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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Theodor von Bernhardis Jugenderinnerungen

requirirten Pferden angefahren kamen; zurückweisen konnte man sie nicht, da
der Kutscher, der sie brachte, schleunigst mit seinem Wagen umkehrte und
zurückfuhr, behalten mochte man sie ebenso wenig, es blieb also nichts weiter
übrig, als sie schleunigst mit andern Pferden zu versehen und sich ihrer so
zu erledigen.

Zwischen diesen harmlosen Zeitbildern erscheint dann manchmal ein histo¬
rischer Zug, der mehr sagt als lange Schilderungen. Wenn der Herzog von
Chartres, nachdem er alles, was er bei sich trägt, verspielt hat. den Fuß auf
einen Stuhl setzt, die Brillantschnallcn seiner Schuhe auf 40 000 Franks
schätzen läßt und es sich, als er sie verloren hatte, herausstellt, daß die
Steine falsch waren, so sehen wir das ganze anoion regiillö wie in einem
grell beleuchteten Gemälde vor uns erscheinen. Einen ähnlichen Wert für die
Charakteristik Alexanders I. hat die Geschichte des Obersten von Bock, den der
Kaiser vor dem Altar umarmt, beschwört, ihm stets die Wahrheit zu sagen,
und bei der ersten freimütiger Mitteilung verhaften läßt; erst nach dem Tode
des Kaisers wurde er freigegeben, nachdem sein Aufenthaltsort Schlüsselburg
mit vieler Mühe ermittelt worden war, weil den Kommandanten der Festungen,
in denen Staatsgcfcmgne sitzen, die Namen der Unglücklichen nicht mitgeteilt,
sie vielmehr nur nach der Nummer ihrer Käsematte bezeichnet werden. Aus
seiner Zelle als gebrochner Mann entlassen, erzählt er dann von dem lange
Zeit von ihm bewohnten Lande, wo der Himmel so niedrig hängt, daß mau
darin nicht gerade stehen kann.

Grelle Streiflichter fallen auf die Napoleonische Zeit; Zeitgenossen be¬
richten über das grauenhafte Bild, das die aus Rußland flüchtenden franzö¬
sischen Kolonnen auf ihrem Tvdesmarsche hinterließen. Knorrings Bruder
war in dieser Zeit nach Moskau gereist, und die Geberden, mit denen er den
grauenhaften Eindruck beschrieb, den ihm die Rache des Volkes an den fliehen¬
den Welteroberern hinterlassen hatte, blieben bei Bernhardt bis in sein höchstes
Greisenalter lebendig. Die Trümmer Moskaus hatten im Vergleiche mit jenen
Rückzugsszenen nur einen geringen Eindruck auf Knorring gemacht. Die Nach¬
welt hebt eben aus der geschichtlichen Erinnerung nach ihrem eignen Ermessen
das heraus, womit sie den typischen Eindruck des Geschehenen verbunden
wissen will. Wie wir in unsrer Zeit zuerst an den Brand von Moskau
denken, wenn wir uns Napoleons russisches Abenteuer in seinem Ende vor¬
stellen wollen, so haftete z. B. in der Generation, die in Rom jene Ereignisse
mit erlebte, unauslöschlich im Gedächtnis die Depesche, die der französische
Kommandant in einem befreundeten Hause bekannt zu machen eilte. Der
größte aller Lügner hatte, als er aus Moskau fliehen mußte, die Nachricht
in die Welt gesandt: 5lou8 avcms drulv Rose-vu!

Ebenfalls in die Napoleonische Zeit führen uns die Erinnerungen Bern-
hardis aus der Zeit der Kontinentalsperre. Da jeder Seehandel ans der Ost-


Theodor von Bernhardis Jugenderinnerungen

requirirten Pferden angefahren kamen; zurückweisen konnte man sie nicht, da
der Kutscher, der sie brachte, schleunigst mit seinem Wagen umkehrte und
zurückfuhr, behalten mochte man sie ebenso wenig, es blieb also nichts weiter
übrig, als sie schleunigst mit andern Pferden zu versehen und sich ihrer so
zu erledigen.

Zwischen diesen harmlosen Zeitbildern erscheint dann manchmal ein histo¬
rischer Zug, der mehr sagt als lange Schilderungen. Wenn der Herzog von
Chartres, nachdem er alles, was er bei sich trägt, verspielt hat. den Fuß auf
einen Stuhl setzt, die Brillantschnallcn seiner Schuhe auf 40 000 Franks
schätzen läßt und es sich, als er sie verloren hatte, herausstellt, daß die
Steine falsch waren, so sehen wir das ganze anoion regiillö wie in einem
grell beleuchteten Gemälde vor uns erscheinen. Einen ähnlichen Wert für die
Charakteristik Alexanders I. hat die Geschichte des Obersten von Bock, den der
Kaiser vor dem Altar umarmt, beschwört, ihm stets die Wahrheit zu sagen,
und bei der ersten freimütiger Mitteilung verhaften läßt; erst nach dem Tode
des Kaisers wurde er freigegeben, nachdem sein Aufenthaltsort Schlüsselburg
mit vieler Mühe ermittelt worden war, weil den Kommandanten der Festungen,
in denen Staatsgcfcmgne sitzen, die Namen der Unglücklichen nicht mitgeteilt,
sie vielmehr nur nach der Nummer ihrer Käsematte bezeichnet werden. Aus
seiner Zelle als gebrochner Mann entlassen, erzählt er dann von dem lange
Zeit von ihm bewohnten Lande, wo der Himmel so niedrig hängt, daß mau
darin nicht gerade stehen kann.

