unbekannte Ge¬<lb/> biete führt, hat jeder Pionier das Recht und die Pflicht, zu sprechen, wenn er<lb/> in dieser uuwegsnmeu Gegend einen Pfad gefunden zu haben glaubt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1147"> In einem monarchischen Staat ist die Lösung einer solchen fundamen¬<lb/> talen Frage zunächst Aufgabe der Regierung. Deshalb wenden sich in<lb/> Deutschland heute alle Blicke fragend nach oben. Der einzelne kann nur an¬<lb/> regend oder aufklärend wirken, die Führung, die Entscheidung gehört der mon¬<lb/> archischen Staatsleitung. Erst wenn sich diese dauernd ihrer Aufgabe nicht<lb/> gewachsen zeigt, denkt das Volk an Selbsthilfe. Im Interesse der Monarchie<lb/> liegt es aber, daß ein solcher Zeitpunkt in Deutschland niemals eintrete.</p><lb/> <p xml:id="ID_1148"> Wie und wo aber kann die Regierung den Hebel ansetzen, ohne den wohl-<lb/> gefügten Bau Deutschlands zu erschüttern? Verfassungsänderungen sind immer<lb/> gefährliche Operationen, namentlich in einem so jungen Staatswesen, wie es<lb/> das deutsche Reich ist. Wer dazu schreiten muß, der sehe wohl zu, daß er<lb/> das Messer an der richtigen Stelle ansetze und den Schnitt nicht tiefer mache,<lb/> als zur Heilung unbedingt nötig ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1149"> Wer wie das deutsche Volk jetzt unter dem Eindruck steht, den das un¬<lb/> befriedigende Scheinleben unsers Reichstags in den letzten Monaten auf alle<lb/> Kreise gemacht hat, wer die völlige Unfruchtbarkeit der Verhandlungen, die<lb/> Furcht vor jeder ernsten Entscheidung, den Mangel an allem eignen Vorgehen,<lb/> den Wirrwarr der Meinungen, die leeren Bänke, das Sichbreitmachen einzelner<lb/> parlamentarischer Routiniers, die Unfähigkeit, selbst die wichtigsten Fragen,<lb/> wenn sie von einem Fraktiousgegner angeregt werden, ernst und sachlich zu<lb/> behandeln, kurz, das ganze politische Babel in unserm Parlament täglich bitter<lb/> empfunden hat und mit den leidenden Berufsständen unsers Volkes in den Er-<lb/> lösungsrnf (!) nach Interessenvertretung einstimmt, der wird dabei natürlich an<lb/> eine anderweitige Organisation des Reichstags, an Änderung der Wahlord¬<lb/> nung u. s. w. denken. Änderung des Reichstags und Umwandlung in eine<lb/> Interessenvertretung — das ist der naheliegende Gedanke, der heute unaus¬<lb/> gesprochen in den Köpfen von Millionen deutscher Bürger klingt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1150" next="#ID_1151"> Und doch, wer hätte heute wirklich die Macht und den Mut, deu Kampf<lb/> mit dem allgemeinen Stimmrecht aufzunehmen! Die Zeit hierfür scheint uns<lb/> vorüber oder — vielleicht noch nicht gekommen. Fürst Bismarck, im Vollbesitz<lb/> seiner mächtigen Stellung, hätte es vielleicht ohne Gefahr vermocht, als er<lb/> einsah, daß das von ihm zur Bekämpfung des gefürchteten fürstlichen Parti¬<lb/> kularismus in die Reichsverfassung eingefügte allgemeine Stimmrecht ebenso<lb/> überflüssig wie gefährlich war. Er hat den Versuch nicht gemacht — aus<lb/> welchen Gründen, entzieht sich zur Zeit noch der Beurteilung. Heute, nach¬<lb/> dem auch die ruhigen Massen des Volkes zum Bewußtsein der ihnen durch<lb/> das allgemeine Stimmrecht verliehenen Macht gekommen sind, wäre der Versuch<lb/> für seine Nachfolger unendlich gefährlicher, abgesehen davon, daß niemand unter</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0300]
Interessenvertretung und Bundesrat
als der andre, und in einer Frage, deren Lösung durch bisher unbekannte Ge¬
biete führt, hat jeder Pionier das Recht und die Pflicht, zu sprechen, wenn er
in dieser uuwegsnmeu Gegend einen Pfad gefunden zu haben glaubt.
