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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die politische Lage Europas

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Mcum man an dein Schlagwort von der europäische" Bölkerfamilie
festhält, so bemerkt man, daß, wie es auch in dem engen Kreise
der bürgerlichen Familie zu geschehen Pflegt, die trennenden
Elemente uns weit mehr zum Bewußtsein kommen als die
einigenden. Und doch drängen die äußern Verhältnisse immer
mehr darauf hin, das Bewußtsein einer europäischen Zusammengehörigkeit
gegenüber dem andringenden wirtschaftlichen Egoismus der mächtig empor¬
strebenden neuen Welt und der unleugbaren Emanzipation der Kulturvölker
Westasiens hervorzurufen. Ist auch die Strömung, die in der MeKiulehbill
und dem panamerikanischen Kongreß ihren Ausdruck fand, augenblicklich zum
Stehen gekommen, und gilt auch der neue Präsident Cleveland für einen ma߬
vollern Politiker als sein glücklich beseitigter Vorgänger, so ist es doch nur
eine Frage der Zeit, daß sie wieder in Bewegung kommt. Europa erfreut
sich eines kurzen Stillstandes, und da leider keine Aussicht ist, daß es ihn
5" einer einmütiger Zusammenfassung seiner in ihrer Gesamtheit doch unge¬
heuern Kräften benutzen wird, so läßt sich mit unbedingter Gewißheit vorher¬
sage", daß Amerika in absehbarer Zukunft den Kampf unter günstigern Be¬
dingungen wieder aufnehmen wird. Die Aussicht, die der Zusammenbruch
des brasilianischen Kaisertums bot, das südliche Amerika gegen das nördliche
auszuspielen, ist endgiltig verpaßt, für uns eine große Aussicht verloren, seit wir
versäumt haben in Rio grande da Sri eine deutsche Dependenz zu schaffen, wie
es seinerzeit sehr wohl möglich gewesen wäre. Ebensowenig ist heute daran zu
denken, daß Japan und China je in ein Verhältnis zu europäischen Staaten treten
könnten, wie etwa Indien zu England. Es scheint vielmehr, daß die chinesische
Völkerwelle nach Norden und Westen hin ihre Ufer überschreiten wird, um einst
für die russische Ausbeutung Sibiriens Vergeltung zu übe". Das mag in weiter


Grcuzbote" II 1893 31


Die politische Lage Europas

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Mcum man an dein Schlagwort von der europäische» Bölkerfamilie
festhält, so bemerkt man, daß, wie es auch in dem engen Kreise
der bürgerlichen Familie zu geschehen Pflegt, die trennenden
Elemente uns weit mehr zum Bewußtsein kommen als die
einigenden. Und doch drängen die äußern Verhältnisse immer
mehr darauf hin, das Bewußtsein einer europäischen Zusammengehörigkeit
gegenüber dem andringenden wirtschaftlichen Egoismus der mächtig empor¬
strebenden neuen Welt und der unleugbaren Emanzipation der Kulturvölker
Westasiens hervorzurufen. Ist auch die Strömung, die in der MeKiulehbill
und dem panamerikanischen Kongreß ihren Ausdruck fand, augenblicklich zum
Stehen gekommen, und gilt auch der neue Präsident Cleveland für einen ma߬
vollern Politiker als sein glücklich beseitigter Vorgänger, so ist es doch nur
eine Frage der Zeit, daß sie wieder in Bewegung kommt. Europa erfreut
sich eines kurzen Stillstandes, und da leider keine Aussicht ist, daß es ihn
5« einer einmütiger Zusammenfassung seiner in ihrer Gesamtheit doch unge¬
heuern Kräften benutzen wird, so läßt sich mit unbedingter Gewißheit vorher¬
sage», daß Amerika in absehbarer Zukunft den Kampf unter günstigern Be¬
dingungen wieder aufnehmen wird. Die Aussicht, die der Zusammenbruch
des brasilianischen Kaisertums bot, das südliche Amerika gegen das nördliche
auszuspielen, ist endgiltig verpaßt, für uns eine große Aussicht verloren, seit wir
versäumt haben in Rio grande da Sri eine deutsche Dependenz zu schaffen, wie
es seinerzeit sehr wohl möglich gewesen wäre. Ebensowenig ist heute daran zu
denken, daß Japan und China je in ein Verhältnis zu europäischen Staaten treten
könnten, wie etwa Indien zu England. Es scheint vielmehr, daß die chinesische
Völkerwelle nach Norden und Westen hin ihre Ufer überschreiten wird, um einst
für die russische Ausbeutung Sibiriens Vergeltung zu übe». Das mag in weiter


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[0250] [Abbildung] Die politische Lage Europas <M Mcum man an dein Schlagwort von der europäische» Bölkerfamilie festhält, so bemerkt man, daß, wie es auch in dem engen Kreise der bürgerlichen Familie zu geschehen Pflegt, die trennenden Elemente uns weit mehr zum Bewußtsein kommen als die einigenden. Und doch drängen die äußern Verhältnisse immer mehr darauf hin, das Bewußtsein einer europäischen Zusammengehörigkeit gegenüber dem andringenden wirtschaftlichen Egoismus der mächtig empor¬ strebenden neuen Welt und der unleugbaren Emanzipation der Kulturvölker Westasiens hervorzurufen. Ist auch die Strömung, die in der MeKiulehbill und dem panamerikanischen Kongreß ihren Ausdruck fand, augenblicklich zum Stehen gekommen, und gilt auch der neue Präsident Cleveland für einen ma߬ vollern Politiker als sein glücklich beseitigter Vorgänger, so ist es doch nur eine Frage der Zeit, daß sie wieder in Bewegung kommt. Europa erfreut sich eines kurzen Stillstandes, und da leider keine Aussicht ist, daß es ihn 5« einer einmütiger Zusammenfassung seiner in ihrer Gesamtheit doch unge¬ heuern Kräften benutzen wird, so läßt sich mit unbedingter Gewißheit vorher¬ sage», daß Amerika in absehbarer Zukunft den Kampf unter günstigern Be¬ dingungen wieder aufnehmen wird. Die Aussicht, die der Zusammenbruch des brasilianischen Kaisertums bot, das südliche Amerika gegen das nördliche auszuspielen, ist endgiltig verpaßt, für uns eine große Aussicht verloren, seit wir versäumt haben in Rio grande da Sri eine deutsche Dependenz zu schaffen, wie es seinerzeit sehr wohl möglich gewesen wäre. Ebensowenig ist heute daran zu denken, daß Japan und China je in ein Verhältnis zu europäischen Staaten treten könnten, wie etwa Indien zu England. Es scheint vielmehr, daß die chinesische Völkerwelle nach Norden und Westen hin ihre Ufer überschreiten wird, um einst für die russische Ausbeutung Sibiriens Vergeltung zu übe». Das mag in weiter Grcuzbote» II 1893 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/250>, abgerufen am 01.07.2024.