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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Hebbels Briefwechsel

Zeit, wo die kleinlichsten Kämpfe doktrinärer Parteien im Vordergründe der
Teilnahme standen, neben der nationalen nur die soziale Frage als eine
eigentlich brennende Frage ansah. Er glaubte zwar nicht an jene völlige
Aufhebung und Ausgleichung der Unterschiede, von der ein großer Teil unsrer
Sozialdemokratie träumt, er hielt vielmehr die Glücksunterschiede für etwas
mit der Welt selbst gegebenes. In einem Briefe aus seinem letzten Lebens¬
jahre heißt es: "Die nähere Entwicklung Ihres Begriffs von der sozialen
Tragödie hat mich außerordentlich interessirt, wie ich Ihnen wohl nicht erst
zu versichern brauche. Dennoch kann ich meinen ästhetischen Standpunkt nicht
aufgeben. Ich kenne den furchtbaren Abgrund, den Sie mir enthüllen, ich
weiß, welch eine Unsumme menschlichen Elends ihn erfüllt. Auch schaue ich
nicht etwa aus der Vogelperspektive auf ihn herab, ich bin schon von Kindheit
auf mit ihm vertraut, denn wenn meine Eltern auch nicht gerade darin lagen,
so kletterten sie doch am Rande herum und hielten sich nur mühsam mit
blutigen Nägeln fest. Aber das ist eben die mit dem Menschen selbst gesetzte,
nicht etwa erst durch einen krummen Geschichtsverlauf hervvrgerufnc allge¬
meine Misere, welche die Frage von Schuld und Versöhnung so wenig zuläßt,
wie der Tod, das zweite, allgemeine, blind treffende Übel und deshalb eben
so wenig wie dieser zur Tragödie führt." ^) Wer jedoch aus dieser Be¬
trachtung des Weltelends folgern wollte, Hebbel sei ein Manchestermann ge¬
wesen, der würde gründlich irren. Wenn er auch wußte, daß kein König und
überhaupt kein irdisches Regiment die Erde in ein Paradies verwandeln kann,
so war er doch der Meinung, daß wenigstens das Ziel von allen immer und
immer wieder erstrebt werden müsse, die in Wahrheit herrschen wollen, und
empfand lebhaft, ja leidenschaftlich, daß die Zeiten des Geschehcnlassens und
Gehenlassens vorüber seien. Nichts bewunderte er an Napoleon III. so sehr,
als seine Fürsorge für die französischen Arbeiter, nichts erfüllte ihn mit
größerer Bitterkeit oder dunklerer Sorge, als die Blindheit so vieler Hoch¬
stehenden gegen das furchtbare Anwachsen des Pauperismus, gegen die ver¬
hängnisvolle Grausamkeit der jüngste" Kultur- und Lebensanschauung, die es
fertig gebracht hat, den Himmel einer bescheidnen Lebenslage in eine Hölle zu
verwandeln. Die Empfindungen, die in dem Gedicht "Mutter und Kind" der
Hvlsteiner Christian über die wachsende Erschwerung eines einfachen menschlichen
Glücks an den Tag legt, waren zum guten Teil Hebbels eigne Empfindungen,
der Entschluß des Großkaufmanns, die bei ihm zusammenströmenden Schätze
für das Allgemeine zu verwenden, deutet an, in welcher Weise der Dichter
eine friedliche Lösung des ungeheuern Problems für denkbar und möglich hielt.
Auch hier war der lichtern Auffassung die dunkle vorangegangen. Noch in
Paris, im Jahre 1844, stellte sich ihm die Zukunft in herzpressender Furcht-



') An Siegmund Engländer; Wien, 27. Januar 18t!8.
Friedrich Hebbels Briefwechsel

Zeit, wo die kleinlichsten Kämpfe doktrinärer Parteien im Vordergründe der
Teilnahme standen, neben der nationalen nur die soziale Frage als eine
eigentlich brennende Frage ansah. Er glaubte zwar nicht an jene völlige
Aufhebung und Ausgleichung der Unterschiede, von der ein großer Teil unsrer
Sozialdemokratie träumt, er hielt vielmehr die Glücksunterschiede für etwas
mit der Welt selbst gegebenes. In einem Briefe aus seinem letzten Lebens¬
jahre heißt es: „Die nähere Entwicklung Ihres Begriffs von der sozialen
Tragödie hat mich außerordentlich interessirt, wie ich Ihnen wohl nicht erst
zu versichern brauche. Dennoch kann ich meinen ästhetischen Standpunkt nicht
aufgeben. Ich kenne den furchtbaren Abgrund, den Sie mir enthüllen, ich
weiß, welch eine Unsumme menschlichen Elends ihn erfüllt. Auch schaue ich
nicht etwa aus der Vogelperspektive auf ihn herab, ich bin schon von Kindheit
auf mit ihm vertraut, denn wenn meine Eltern auch nicht gerade darin lagen,
so kletterten sie doch am Rande herum und hielten sich nur mühsam mit
blutigen Nägeln fest. Aber das ist eben die mit dem Menschen selbst gesetzte,
nicht etwa erst durch einen krummen Geschichtsverlauf hervvrgerufnc allge¬
meine Misere, welche die Frage von Schuld und Versöhnung so wenig zuläßt,
wie der Tod, das zweite, allgemeine, blind treffende Übel und deshalb eben
so wenig wie dieser zur Tragödie führt." ^) Wer jedoch aus dieser Be¬
trachtung des Weltelends folgern wollte, Hebbel sei ein Manchestermann ge¬
wesen, der würde gründlich irren. Wenn er auch wußte, daß kein König und
überhaupt kein irdisches Regiment die Erde in ein Paradies verwandeln kann,
so war er doch der Meinung, daß wenigstens das Ziel von allen immer und
immer wieder erstrebt werden müsse, die in Wahrheit herrschen wollen, und
empfand lebhaft, ja leidenschaftlich, daß die Zeiten des Geschehcnlassens und
Gehenlassens vorüber seien. Nichts bewunderte er an Napoleon III. so sehr,
als seine Fürsorge für die französischen Arbeiter, nichts erfüllte ihn mit
größerer Bitterkeit oder dunklerer Sorge, als die Blindheit so vieler Hoch¬
stehenden gegen das furchtbare Anwachsen des Pauperismus, gegen die ver¬
hängnisvolle Grausamkeit der jüngste» Kultur- und Lebensanschauung, die es
fertig gebracht hat, den Himmel einer bescheidnen Lebenslage in eine Hölle zu
verwandeln. Die Empfindungen, die in dem Gedicht „Mutter und Kind" der
Hvlsteiner Christian über die wachsende Erschwerung eines einfachen menschlichen
Glücks an den Tag legt, waren zum guten Teil Hebbels eigne Empfindungen,
der Entschluß des Großkaufmanns, die bei ihm zusammenströmenden Schätze
für das Allgemeine zu verwenden, deutet an, in welcher Weise der Dichter
eine friedliche Lösung des ungeheuern Problems für denkbar und möglich hielt.
Auch hier war der lichtern Auffassung die dunkle vorangegangen. Noch in
Paris, im Jahre 1844, stellte sich ihm die Zukunft in herzpressender Furcht-



