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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die politische Lage Europas

Ferne liegen, aber es läßt sich vorhersagen, soweit sich Zukunftslnldungen
überhaupt vorhersehen lassen. Ziehen wir noch in Betracht, daß die austra¬
lischen Freistaaten schon jetzt als eine politische Notwendigkeit anerkannt werden;
daß sich die Abbröcklung des Kaplandes gleichfalls vorbereitet, so tritt die
künftige Jsolirung der europäischen Staaten besonders grell zu Tage. Dabei
muß betont werden, daß diese Lostrennung der englischen Kolonien -- Kanada
mit eingeschlossen -- viel rascher vor sich gehen wird, sobald erst England
den Selbstmord des Koins rulö an sich vollzogen haben wird.

Denken wir uns diesen Prozeß beendigt, so kann allerdings immer noch
ein großer Teil der überschüssigen Bevölkerung Europas in die Vereinigten
Staaten oder in jene nunmehr als Selbständigkeiten zu denkenden ehemaligen
europäischen Kolonien geworfen werden. Aber die europäischen Staaten
haben dann einen kolonialen Boden nur noch in Afrika, dessen Klima fast
überall Banernkolonien ausschließt. An den meistbegehrteu Punkten aber, an
Tunis, Marokko, Ägypten nebst seinem historischen Annex in Syrien hasten
alle jene Leidenschaften und Eifersüchteleien, die Europa ohnehin in Atem
halten. Es ist ganz undenkbar, daß auch nur eins dieser Gebiete in den
Sonderbcsttz eines der im Kampf ums Dasein mit einander ringenden europäischen
Volker übergehe, ohne daß sich daran ein europäischer Krieg entzündete. Als
die spanischen, englischen, französischen und italienischen Kriegsschiffe ihren
Lauf nach Tanger nahmen, standen wir hart vor dem Ausbruch einer solchen
Krisis. In der tunesischen Frage ist eine Verständigung zwischen Frankreich
und Italien ganz unmöglich, und das englische Provisorium in Ägypten
trägt immer die Kriegskeime in sich. Die französische Flotte aber, die neuer¬
dings vor den syrischen Häfen ihre Flagge hißt, nachdem sie vorher in Alexandria
die Engländer geärgert hat, weist auf den Zusammenhang in der ägyptischen
und syrischen Frage hin'.

Das alles siud Gegensätze, die sich nur mit der Schärfe des Schwertes
lösen lassen, und wenn der Versuch dazu nicht schon jetzt gemacht wird, so
erklärt sich das einzig und allein dadurch, daß die größern Gegensätze und
schlimmern Händel im europäischen Staatenhause ihre Lösung vorher finden
müssen.

Es mag gewagt erscheinen, wenn wir behaupten, daß diese europäischen
Feindseligkeiten teils auf eine Fälschung, teils auf Mißverständnisse zurückgehen.
Aber jede nüchterne Betrachtung der Gesamtlage Europas weist daraus hin,
daß wirkliche Interessenkonflikte nnr an einem Punkte vorhanden sind, und
daß ein einmütiges Zusammenstehen des Westens gegen den Osten hier ge¬
bieterisch den Frieden aufrecht erhalten könnte. Die berechtigten nationalen
Einheitsbestrebungen, die die Geschichte der beiden jüngsten Generationen
ausmachen, haben ihren Abschluß gefunden; und wenn Frankreich heute
gegen den Frankfurter Frieden seine Ansprüche auf Elsaß und Lothringen


Die politische Lage Europas

Ferne liegen, aber es läßt sich vorhersagen, soweit sich Zukunftslnldungen
überhaupt vorhersehen lassen. Ziehen wir noch in Betracht, daß die austra¬
lischen Freistaaten schon jetzt als eine politische Notwendigkeit anerkannt werden;
daß sich die Abbröcklung des Kaplandes gleichfalls vorbereitet, so tritt die
künftige Jsolirung der europäischen Staaten besonders grell zu Tage. Dabei
muß betont werden, daß diese Lostrennung der englischen Kolonien — Kanada
mit eingeschlossen — viel rascher vor sich gehen wird, sobald erst England
den Selbstmord des Koins rulö an sich vollzogen haben wird.

Denken wir uns diesen Prozeß beendigt, so kann allerdings immer noch
ein großer Teil der überschüssigen Bevölkerung Europas in die Vereinigten
Staaten oder in jene nunmehr als Selbständigkeiten zu denkenden ehemaligen
europäischen Kolonien geworfen werden. Aber die europäischen Staaten
haben dann einen kolonialen Boden nur noch in Afrika, dessen Klima fast
überall Banernkolonien ausschließt. An den meistbegehrteu Punkten aber, an
Tunis, Marokko, Ägypten nebst seinem historischen Annex in Syrien hasten
alle jene Leidenschaften und Eifersüchteleien, die Europa ohnehin in Atem
halten. Es ist ganz undenkbar, daß auch nur eins dieser Gebiete in den
Sonderbcsttz eines der im Kampf ums Dasein mit einander ringenden europäischen
Volker übergehe, ohne daß sich daran ein europäischer Krieg entzündete. Als
die spanischen, englischen, französischen und italienischen Kriegsschiffe ihren
Lauf nach Tanger nahmen, standen wir hart vor dem Ausbruch einer solchen
Krisis. In der tunesischen Frage ist eine Verständigung zwischen Frankreich
und Italien ganz unmöglich, und das englische Provisorium in Ägypten
trägt immer die Kriegskeime in sich. Die französische Flotte aber, die neuer¬
dings vor den syrischen Häfen ihre Flagge hißt, nachdem sie vorher in Alexandria
die Engländer geärgert hat, weist auf den Zusammenhang in der ägyptischen
und syrischen Frage hin'.

