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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Theodor von Berichardis Iugenderiimerimgen

handeln, und Frauen, die sich durch Untreue rächen; ja sie behauptete ihm
gegenüber, der plumpe George Dentin verdiene sein Schicksal, und "seine gra¬
ziöse junge Frau sei zu beklagen und zu entschuldigen."

Der ungenannte Herausgeber der Jugenderinnerungen erzählt in der Ein¬
leitung, Sophie Bernhardi sei nach dem Tode ihres zweiten und der Geburt
ihres dritten Kindes Theodor im Jahre 1802 in schweres Siechtum verfallen,
nach Thüringen zu ihrem Bruder gezogen, dann nach München und endlich
nach Italien gegangen und habe um dieselbe Zeit ihren nachmaligen zweiten
Gatten Herrn von Knorring aus Esthland kennen gelernt, mit dem sie dann
im Jahre 1805 nach Rom ging. In den Berliner Kreisen dagegen, deren
Erinnerungen noch an den Anfang des Jahrhunderts hinaufreichten, wurde
vor vielen Jahren allgemein erzählt, sie habe Herrn von Knorring in Bern-
hardis Hause kennen gelernt, und ihre Beziehungen zu ihm seien die Ursache
der Trennung von ihrem ersten Gemahl gewesen. Über Knorring erfahren
wir sehr wenig, eigentlich nur, daß er Theodor lieb gehabt hat; sein Wesen
wird hauptsächlich dadurch charakterisirt, daß es heißt: "Er wär immer neu¬
gierig zu wissen, was ich zu den Dingen sagen würde, und wenn er das wußte,
dann war auch weiter nichts, wie er denn überhaupt immer bei den Erschei¬
nungen stehen blieb, ohne etwas daraus zu folgern." Mau wird zugeben,
daß man sich keine rechte Vorstellung von dem Zusammenleben zwei so gruud-
verschiedner Menschen machen kann.

Die frühesten Erinnerungen knüpfen sich für den Knaben an Rom, wo
Knorring, Sophie mit ihren beiden Söhnen und ihr Bruder Ludwig in einem
Palaste am Quirinal wohnten. Mit erstaunlich treuem Gedächtnis hat Bern¬
hardi die Eindrücke jener Knabenjahre festgehalten. Das mehrfach als Kose¬
form von Francesco vorkommende Ecchina statt Ceechina ist offenbar ebenso
ein Lesefehler des Herausgebers, wie der Bräutigam des Mädchens aus Cesena
(gedruckt steht Elsana) stammen dürfte.

Nach dem Aufenthalt in Rom begann ein Wanderleben, das den Knaben
nach Wien, München und Prag führte und endlich mit dem sechsjährigen Auf¬
enthalte auf dem Familiengute Knorrings, Arroküll in Esthland, seinen Ab¬
schluß fand. Mittlerweile war Sophie von ihrem ersten' Manne geschieden
worden und hatte sich im Jahre 1810 mit Knorring verheiratet.

Wnnderbarerweise erhielt Theodor so gut wie gar keinen Unterricht,
sondern war ganz auf sich selbst angewiesen. Da ist es denn überaus merk¬
würdig, wie vollständig ihm alle Fehler abgehen, die sonst den Autodidakten
anzuhängen pflegen.

Aus seinen Erinnerungen an diese esthnische Zeit ist vor allem von Wichtig¬
keit, was er über Rußland äußert. Bei aller Scharfe des Urteils ist er weit
entfernt von dem fanatischen Haß, der baltische Beurteiler russischer Zustände
auszuzeichnen Pflegt. Im allgemeinen steht er auf dem Standpunkte seines


Theodor von Berichardis Iugenderiimerimgen

handeln, und Frauen, die sich durch Untreue rächen; ja sie behauptete ihm
gegenüber, der plumpe George Dentin verdiene sein Schicksal, und „seine gra¬
ziöse junge Frau sei zu beklagen und zu entschuldigen."

Der ungenannte Herausgeber der Jugenderinnerungen erzählt in der Ein¬
leitung, Sophie Bernhardi sei nach dem Tode ihres zweiten und der Geburt
ihres dritten Kindes Theodor im Jahre 1802 in schweres Siechtum verfallen,
nach Thüringen zu ihrem Bruder gezogen, dann nach München und endlich
nach Italien gegangen und habe um dieselbe Zeit ihren nachmaligen zweiten
Gatten Herrn von Knorring aus Esthland kennen gelernt, mit dem sie dann
im Jahre 1805 nach Rom ging. In den Berliner Kreisen dagegen, deren
Erinnerungen noch an den Anfang des Jahrhunderts hinaufreichten, wurde
vor vielen Jahren allgemein erzählt, sie habe Herrn von Knorring in Bern-
hardis Hause kennen gelernt, und ihre Beziehungen zu ihm seien die Ursache
der Trennung von ihrem ersten Gemahl gewesen. Über Knorring erfahren
wir sehr wenig, eigentlich nur, daß er Theodor lieb gehabt hat; sein Wesen
wird hauptsächlich dadurch charakterisirt, daß es heißt: „Er wär immer neu¬
gierig zu wissen, was ich zu den Dingen sagen würde, und wenn er das wußte,
dann war auch weiter nichts, wie er denn überhaupt immer bei den Erschei¬
nungen stehen blieb, ohne etwas daraus zu folgern." Mau wird zugeben,
daß man sich keine rechte Vorstellung von dem Zusammenleben zwei so gruud-
verschiedner Menschen machen kann.