In einem monarchischen Staat ist die Lösung einer solchen fundamen¬
talen Frage zunächst Aufgabe der Regierung. Deshalb wenden sich in
Deutschland heute alle Blicke fragend nach oben. Der einzelne kann nur an¬
regend oder aufklärend wirken, die Führung, die Entscheidung gehört der mon¬
archischen Staatsleitung. Erst wenn sich diese dauernd ihrer Aufgabe nicht
gewachsen zeigt, denkt das Volk an Selbsthilfe. Im Interesse der Monarchie
liegt es aber, daß ein solcher Zeitpunkt in Deutschland niemals eintrete.
Wie und wo aber kann die Regierung den Hebel ansetzen, ohne den wohl-
gefügten Bau Deutschlands zu erschüttern? Verfassungsänderungen sind immer
gefährliche Operationen, namentlich in einem so jungen Staatswesen, wie es
das deutsche Reich ist. Wer dazu schreiten muß, der sehe wohl zu, daß er
das Messer an der richtigen Stelle ansetze und den Schnitt nicht tiefer mache,
als zur Heilung unbedingt nötig ist.
Wer wie das deutsche Volk jetzt unter dem Eindruck steht, den das un¬
befriedigende Scheinleben unsers Reichstags in den letzten Monaten auf alle
Kreise gemacht hat, wer die völlige Unfruchtbarkeit der Verhandlungen, die
Furcht vor jeder ernsten Entscheidung, den Mangel an allem eignen Vorgehen,
den Wirrwarr der Meinungen, die leeren Bänke, das Sichbreitmachen einzelner
parlamentarischer Routiniers, die Unfähigkeit, selbst die wichtigsten Fragen,
wenn sie von einem Fraktiousgegner angeregt werden, ernst und sachlich zu
behandeln, kurz, das ganze politische Babel in unserm Parlament täglich bitter
empfunden hat und mit den leidenden Berufsständen unsers Volkes in den Er-
lösungsrnf (!) nach Interessenvertretung einstimmt, der wird dabei natürlich an
eine anderweitige Organisation des Reichstags, an Änderung der Wahlord¬
nung u. s. w. denken. Änderung des Reichstags und Umwandlung in eine
Interessenvertretung — das ist der naheliegende Gedanke, der heute unaus¬
gesprochen in den Köpfen von Millionen deutscher Bürger klingt.
Und doch, wer hätte heute wirklich die Macht und den Mut, deu Kampf
mit dem allgemeinen Stimmrecht aufzunehmen! Die Zeit hierfür scheint uns
vorüber oder — vielleicht noch nicht gekommen. Fürst Bismarck, im Vollbesitz
seiner mächtigen Stellung, hätte es vielleicht ohne Gefahr vermocht, als er
einsah, daß das von ihm zur Bekämpfung des gefürchteten fürstlichen Parti¬
kularismus in die Reichsverfassung eingefügte allgemeine Stimmrecht ebenso
überflüssig wie gefährlich war. Er hat den Versuch nicht gemacht — aus
welchen Gründen, entzieht sich zur Zeit noch der Beurteilung. Heute, nach¬
dem auch die ruhigen Massen des Volkes zum Bewußtsein der ihnen durch
das allgemeine Stimmrecht verliehenen Macht gekommen sind, wäre der Versuch
für seine Nachfolger unendlich gefährlicher, abgesehen davon, daß niemand unter
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |