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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die politische Lage Luropas

aufrecht erhält, so setzt es sich damit in Gegensatz zu dem Geiste des Jahr¬
hunderts. Wir möchten aber behaupten, daß der jetzt zweiundzwanzig Jahre
lang fortdauernde Revanchernf nicht einer wirklichen, sondern nur einer künst¬
lich hervorgerufnen Erregung entspricht, die wach erhalten wird, um den
einander rasch ablösenden Machthabern der Republik ihre Stellung zu sichern.
Die ungeheure Überzahl der französischen Bevölkerung ist ohne Zweifel fried¬
lich gesinnt. Es ist ein Zeichen moralischer Feigheit, wenn sie den von der
Residenz ausgegebnen Schlagworten, welche es mich immer sein mögen, Folge
leistet. Völlig unbegreiflich aber erscheint es vom französischen Standpunkt
ans, wie das schmähliche russisch-französische Bündnis hat zu Stande kommen
können, worin Frankreich alle alten Überlieferungen seiner Politik, die Würde
der Nation als Ganzes, die Freiheit seiner Gedanken, ja sogar seine Aufgaben
als Vormacht des Katholizismus im Orient hat preisgeben müssen. Die Fran¬
zosen selbst haben das politische Basallenverhältnis, worin sie zu Rußland stehen,
und das in ähnlicher Weise wohl nie und nirgends bestanden hat, mehrfach
zu durchbrechen gesucht. Aber die vielbesprochue Frage, ob Ällmnoo on iure,
die vorübergehend fast wie eine Drohung klang, verstummte vor dem unwil¬
ligen Stirnrunzeln in Gatschina, und seit die schmutzigen Panamawirren das
moralische Ansehen des Staats so gewaltig herabgesetzt haben, ist man vollends
zu jeder Demütigung bereit, um sich die russische Gunst, deren man sich nicht
mehr in der alten Weise würdig fühlt, zu verscherzen. Die künstlich aufrecht
erhaltene Nevanchcstimmung, die damit verbundnen übermäßigen Rüstungen
aber beherrschen die gesamte Lage Europas. Sie allein haben die ungeheure
Entfaltung der russischen Militärmacht ermöglicht, die von der andern Seite
her Deutschland preßt und es genötigt hat, sich Bundesgenossen an den Mächten
zu suchen, deren Interessen in natürlicher Gegnerschaft zu dem einen oder zu
dein andern dieser Faktoren stehen. Ist aber die französische Revancheidee eine
Fälschung, so beruht die russische Angriffsstellung gegen Deutschland auf dem
Mißverständnis, daß, wie es vor kurzem drastisch ausgedrückt wurde, der Weg
nach Konstantinopel über Berlin führe. Nichts kann politisch und geschichtlich
betrachtet unrichtiger sein. Dieser Weg führt nicht einmal über Wien, sondern,
wie alle Türkenkriege beweisen, die Rußland geführt hat, über Kleinasien. Die
ungeheuern Mißerfolge, die die russische Orientpolitik Alexanders des Dritten
erlitten hat, erklären sich ans diesem Irrtum. Nur so kounte Bulgarien
dem russischen Einfluß dauernd verloren gehn, nur so Rumänien zu seiner
heutigen Stellung erstarken, nnr so endlich Serbien zu jener politischen Be¬
deutungslosigkeit sinken, in der es, trotz des Staatsstreiches, mit dem der
junge König Alexander die Welt überrascht hat, voraussichtlich noch lange
verharren wird.

Jenes Mißverständnis hat aber für Rußland noch weitere, höchst bedenk-
liche Folgen nach sich gezogen. Es hat sich erstens durch die erhitzten ratio-


Die politische Lage Luropas

aufrecht erhält, so setzt es sich damit in Gegensatz zu dem Geiste des Jahr¬
hunderts. Wir möchten aber behaupten, daß der jetzt zweiundzwanzig Jahre
lang fortdauernde Revanchernf nicht einer wirklichen, sondern nur einer künst¬
lich hervorgerufnen Erregung entspricht, die wach erhalten wird, um den
einander rasch ablösenden Machthabern der Republik ihre Stellung zu sichern.
Die ungeheure Überzahl der französischen Bevölkerung ist ohne Zweifel fried¬
lich gesinnt. Es ist ein Zeichen moralischer Feigheit, wenn sie den von der
Residenz ausgegebnen Schlagworten, welche es mich immer sein mögen, Folge
leistet. Völlig unbegreiflich aber erscheint es vom französischen Standpunkt
ans, wie das schmähliche russisch-französische Bündnis hat zu Stande kommen
können, worin Frankreich alle alten Überlieferungen seiner Politik, die Würde
der Nation als Ganzes, die Freiheit seiner Gedanken, ja sogar seine Aufgaben
als Vormacht des Katholizismus im Orient hat preisgeben müssen. Die Fran¬
zosen selbst haben das politische Basallenverhältnis, worin sie zu Rußland stehen,
und das in ähnlicher Weise wohl nie und nirgends bestanden hat, mehrfach
zu durchbrechen gesucht. Aber die vielbesprochue Frage, ob Ällmnoo on iure,
die vorübergehend fast wie eine Drohung klang, verstummte vor dem unwil¬
ligen Stirnrunzeln in Gatschina, und seit die schmutzigen Panamawirren das
moralische Ansehen des Staats so gewaltig herabgesetzt haben, ist man vollends
zu jeder Demütigung bereit, um sich die russische Gunst, deren man sich nicht
mehr in der alten Weise würdig fühlt, zu verscherzen. Die künstlich aufrecht
erhaltene Nevanchcstimmung, die damit verbundnen übermäßigen Rüstungen
aber beherrschen die gesamte Lage Europas. Sie allein haben die ungeheure
Entfaltung der russischen Militärmacht ermöglicht, die von der andern Seite
her Deutschland preßt und es genötigt hat, sich Bundesgenossen an den Mächten
zu suchen, deren Interessen in natürlicher Gegnerschaft zu dem einen oder zu
dein andern dieser Faktoren stehen. Ist aber die französische Revancheidee eine
Fälschung, so beruht die russische Angriffsstellung gegen Deutschland auf dem
Mißverständnis, daß, wie es vor kurzem drastisch ausgedrückt wurde, der Weg
nach Konstantinopel über Berlin führe. Nichts kann politisch und geschichtlich
betrachtet unrichtiger sein. Dieser Weg führt nicht einmal über Wien, sondern,
wie alle Türkenkriege beweisen, die Rußland geführt hat, über Kleinasien. Die
ungeheuern Mißerfolge, die die russische Orientpolitik Alexanders des Dritten
erlitten hat, erklären sich ans diesem Irrtum. Nur so kounte Bulgarien
dem russischen Einfluß dauernd verloren gehn, nur so Rumänien zu seiner
heutigen Stellung erstarken, nnr so endlich Serbien zu jener politischen Be¬
deutungslosigkeit sinken, in der es, trotz des Staatsstreiches, mit dem der
junge König Alexander die Welt überrascht hat, voraussichtlich noch lange
verharren wird.

Jenes Mißverständnis hat aber für Rußland noch weitere, höchst bedenk-
liche Folgen nach sich gezogen. Es hat sich erstens durch die erhitzten ratio-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/252>, abgerufen am 03.07.2024.