') An Siegmund Engländer; Wien, 27. Januar 18t!8.
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[0275] Friedrich Hebbels Briefwechsel Zeit, wo die kleinlichsten Kämpfe doktrinärer Parteien im Vordergründe der Teilnahme standen, neben der nationalen nur die soziale Frage als eine eigentlich brennende Frage ansah. Er glaubte zwar nicht an jene völlige Aufhebung und Ausgleichung der Unterschiede, von der ein großer Teil unsrer Sozialdemokratie träumt, er hielt vielmehr die Glücksunterschiede für etwas mit der Welt selbst gegebenes. In einem Briefe aus seinem letzten Lebens¬ jahre heißt es: „Die nähere Entwicklung Ihres Begriffs von der sozialen Tragödie hat mich außerordentlich interessirt, wie ich Ihnen wohl nicht erst zu versichern brauche. Dennoch kann ich meinen ästhetischen Standpunkt nicht aufgeben. Ich kenne den furchtbaren Abgrund, den Sie mir enthüllen, ich weiß, welch eine Unsumme menschlichen Elends ihn erfüllt. Auch schaue ich nicht etwa aus der Vogelperspektive auf ihn herab, ich bin schon von Kindheit auf mit ihm vertraut, denn wenn meine Eltern auch nicht gerade darin lagen, so kletterten sie doch am Rande herum und hielten sich nur mühsam mit blutigen Nägeln fest. Aber das ist eben die mit dem Menschen selbst gesetzte, nicht etwa erst durch einen krummen Geschichtsverlauf hervvrgerufnc allge¬ meine Misere, welche die Frage von Schuld und Versöhnung so wenig zuläßt, wie der Tod, das zweite, allgemeine, blind treffende Übel und deshalb eben so wenig wie dieser zur Tragödie führt." ^) Wer jedoch aus dieser Be¬ trachtung des Weltelends folgern wollte, Hebbel sei ein Manchestermann ge¬ wesen, der würde gründlich irren. Wenn er auch wußte, daß kein König und überhaupt kein irdisches Regiment die Erde in ein Paradies verwandeln kann, so war er doch der Meinung, daß wenigstens das Ziel von allen immer und immer wieder erstrebt werden müsse, die in Wahrheit herrschen wollen, und empfand lebhaft, ja leidenschaftlich, daß die Zeiten des Geschehcnlassens und Gehenlassens vorüber seien. Nichts bewunderte er an Napoleon III. so sehr, als seine Fürsorge für die französischen Arbeiter, nichts erfüllte ihn mit größerer Bitterkeit oder dunklerer Sorge, als die Blindheit so vieler Hoch¬ stehenden gegen das furchtbare Anwachsen des Pauperismus, gegen die ver¬ hängnisvolle Grausamkeit der jüngste» Kultur- und Lebensanschauung, die es fertig gebracht hat, den Himmel einer bescheidnen Lebenslage in eine Hölle zu verwandeln. Die Empfindungen, die in dem Gedicht „Mutter und Kind" der Hvlsteiner Christian über die wachsende Erschwerung eines einfachen menschlichen Glücks an den Tag legt, waren zum guten Teil Hebbels eigne Empfindungen, der Entschluß des Großkaufmanns, die bei ihm zusammenströmenden Schätze für das Allgemeine zu verwenden, deutet an, in welcher Weise der Dichter eine friedliche Lösung des ungeheuern Problems für denkbar und möglich hielt. Auch hier war der lichtern Auffassung die dunkle vorangegangen. Noch in Paris, im Jahre 1844, stellte sich ihm die Zukunft in herzpressender Furcht- ') An Siegmund Engländer; Wien, 27. Januar 18t!8.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/275>, abgerufen am 23.07.2024.