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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Interessenvertretung und Bundesrat

Der Ruf nach Interessenvertretung, der heute aus allen Gauen Deutsch¬
lands ertönt von dem wilden, rauhen Wutschrei der Sozialdemokratin? und
Antisemiten bis zu deu Klageliedern der Handwerker und Landwirte, deutet
den kommenden Sturm an. Der erfahrene Pilot hat seine Anzeichen längst
bemerkt und den Mann am Steuerruder gewarnt. Möge dieser rechtzeitig
seine Vorbereitungen treffen und das Staatsschiff in ruhiges Fahrwasser leiten.
Das ist die große Aufgabe, vor der die deutsche Staatsleitung heute steht.
Die Bewegung sich selbst überlassen, hieße einfach die Konfusion zum Negie-
rungsprinzip machen. Die Politik des laissW g,11or -- la politiciue clos im-
dsoils -- wäre einer solchen Bewegung gegenüber ein Verbrechen. Wir be¬
dürfen einer rettenden That, wenn der Wirrwarr, die Zersetzung, das politische
Babel nicht unheilbar werden soll! Werden die Männer am Nuder dieser Auf¬
gabe gewachsen sein?

Graf von Caprivi hat die Führer der agrarischen Bewegung davor ge¬
warnt, einen Sturm zu entfesseln, den zu bannen sie leicht die Macht verlieren
könnten. Er hat die Konservativen gemahnt, die demagogischen Bahnen zu
verlassen, in die der Antisemitismus eingelenkt habe. Vergebliche Mühe! Be¬
wegungen von so elementarer Gewalt wie die Sozialdemokratie, der Antisemi¬
tismus, die agrarische Frage werden überhaupt nicht gemacht, sie macheu sich
selbst. Der einzelne ist nur Werkzeug, nicht Urheber, er schiebt nicht, er wird
geschoben, und wenn er zurücktritt, so treten zehn andre an seine Stelle. War¬
nungen, auch die wohlgemeintesten, haben solchen elementaren Kräften gegen¬
über meist die entgegengesetzte Wirkung, sie vergrößern die Macht des Sturmes,
statt ihn zu besänftigen. Demagogisch nannte man den Aufschrei des Volkes,
sich selbst zu helfen. Gewiß! Demagogisch ist alles, was das Volk selbst
machen muß, weil es ihm von seinen berufnen Leitern versagt wird. Dema¬
gogisch ist vor allen Dingen das allgemeine Stimmrecht. Kann man sich
wundern, wenn das Volk nach sechsundzwanzigjähriger vortrefflicher Schulung
dnrch die politischen Parteien endlich die Waffe für sich gebrauchen lernt, die
es bisher nur im Interesse andrer geschwungen hat? Ist das uicht die not¬
wendige und unausbleibliche Folge unsrer fundamentalsten Verfassungs-
bestimmung, eine Folge, die jedes politische Kind schon 1867 voraussehen
konnte? Was soll also der Vorwurf "demagogisch" einer solchen demagogischen
Verfassung gegenüber bedeuten? Was will mau damit erreichen? Sieht Graf
Caprivi nicht, daß gerade der Aufschrei unsers Volkes nach Interessenvertre¬
tung vielleicht die Möglichkeit bietet, aus den demagogischen Unmöglichkeiten,
die die Reichsverfassung nun einmal geschaffen hat, auf gesetzlichem Wege
herauszukommen? Wohlgemerkt, wenn die Bewegung richtig gewürdigt und
staatsmännisch geleitet wird! Das ist die Ausgabe der Neichsregierung.

Doch wie ist diese Aufgabe zu erfüllen?

Nun, es führen viele Wege nach Rom, der eine schwieriger und steiler


Interessenvertretung und Bundesrat

Der Ruf nach Interessenvertretung, der heute aus allen Gauen Deutsch¬
lands ertönt von dem wilden, rauhen Wutschrei der Sozialdemokratin? und
Antisemiten bis zu deu Klageliedern der Handwerker und Landwirte, deutet
den kommenden Sturm an. Der erfahrene Pilot hat seine Anzeichen längst
bemerkt und den Mann am Steuerruder gewarnt. Möge dieser rechtzeitig
seine Vorbereitungen treffen und das Staatsschiff in ruhiges Fahrwasser leiten.
Das ist die große Aufgabe, vor der die deutsche Staatsleitung heute steht.
Die Bewegung sich selbst überlassen, hieße einfach die Konfusion zum Negie-
rungsprinzip machen. Die Politik des laissW g,11or — la politiciue clos im-
dsoils — wäre einer solchen Bewegung gegenüber ein Verbrechen. Wir be¬
dürfen einer rettenden That, wenn der Wirrwarr, die Zersetzung, das politische
Babel nicht unheilbar werden soll! Werden die Männer am Nuder dieser Auf¬
gabe gewachsen sein?