Die frühesten Erinnerungen knüpfen sich für den Knaben an Rom, wo
Knorring, Sophie mit ihren beiden Söhnen und ihr Bruder Ludwig in einem
Palaste am Quirinal wohnten. Mit erstaunlich treuem Gedächtnis hat Bern¬
hardi die Eindrücke jener Knabenjahre festgehalten. Das mehrfach als Kose¬
form von Francesco vorkommende Ecchina statt Ceechina ist offenbar ebenso
ein Lesefehler des Herausgebers, wie der Bräutigam des Mädchens aus Cesena
(gedruckt steht Elsana) stammen dürfte.

Nach dem Aufenthalt in Rom begann ein Wanderleben, das den Knaben
nach Wien, München und Prag führte und endlich mit dem sechsjährigen Auf¬
enthalte auf dem Familiengute Knorrings, Arroküll in Esthland, seinen Ab¬
schluß fand. Mittlerweile war Sophie von ihrem ersten' Manne geschieden
worden und hatte sich im Jahre 1810 mit Knorring verheiratet.

Wnnderbarerweise erhielt Theodor so gut wie gar keinen Unterricht,
sondern war ganz auf sich selbst angewiesen. Da ist es denn überaus merk¬
würdig, wie vollständig ihm alle Fehler abgehen, die sonst den Autodidakten
anzuhängen pflegen.

Aus seinen Erinnerungen an diese esthnische Zeit ist vor allem von Wichtig¬
keit, was er über Rußland äußert. Bei aller Scharfe des Urteils ist er weit
entfernt von dem fanatischen Haß, der baltische Beurteiler russischer Zustände
auszuzeichnen Pflegt. Im allgemeinen steht er auf dem Standpunkte seines


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[0263] Theodor von Berichardis Iugenderiimerimgen handeln, und Frauen, die sich durch Untreue rächen; ja sie behauptete ihm gegenüber, der plumpe George Dentin verdiene sein Schicksal, und „seine gra¬ ziöse junge Frau sei zu beklagen und zu entschuldigen." Der ungenannte Herausgeber der Jugenderinnerungen erzählt in der Ein¬ leitung, Sophie Bernhardi sei nach dem Tode ihres zweiten und der Geburt ihres dritten Kindes Theodor im Jahre 1802 in schweres Siechtum verfallen, nach Thüringen zu ihrem Bruder gezogen, dann nach München und endlich nach Italien gegangen und habe um dieselbe Zeit ihren nachmaligen zweiten Gatten Herrn von Knorring aus Esthland kennen gelernt, mit dem sie dann im Jahre 1805 nach Rom ging. In den Berliner Kreisen dagegen, deren Erinnerungen noch an den Anfang des Jahrhunderts hinaufreichten, wurde vor vielen Jahren allgemein erzählt, sie habe Herrn von Knorring in Bern- hardis Hause kennen gelernt, und ihre Beziehungen zu ihm seien die Ursache der Trennung von ihrem ersten Gemahl gewesen. Über Knorring erfahren wir sehr wenig, eigentlich nur, daß er Theodor lieb gehabt hat; sein Wesen wird hauptsächlich dadurch charakterisirt, daß es heißt: „Er wär immer neu¬ gierig zu wissen, was ich zu den Dingen sagen würde, und wenn er das wußte, dann war auch weiter nichts, wie er denn überhaupt immer bei den Erschei¬ nungen stehen blieb, ohne etwas daraus zu folgern." Mau wird zugeben, daß man sich keine rechte Vorstellung von dem Zusammenleben zwei so gruud- verschiedner Menschen machen kann. Die frühesten Erinnerungen knüpfen sich für den Knaben an Rom, wo Knorring, Sophie mit ihren beiden Söhnen und ihr Bruder Ludwig in einem Palaste am Quirinal wohnten. Mit erstaunlich treuem Gedächtnis hat Bern¬ hardi die Eindrücke jener Knabenjahre festgehalten. Das mehrfach als Kose¬ form von Francesco vorkommende Ecchina statt Ceechina ist offenbar ebenso ein Lesefehler des Herausgebers, wie der Bräutigam des Mädchens aus Cesena (gedruckt steht Elsana) stammen dürfte. Nach dem Aufenthalt in Rom begann ein Wanderleben, das den Knaben nach Wien, München und Prag führte und endlich mit dem sechsjährigen Auf¬ enthalte auf dem Familiengute Knorrings, Arroküll in Esthland, seinen Ab¬ schluß fand. Mittlerweile war Sophie von ihrem ersten' Manne geschieden worden und hatte sich im Jahre 1810 mit Knorring verheiratet. Wnnderbarerweise erhielt Theodor so gut wie gar keinen Unterricht, sondern war ganz auf sich selbst angewiesen. Da ist es denn überaus merk¬ würdig, wie vollständig ihm alle Fehler abgehen, die sonst den Autodidakten anzuhängen pflegen. Aus seinen Erinnerungen an diese esthnische Zeit ist vor allem von Wichtig¬ keit, was er über Rußland äußert. Bei aller Scharfe des Urteils ist er weit entfernt von dem fanatischen Haß, der baltische Beurteiler russischer Zustände auszuzeichnen Pflegt. Im allgemeinen steht er auf dem Standpunkte seines

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/263>, abgerufen am 26.08.2024.