Das alles siud Gegensätze, die sich nur mit der Schärfe des Schwertes
lösen lassen, und wenn der Versuch dazu nicht schon jetzt gemacht wird, so
erklärt sich das einzig und allein dadurch, daß die größern Gegensätze und
schlimmern Händel im europäischen Staatenhause ihre Lösung vorher finden
müssen.

Es mag gewagt erscheinen, wenn wir behaupten, daß diese europäischen
Feindseligkeiten teils auf eine Fälschung, teils auf Mißverständnisse zurückgehen.
Aber jede nüchterne Betrachtung der Gesamtlage Europas weist daraus hin,
daß wirkliche Interessenkonflikte nnr an einem Punkte vorhanden sind, und
daß ein einmütiges Zusammenstehen des Westens gegen den Osten hier ge¬
bieterisch den Frieden aufrecht erhalten könnte. Die berechtigten nationalen
Einheitsbestrebungen, die die Geschichte der beiden jüngsten Generationen
ausmachen, haben ihren Abschluß gefunden; und wenn Frankreich heute
gegen den Frankfurter Frieden seine Ansprüche auf Elsaß und Lothringen


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[0251] Die politische Lage Europas Ferne liegen, aber es läßt sich vorhersagen, soweit sich Zukunftslnldungen überhaupt vorhersehen lassen. Ziehen wir noch in Betracht, daß die austra¬ lischen Freistaaten schon jetzt als eine politische Notwendigkeit anerkannt werden; daß sich die Abbröcklung des Kaplandes gleichfalls vorbereitet, so tritt die künftige Jsolirung der europäischen Staaten besonders grell zu Tage. Dabei muß betont werden, daß diese Lostrennung der englischen Kolonien — Kanada mit eingeschlossen — viel rascher vor sich gehen wird, sobald erst England den Selbstmord des Koins rulö an sich vollzogen haben wird. Denken wir uns diesen Prozeß beendigt, so kann allerdings immer noch ein großer Teil der überschüssigen Bevölkerung Europas in die Vereinigten Staaten oder in jene nunmehr als Selbständigkeiten zu denkenden ehemaligen europäischen Kolonien geworfen werden. Aber die europäischen Staaten haben dann einen kolonialen Boden nur noch in Afrika, dessen Klima fast überall Banernkolonien ausschließt. An den meistbegehrteu Punkten aber, an Tunis, Marokko, Ägypten nebst seinem historischen Annex in Syrien hasten alle jene Leidenschaften und Eifersüchteleien, die Europa ohnehin in Atem halten. Es ist ganz undenkbar, daß auch nur eins dieser Gebiete in den Sonderbcsttz eines der im Kampf ums Dasein mit einander ringenden europäischen Volker übergehe, ohne daß sich daran ein europäischer Krieg entzündete. Als die spanischen, englischen, französischen und italienischen Kriegsschiffe ihren Lauf nach Tanger nahmen, standen wir hart vor dem Ausbruch einer solchen Krisis. In der tunesischen Frage ist eine Verständigung zwischen Frankreich und Italien ganz unmöglich, und das englische Provisorium in Ägypten trägt immer die Kriegskeime in sich. Die französische Flotte aber, die neuer¬ dings vor den syrischen Häfen ihre Flagge hißt, nachdem sie vorher in Alexandria die Engländer geärgert hat, weist auf den Zusammenhang in der ägyptischen und syrischen Frage hin'. Das alles siud Gegensätze, die sich nur mit der Schärfe des Schwertes lösen lassen, und wenn der Versuch dazu nicht schon jetzt gemacht wird, so erklärt sich das einzig und allein dadurch, daß die größern Gegensätze und schlimmern Händel im europäischen Staatenhause ihre Lösung vorher finden müssen. Es mag gewagt erscheinen, wenn wir behaupten, daß diese europäischen Feindseligkeiten teils auf eine Fälschung, teils auf Mißverständnisse zurückgehen. Aber jede nüchterne Betrachtung der Gesamtlage Europas weist daraus hin, daß wirkliche Interessenkonflikte nnr an einem Punkte vorhanden sind, und daß ein einmütiges Zusammenstehen des Westens gegen den Osten hier ge¬ bieterisch den Frieden aufrecht erhalten könnte. Die berechtigten nationalen Einheitsbestrebungen, die die Geschichte der beiden jüngsten Generationen ausmachen, haben ihren Abschluß gefunden; und wenn Frankreich heute gegen den Frankfurter Frieden seine Ansprüche auf Elsaß und Lothringen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/251>, abgerufen am 01.10.2024.