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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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see verboten war, so brachten amerikanische Schiffe die Kolonialwaren nach
Archangel und Riga, die dann zu Wagen oder Schlitten nach Brody geschleppt
wurden, um von dort unter Konnivenz Rußlands und Österreichs nach Wien
und Frankfurt, ja nach Hamburg verladen zu werden. Wie müssen die euro¬
päischen Zustände vor Napoleon beschaffen gewesen sein, wenn sich Europa
jetzt diese handelspolitische Sklaverei gefallen ließ!

Auf einem ganz andern Gebiete liegt die Wichtigkeit von VernhardiS
Nachrichten über die romantische Schule. Wir denken dabei weniger an solche
Schilderungen, wie die Bettinas, die den Leuten um sieben Uhr morgens ins
Haus läuft und nicht wieder wegzubringen ist, jedermann dn nennt und sich
ältern Herren gern auf den Schoß setzt, indem sie ihnen Liebeserklärungen
macht. So unaussprechlich komisch auch die Szene ist, in der sie sich auf
Ludwig Tiecks BeU setzt, während er von der Gicht geplagt wird, und seine
Grobheit nur durch vermehrte Liebenswürdigkeit erwidert, so sind doch die
Beobachtungen über die Anschauungen und die Denkweise der Romantiker von
sehr viel größerer Wichtigkeit. Wenn Bernhardt zum Beispiel von seinem
Oheim Ludwig Tieck -- offenbar mit vollem Recht - sagt, er habe niemals
ein Wort von Dante gelesen, obgleich er zu seinen begeistertsten Lobrednern
gehörte, so faßt er darin das unerbittliche Verdikt der Geschichte über die
Romantiker wenigstens nach einer Seite ihrer Thätigkeit in dein Urteile über
ihren bedeutendsten Dichter zusammen. Damit stimmt aufs engste, daß Tieck
von Walter Scott nur aufs nllerverächtlichste sprach. Höchst lesenswert sind
Beruhardis Ausführungen darüber, wie den Romantikern jeder historische Sinn
fehlte, wie sie die Kunst und besonders die Poesie für das höchste im Leben zu
erstrebende und zu genießende hielten, es also von den Wurzeln seiner Kraft,
seinem realen Hintergründe lösten und auf diese Weise zu einer leeren, mehr
oder weniger geistreichen Spielerei erniedrigten. So konnte es denn anch ge¬
schehen, daß seine Mutter aus ihrer Hinneigung zu Cagliostro und ähnlichen
Geistern kein Hehl machte und kindischem Aberglauben in ihrem innern Leben
wenigstens halb und halb eine Stelle gab.

Hiergegen erhob sich in der Seele des frühreifen Knaben ein lebhafter
Widerspruch, der schon in jungen Jahren seinen Ausdruck in der wärmsten
Verehrung für Goethe fand (dem er noch persönlich nahe treten durfte), und
der bei dem gereiften Manne in seiner ganzen Art der Geschichtsforschung
ü"r glänzendsten Bethätigung kam. Der Sohn der phantastisch-romantischen
Grüblerin, der Zögling, wenn man ihn so nennen will, der alles an-
empfindenden und nichts ergründenden romantischen Dichterschule bildete sich
zu einem Forscher aus, der auf Grund energisch betriebner Studien der wirk¬
lichen Welt auf kriegswisfenschaftlichem, politischem und nationalökonomischen
Gebiete die Geschichte Rußlands und Europas in einer Weise verstanden und
geschildert hat, die ihm einen Ehrenplatz uuter den bedeutendsten Historikern


Grcnzl'öden II 1893 33

see verboten war, so brachten amerikanische Schiffe die Kolonialwaren nach
Archangel und Riga, die dann zu Wagen oder Schlitten nach Brody geschleppt
wurden, um von dort unter Konnivenz Rußlands und Österreichs nach Wien
und Frankfurt, ja nach Hamburg verladen zu werden. Wie müssen die euro¬
päischen Zustände vor Napoleon beschaffen gewesen sein, wenn sich Europa
jetzt diese handelspolitische Sklaverei gefallen ließ!

Auf einem ganz andern Gebiete liegt die Wichtigkeit von VernhardiS
Nachrichten über die romantische Schule. Wir denken dabei weniger an solche
Schilderungen, wie die Bettinas, die den Leuten um sieben Uhr morgens ins
Haus läuft und nicht wieder wegzubringen ist, jedermann dn nennt und sich
ältern Herren gern auf den Schoß setzt, indem sie ihnen Liebeserklärungen
macht. So unaussprechlich komisch auch die Szene ist, in der sie sich auf
Ludwig Tiecks BeU setzt, während er von der Gicht geplagt wird, und seine
Grobheit nur durch vermehrte Liebenswürdigkeit erwidert, so sind doch die
Beobachtungen über die Anschauungen und die Denkweise der Romantiker von
sehr viel größerer Wichtigkeit. Wenn Bernhardt zum Beispiel von seinem
Oheim Ludwig Tieck — offenbar mit vollem Recht - sagt, er habe niemals
ein Wort von Dante gelesen, obgleich er zu seinen begeistertsten Lobrednern
gehörte, so faßt er darin das unerbittliche Verdikt der Geschichte über die
Romantiker wenigstens nach einer Seite ihrer Thätigkeit in dein Urteile über
ihren bedeutendsten Dichter zusammen. Damit stimmt aufs engste, daß Tieck
von Walter Scott nur aufs nllerverächtlichste sprach. Höchst lesenswert sind
Beruhardis Ausführungen darüber, wie den Romantikern jeder historische Sinn
fehlte, wie sie die Kunst und besonders die Poesie für das höchste im Leben zu
erstrebende und zu genießende hielten, es also von den Wurzeln seiner Kraft,
seinem realen Hintergründe lösten und auf diese Weise zu einer leeren, mehr
oder weniger geistreichen Spielerei erniedrigten. So konnte es denn anch ge¬
schehen, daß seine Mutter aus ihrer Hinneigung zu Cagliostro und ähnlichen
Geistern kein Hehl machte und kindischem Aberglauben in ihrem innern Leben
wenigstens halb und halb eine Stelle gab.