Grelle Streiflichter fallen auf die Napoleonische Zeit; Zeitgenossen be¬
richten über das grauenhafte Bild, das die aus Rußland flüchtenden franzö¬
sischen Kolonnen auf ihrem Tvdesmarsche hinterließen. Knorrings Bruder
war in dieser Zeit nach Moskau gereist, und die Geberden, mit denen er den
grauenhaften Eindruck beschrieb, den ihm die Rache des Volkes an den fliehen¬
den Welteroberern hinterlassen hatte, blieben bei Bernhardt bis in sein höchstes
Greisenalter lebendig. Die Trümmer Moskaus hatten im Vergleiche mit jenen
Rückzugsszenen nur einen geringen Eindruck auf Knorring gemacht. Die Nach¬
welt hebt eben aus der geschichtlichen Erinnerung nach ihrem eignen Ermessen
das heraus, womit sie den typischen Eindruck des Geschehenen verbunden
wissen will. Wie wir in unsrer Zeit zuerst an den Brand von Moskau
denken, wenn wir uns Napoleons russisches Abenteuer in seinem Ende vor¬
stellen wollen, so haftete z. B. in der Generation, die in Rom jene Ereignisse
mit erlebte, unauslöschlich im Gedächtnis die Depesche, die der französische
Kommandant in einem befreundeten Hause bekannt zu machen eilte. Der
größte aller Lügner hatte, als er aus Moskau fliehen mußte, die Nachricht
in die Welt gesandt: 5lou8 avcms drulv Rose-vu!

Ebenfalls in die Napoleonische Zeit führen uns die Erinnerungen Bern-
hardis aus der Zeit der Kontinentalsperre. Da jeder Seehandel ans der Ost-


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[0265] Theodor von Bernhardis Jugenderinnerungen requirirten Pferden angefahren kamen; zurückweisen konnte man sie nicht, da der Kutscher, der sie brachte, schleunigst mit seinem Wagen umkehrte und zurückfuhr, behalten mochte man sie ebenso wenig, es blieb also nichts weiter übrig, als sie schleunigst mit andern Pferden zu versehen und sich ihrer so zu erledigen. Zwischen diesen harmlosen Zeitbildern erscheint dann manchmal ein histo¬ rischer Zug, der mehr sagt als lange Schilderungen. Wenn der Herzog von Chartres, nachdem er alles, was er bei sich trägt, verspielt hat. den Fuß auf einen Stuhl setzt, die Brillantschnallcn seiner Schuhe auf 40 000 Franks schätzen läßt und es sich, als er sie verloren hatte, herausstellt, daß die Steine falsch waren, so sehen wir das ganze anoion regiillö wie in einem grell beleuchteten Gemälde vor uns erscheinen. Einen ähnlichen Wert für die Charakteristik Alexanders I. hat die Geschichte des Obersten von Bock, den der Kaiser vor dem Altar umarmt, beschwört, ihm stets die Wahrheit zu sagen, und bei der ersten freimütiger Mitteilung verhaften läßt; erst nach dem Tode des Kaisers wurde er freigegeben, nachdem sein Aufenthaltsort Schlüsselburg mit vieler Mühe ermittelt worden war, weil den Kommandanten der Festungen, in denen Staatsgcfcmgne sitzen, die Namen der Unglücklichen nicht mitgeteilt, sie vielmehr nur nach der Nummer ihrer Käsematte bezeichnet werden. Aus seiner Zelle als gebrochner Mann entlassen, erzählt er dann von dem lange Zeit von ihm bewohnten Lande, wo der Himmel so niedrig hängt, daß mau darin nicht gerade stehen kann. Grelle Streiflichter fallen auf die Napoleonische Zeit; Zeitgenossen be¬ richten über das grauenhafte Bild, das die aus Rußland flüchtenden franzö¬ sischen Kolonnen auf ihrem Tvdesmarsche hinterließen. Knorrings Bruder war in dieser Zeit nach Moskau gereist, und die Geberden, mit denen er den grauenhaften Eindruck beschrieb, den ihm die Rache des Volkes an den fliehen¬ den Welteroberern hinterlassen hatte, blieben bei Bernhardt bis in sein höchstes Greisenalter lebendig. Die Trümmer Moskaus hatten im Vergleiche mit jenen Rückzugsszenen nur einen geringen Eindruck auf Knorring gemacht. Die Nach¬ welt hebt eben aus der geschichtlichen Erinnerung nach ihrem eignen Ermessen das heraus, womit sie den typischen Eindruck des Geschehenen verbunden wissen will. Wie wir in unsrer Zeit zuerst an den Brand von Moskau denken, wenn wir uns Napoleons russisches Abenteuer in seinem Ende vor¬ stellen wollen, so haftete z. B. in der Generation, die in Rom jene Ereignisse mit erlebte, unauslöschlich im Gedächtnis die Depesche, die der französische Kommandant in einem befreundeten Hause bekannt zu machen eilte. Der größte aller Lügner hatte, als er aus Moskau fliehen mußte, die Nachricht in die Welt gesandt: 5lou8 avcms drulv Rose-vu! Ebenfalls in die Napoleonische Zeit führen uns die Erinnerungen Bern- hardis aus der Zeit der Kontinentalsperre. Da jeder Seehandel ans der Ost-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/265>, abgerufen am 01.10.2024.