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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Teils die Aatzenprinzessin

nicht einfallen. Ich will Ihnen erzählen, wie es kam. Ich habe vor vielen
Jahren eine kleine Arbeit über das Wesen des Märchens geschrieben, und als
ich gestern in meinen vergilbten Papieren blätterte, kam mir die Abhandlung
wieder unter die Hände. Darin steht auch der Satz: "Ein rechtes Märchen soll
trotz seines phantastischen Aufputzes in seinen Hauptpunkten wahrscheinlich sein,
und nirgends darf sich dein Leser oder Hörer das Gefühl aufdränge", daß das
gesagte unglaubwürdig oder unmöglich sei. Wie der Regenbogen mit beiden
Enden auf der Erde fußt und sich in kühnem Schwunge farbenprächtig über alles
Irdische erhebt, so soll sich auch das Märchen auf dem Grunde der Wirklichkeit
in den Himmel reiner Poesie erheben. Sein Anfang und sein Ende sei auf der
Erde." Ich dachte an meine Jugend und an ein Märchenbuch, worin ich als
Knabe in stillen Nächten mit Begeisterung gelesen habe. Es war die Gallandsche
Bearbeitung der Märchen von Tausend und einer Nacht, die damals ihren
Triumphzug durch Europa hielten. Es überkam mich eine wunderbare Sehn¬
sucht nach jener fernen, seligen Jugendzeit. Wohin mochte das Buch, dem ich
so viele glückliche Stunden verdankte, gekommen sein? Halt! Vor Jahren
hatte ich eine große Kiste mit alten Büchern, die in meiner Bibliothek zu viel
Raum einnahmen, auf den Boden bringen lassen. In dieser Kiste mußte auch
das Märchenbuch sein -- ja ich entsann mich genau, daß ich es damals
hineingelegt hatte. "Sindbad der Seefahrer," so hatte meine Lieblingsgeschichte
geheißen, und dann Alladins Wnnderlmnpe -- ach, wer könnte die Wunder¬
lampe vergessen? Der dienstbare Geist der Lampe, die Schüsseln mit den
Früchten aus Edelstein, das ärmliche Hüttchen der Mutter, der Palast des
Sultans, der Sultan selber und sein Großwesir, und endlich seine liebreizende
Tochter! Wie hieß sie doch? Ich sann darüber nach, aber der Name wollte
mir nicht einfallen. Haben Sie eine Ahnung, wie unangenehm es ist, wenn
man sich nicht auf einen Namen besinnen kann? Ich wäre gestern Abend
beinahe zu Ihnen hinaufgekommen, doch es war schon zu spät. Aber können
Sie mir vielleicht jetzt helfen? Wissen Sie den Namen, Herr Hochstedt?

Justus nannte einige orientalische Namen, die ihm gerade in den Sinn
kamen, aber der richtige war nicht darunter.

Wie ich höre, fuhr der Alte fort, hat man jetzt eine neue Methode des
Sprachunterrichts erfunden, die das Auswendiglernen von Vokabeln ungemein
erleichtern soll. Fürst Orlowski, dem ich heute früh im Kollegium vorgestellt
wurde, erzählte mir davou ganz sonderbare Sachen.

Justus hatte sich auf eiuen Sessel am Fenster niedergelassen. Da fiel
sein Blick auf ein Blatt der "Leipziger Zeitungen," das vor ihm auf dem
Fensterbrete lag. Er las das Verzeichnis der angekommnen Fremden, an
dessen Spitze der Name des Fürsten stand, und als er das Blatt umwandte,
fand er einen Bericht über einen merkwürdigen Kampf, den ein venezianisches
Fahrzeug gegen marokkanische Piraten ausgefochten hatte.


Teils die Aatzenprinzessin

nicht einfallen. Ich will Ihnen erzählen, wie es kam. Ich habe vor vielen
Jahren eine kleine Arbeit über das Wesen des Märchens geschrieben, und als
ich gestern in meinen vergilbten Papieren blätterte, kam mir die Abhandlung
wieder unter die Hände. Darin steht auch der Satz: „Ein rechtes Märchen soll
trotz seines phantastischen Aufputzes in seinen Hauptpunkten wahrscheinlich sein,
und nirgends darf sich dein Leser oder Hörer das Gefühl aufdränge», daß das
gesagte unglaubwürdig oder unmöglich sei. Wie der Regenbogen mit beiden
Enden auf der Erde fußt und sich in kühnem Schwunge farbenprächtig über alles
Irdische erhebt, so soll sich auch das Märchen auf dem Grunde der Wirklichkeit
in den Himmel reiner Poesie erheben. Sein Anfang und sein Ende sei auf der
Erde." Ich dachte an meine Jugend und an ein Märchenbuch, worin ich als
Knabe in stillen Nächten mit Begeisterung gelesen habe. Es war die Gallandsche
Bearbeitung der Märchen von Tausend und einer Nacht, die damals ihren
Triumphzug durch Europa hielten. Es überkam mich eine wunderbare Sehn¬
sucht nach jener fernen, seligen Jugendzeit. Wohin mochte das Buch, dem ich
so viele glückliche Stunden verdankte, gekommen sein? Halt! Vor Jahren
hatte ich eine große Kiste mit alten Büchern, die in meiner Bibliothek zu viel
Raum einnahmen, auf den Boden bringen lassen. In dieser Kiste mußte auch
das Märchenbuch sein — ja ich entsann mich genau, daß ich es damals
hineingelegt hatte. „Sindbad der Seefahrer," so hatte meine Lieblingsgeschichte
geheißen, und dann Alladins Wnnderlmnpe — ach, wer könnte die Wunder¬
lampe vergessen? Der dienstbare Geist der Lampe, die Schüsseln mit den
Früchten aus Edelstein, das ärmliche Hüttchen der Mutter, der Palast des
Sultans, der Sultan selber und sein Großwesir, und endlich seine liebreizende
Tochter! Wie hieß sie doch? Ich sann darüber nach, aber der Name wollte
mir nicht einfallen. Haben Sie eine Ahnung, wie unangenehm es ist, wenn
man sich nicht auf einen Namen besinnen kann? Ich wäre gestern Abend
beinahe zu Ihnen hinaufgekommen, doch es war schon zu spät. Aber können
Sie mir vielleicht jetzt helfen? Wissen Sie den Namen, Herr Hochstedt?

Justus nannte einige orientalische Namen, die ihm gerade in den Sinn
kamen, aber der richtige war nicht darunter.

Wie ich höre, fuhr der Alte fort, hat man jetzt eine neue Methode des
Sprachunterrichts erfunden, die das Auswendiglernen von Vokabeln ungemein
erleichtern soll. Fürst Orlowski, dem ich heute früh im Kollegium vorgestellt
wurde, erzählte mir davou ganz sonderbare Sachen.

Justus hatte sich auf eiuen Sessel am Fenster niedergelassen. Da fiel
sein Blick auf ein Blatt der „Leipziger Zeitungen," das vor ihm auf dem
Fensterbrete lag. Er las das Verzeichnis der angekommnen Fremden, an
dessen Spitze der Name des Fürsten stand, und als er das Blatt umwandte,
fand er einen Bericht über einen merkwürdigen Kampf, den ein venezianisches
Fahrzeug gegen marokkanische Piraten ausgefochten hatte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/285>, abgerufen am 23.07.2024.