Graf von Caprivi hat die Führer der agrarischen Bewegung davor ge¬
warnt, einen Sturm zu entfesseln, den zu bannen sie leicht die Macht verlieren
könnten. Er hat die Konservativen gemahnt, die demagogischen Bahnen zu
verlassen, in die der Antisemitismus eingelenkt habe. Vergebliche Mühe! Be¬
wegungen von so elementarer Gewalt wie die Sozialdemokratie, der Antisemi¬
tismus, die agrarische Frage werden überhaupt nicht gemacht, sie macheu sich
selbst. Der einzelne ist nur Werkzeug, nicht Urheber, er schiebt nicht, er wird
geschoben, und wenn er zurücktritt, so treten zehn andre an seine Stelle. War¬
nungen, auch die wohlgemeintesten, haben solchen elementaren Kräften gegen¬
über meist die entgegengesetzte Wirkung, sie vergrößern die Macht des Sturmes,
statt ihn zu besänftigen. Demagogisch nannte man den Aufschrei des Volkes,
sich selbst zu helfen. Gewiß! Demagogisch ist alles, was das Volk selbst
machen muß, weil es ihm von seinen berufnen Leitern versagt wird. Dema¬
gogisch ist vor allen Dingen das allgemeine Stimmrecht. Kann man sich
wundern, wenn das Volk nach sechsundzwanzigjähriger vortrefflicher Schulung
dnrch die politischen Parteien endlich die Waffe für sich gebrauchen lernt, die
es bisher nur im Interesse andrer geschwungen hat? Ist das uicht die not¬
wendige und unausbleibliche Folge unsrer fundamentalsten Verfassungs-
bestimmung, eine Folge, die jedes politische Kind schon 1867 voraussehen
konnte? Was soll also der Vorwurf „demagogisch" einer solchen demagogischen
Verfassung gegenüber bedeuten? Was will mau damit erreichen? Sieht Graf
Caprivi nicht, daß gerade der Aufschrei unsers Volkes nach Interessenvertre¬
tung vielleicht die Möglichkeit bietet, aus den demagogischen Unmöglichkeiten,
die die Reichsverfassung nun einmal geschaffen hat, auf gesetzlichem Wege
herauszukommen? Wohlgemerkt, wenn die Bewegung richtig gewürdigt und
staatsmännisch geleitet wird! Das ist die Ausgabe der Neichsregierung.

Doch wie ist diese Aufgabe zu erfüllen?

Nun, es führen viele Wege nach Rom, der eine schwieriger und steiler


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[0299] Interessenvertretung und Bundesrat Der Ruf nach Interessenvertretung, der heute aus allen Gauen Deutsch¬ lands ertönt von dem wilden, rauhen Wutschrei der Sozialdemokratin? und Antisemiten bis zu deu Klageliedern der Handwerker und Landwirte, deutet den kommenden Sturm an. Der erfahrene Pilot hat seine Anzeichen längst bemerkt und den Mann am Steuerruder gewarnt. Möge dieser rechtzeitig seine Vorbereitungen treffen und das Staatsschiff in ruhiges Fahrwasser leiten. Das ist die große Aufgabe, vor der die deutsche Staatsleitung heute steht. Die Bewegung sich selbst überlassen, hieße einfach die Konfusion zum Negie- rungsprinzip machen. Die Politik des laissW g,11or — la politiciue clos im- dsoils — wäre einer solchen Bewegung gegenüber ein Verbrechen. Wir be¬ dürfen einer rettenden That, wenn der Wirrwarr, die Zersetzung, das politische Babel nicht unheilbar werden soll! Werden die Männer am Nuder dieser Auf¬ gabe gewachsen sein? Graf von Caprivi hat die Führer der agrarischen Bewegung davor ge¬ warnt, einen Sturm zu entfesseln, den zu bannen sie leicht die Macht verlieren könnten. Er hat die Konservativen gemahnt, die demagogischen Bahnen zu verlassen, in die der Antisemitismus eingelenkt habe. Vergebliche Mühe! Be¬ wegungen von so elementarer Gewalt wie die Sozialdemokratie, der Antisemi¬ tismus, die agrarische Frage werden überhaupt nicht gemacht, sie macheu sich selbst. Der einzelne ist nur Werkzeug, nicht Urheber, er schiebt nicht, er wird geschoben, und wenn er zurücktritt, so treten zehn andre an seine Stelle. War¬ nungen, auch die wohlgemeintesten, haben solchen elementaren Kräften gegen¬ über meist die entgegengesetzte Wirkung, sie vergrößern die Macht des Sturmes, statt ihn zu besänftigen. Demagogisch nannte man den Aufschrei des Volkes, sich selbst zu helfen. Gewiß! Demagogisch ist alles, was das Volk selbst machen muß, weil es ihm von seinen berufnen Leitern versagt wird. Dema¬ gogisch ist vor allen Dingen das allgemeine Stimmrecht. Kann man sich wundern, wenn das Volk nach sechsundzwanzigjähriger vortrefflicher Schulung dnrch die politischen Parteien endlich die Waffe für sich gebrauchen lernt, die es bisher nur im Interesse andrer geschwungen hat? Ist das uicht die not¬ wendige und unausbleibliche Folge unsrer fundamentalsten Verfassungs- bestimmung, eine Folge, die jedes politische Kind schon 1867 voraussehen konnte? Was soll also der Vorwurf „demagogisch" einer solchen demagogischen Verfassung gegenüber bedeuten? Was will mau damit erreichen? Sieht Graf Caprivi nicht, daß gerade der Aufschrei unsers Volkes nach Interessenvertre¬ tung vielleicht die Möglichkeit bietet, aus den demagogischen Unmöglichkeiten, die die Reichsverfassung nun einmal geschaffen hat, auf gesetzlichem Wege herauszukommen? Wohlgemerkt, wenn die Bewegung richtig gewürdigt und staatsmännisch geleitet wird! Das ist die Ausgabe der Neichsregierung. Doch wie ist diese Aufgabe zu erfüllen? Nun, es führen viele Wege nach Rom, der eine schwieriger und steiler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/299>, abgerufen am 03.07.2024.