Hiergegen erhob sich in der Seele des frühreifen Knaben ein lebhafter
Widerspruch, der schon in jungen Jahren seinen Ausdruck in der wärmsten
Verehrung für Goethe fand (dem er noch persönlich nahe treten durfte), und
der bei dem gereiften Manne in seiner ganzen Art der Geschichtsforschung
ü"r glänzendsten Bethätigung kam. Der Sohn der phantastisch-romantischen
Grüblerin, der Zögling, wenn man ihn so nennen will, der alles an-
empfindenden und nichts ergründenden romantischen Dichterschule bildete sich
zu einem Forscher aus, der auf Grund energisch betriebner Studien der wirk¬
lichen Welt auf kriegswisfenschaftlichem, politischem und nationalökonomischen
Gebiete die Geschichte Rußlands und Europas in einer Weise verstanden und
geschildert hat, die ihm einen Ehrenplatz uuter den bedeutendsten Historikern


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[0266] see verboten war, so brachten amerikanische Schiffe die Kolonialwaren nach Archangel und Riga, die dann zu Wagen oder Schlitten nach Brody geschleppt wurden, um von dort unter Konnivenz Rußlands und Österreichs nach Wien und Frankfurt, ja nach Hamburg verladen zu werden. Wie müssen die euro¬ päischen Zustände vor Napoleon beschaffen gewesen sein, wenn sich Europa jetzt diese handelspolitische Sklaverei gefallen ließ! Auf einem ganz andern Gebiete liegt die Wichtigkeit von VernhardiS Nachrichten über die romantische Schule. Wir denken dabei weniger an solche Schilderungen, wie die Bettinas, die den Leuten um sieben Uhr morgens ins Haus läuft und nicht wieder wegzubringen ist, jedermann dn nennt und sich ältern Herren gern auf den Schoß setzt, indem sie ihnen Liebeserklärungen macht. So unaussprechlich komisch auch die Szene ist, in der sie sich auf Ludwig Tiecks BeU setzt, während er von der Gicht geplagt wird, und seine Grobheit nur durch vermehrte Liebenswürdigkeit erwidert, so sind doch die Beobachtungen über die Anschauungen und die Denkweise der Romantiker von sehr viel größerer Wichtigkeit. Wenn Bernhardt zum Beispiel von seinem Oheim Ludwig Tieck — offenbar mit vollem Recht - sagt, er habe niemals ein Wort von Dante gelesen, obgleich er zu seinen begeistertsten Lobrednern gehörte, so faßt er darin das unerbittliche Verdikt der Geschichte über die Romantiker wenigstens nach einer Seite ihrer Thätigkeit in dein Urteile über ihren bedeutendsten Dichter zusammen. Damit stimmt aufs engste, daß Tieck von Walter Scott nur aufs nllerverächtlichste sprach. Höchst lesenswert sind Beruhardis Ausführungen darüber, wie den Romantikern jeder historische Sinn fehlte, wie sie die Kunst und besonders die Poesie für das höchste im Leben zu erstrebende und zu genießende hielten, es also von den Wurzeln seiner Kraft, seinem realen Hintergründe lösten und auf diese Weise zu einer leeren, mehr oder weniger geistreichen Spielerei erniedrigten. So konnte es denn anch ge¬ schehen, daß seine Mutter aus ihrer Hinneigung zu Cagliostro und ähnlichen Geistern kein Hehl machte und kindischem Aberglauben in ihrem innern Leben wenigstens halb und halb eine Stelle gab. Hiergegen erhob sich in der Seele des frühreifen Knaben ein lebhafter Widerspruch, der schon in jungen Jahren seinen Ausdruck in der wärmsten Verehrung für Goethe fand (dem er noch persönlich nahe treten durfte), und der bei dem gereiften Manne in seiner ganzen Art der Geschichtsforschung ü"r glänzendsten Bethätigung kam. Der Sohn der phantastisch-romantischen Grüblerin, der Zögling, wenn man ihn so nennen will, der alles an- empfindenden und nichts ergründenden romantischen Dichterschule bildete sich zu einem Forscher aus, der auf Grund energisch betriebner Studien der wirk¬ lichen Welt auf kriegswisfenschaftlichem, politischem und nationalökonomischen Gebiete die Geschichte Rußlands und Europas in einer Weise verstanden und geschildert hat, die ihm einen Ehrenplatz uuter den bedeutendsten Historikern Grcnzl'öden II 1893 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/266>, abgerufen am 01.07.2024.