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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Hebbels Briefwechsel

keine zu entstehen vermöchten, so muß ich ihnen freilich widersprechen und
ihren Ausspruch dahin modifiziren, daß billig keine vorhanden sein und keine
entstehen sollten. Die Natur erlaubt sich manches. Sie schafft im Menschen
selbst schon ein Wesen, dem offenbar ein größerer Begriff zu Grunde liegt, als
es ausspricht. Sie wiederholt die Freiheit, die hierin liegt, auch innerhalb
des Kreises der Menschheit, ja wiederum in jedem untergeordneten Kreise dieses
Kreises. Sie kümmert sich noch viel weniger darum, ob die Menschen, die
sie hervorbringt, auch die geeignete Atmosphäre vorfinden." ^) Doch wie schmolz
dieser starre Gleichmut vor jedem warmen Hauch wirklicher, echter Poesie dahin,
wie erhellte und belebte sich die starre weltrichterliche Miene, so oft er auf
eine Kunstleistung stieß, die von innen heraus belebt war, und der statt eiues
Verstaudesprvzesses die echte künstlerische Intuition zu Grunde lag! Hundert
rührende Beispiele für die unmittelbare Empfänglichkeit ließen sich aus diesen
Briefen unmittelbar neben die Beispiele der Strenge und des unbeugsamen
Ernstes stellen, die ihm in Dingen der Kunst und Litteratur eigen waren.
Er wurde nicht müde, sich in alle Herrlichkeit der Poesie zu versenken, und
genoß auf der Höhe seiner Entwicklung und Bildung mit dem Kindersinn, den
alle großen und echten Künstlernaturen bewahren, die verborgensten und be¬
scheidensten Schönheiten, in denen sich Anschauung, Bild und sinnlicher Laut
deckten. Und je tiefere Einsicht er in das Wesen der Kunst, der Poesie vor
allem, gewann, um so reizvoller fand er es, sich diesem Genuß hinzugeben.
Er ermutigte bis ans Ende seine jüngern Freunde, ihm auf diesen Wege ent¬
schlossen zu folgen. "Fahren Sie fort, rief er mir nach Mitteilung kritischer
Aufsatze zu, sich in dies Mysterium, in dem alle andern, welche die Welt dar¬
bietet, mit enthalten sind, mehr und mehr zu vertiefen und besorgen Sie nicht,
von der Afterkritik des Tages erschreckt, Ihre Naivität dadurch zu verlieren.
Die Phantasie bleibt ewig jungfräulich, und auch der größte Physiolog zeugt
seine Kinder im Traume."^) Siegmund Engländer, der durch politische Thätig/
keit und politisches Flüchtlingstum ans seiner ursprünglichem Laufbahn gerissen
war. trieb er an, sich der Kritik im höchsten, in seinein Sinne zu widmen:
"Gewiß kann niemand umkehren oder irgend eine Episode mit ihren innern
und äußern Folgen ans seinem Leben ausstreichen. Aber jeder kann sich auf
sich selbst wieder besinnen und sich von dem Punkte aus, wo er gerade steht,
dem Ziel wieder zuwenden, auf das seiue Kräfte, dem natürlichen Zug folgend,
der den Menschen am sichersten leitet, von Anfang ein losarbeiteten. Das ist
für Sie die reproduktive Kritik, die jetzt in Deutschland keinen einzigen Re¬
präsentanten hat. Ihr Brief beweist mir, daß Sie von den dazu nötigen
Eigenschaften keine .einzige verloren haben; wer thäte es Ihnen denn gleich
im nachempfinden des Eigentümlichsten und in genialer Wiederspiegelung durch




--,-) Gmunden, 6. August 1860.
') An Felix Bamberg; Wien, 23. Oktober 1846.
Friedrich Hebbels Briefwechsel

keine zu entstehen vermöchten, so muß ich ihnen freilich widersprechen und
ihren Ausspruch dahin modifiziren, daß billig keine vorhanden sein und keine
entstehen sollten. Die Natur erlaubt sich manches. Sie schafft im Menschen
selbst schon ein Wesen, dem offenbar ein größerer Begriff zu Grunde liegt, als
es ausspricht. Sie wiederholt die Freiheit, die hierin liegt, auch innerhalb
des Kreises der Menschheit, ja wiederum in jedem untergeordneten Kreise dieses
Kreises. Sie kümmert sich noch viel weniger darum, ob die Menschen, die
sie hervorbringt, auch die geeignete Atmosphäre vorfinden." ^) Doch wie schmolz
dieser starre Gleichmut vor jedem warmen Hauch wirklicher, echter Poesie dahin,
wie erhellte und belebte sich die starre weltrichterliche Miene, so oft er auf
eine Kunstleistung stieß, die von innen heraus belebt war, und der statt eiues
Verstaudesprvzesses die echte künstlerische Intuition zu Grunde lag! Hundert
rührende Beispiele für die unmittelbare Empfänglichkeit ließen sich aus diesen
Briefen unmittelbar neben die Beispiele der Strenge und des unbeugsamen
Ernstes stellen, die ihm in Dingen der Kunst und Litteratur eigen waren.
Er wurde nicht müde, sich in alle Herrlichkeit der Poesie zu versenken, und
genoß auf der Höhe seiner Entwicklung und Bildung mit dem Kindersinn, den
alle großen und echten Künstlernaturen bewahren, die verborgensten und be¬
scheidensten Schönheiten, in denen sich Anschauung, Bild und sinnlicher Laut
deckten. Und je tiefere Einsicht er in das Wesen der Kunst, der Poesie vor
allem, gewann, um so reizvoller fand er es, sich diesem Genuß hinzugeben.
Er ermutigte bis ans Ende seine jüngern Freunde, ihm auf diesen Wege ent¬
schlossen zu folgen. „Fahren Sie fort, rief er mir nach Mitteilung kritischer
Aufsatze zu, sich in dies Mysterium, in dem alle andern, welche die Welt dar¬
bietet, mit enthalten sind, mehr und mehr zu vertiefen und besorgen Sie nicht,
von der Afterkritik des Tages erschreckt, Ihre Naivität dadurch zu verlieren.
Die Phantasie bleibt ewig jungfräulich, und auch der größte Physiolog zeugt
seine Kinder im Traume."^) Siegmund Engländer, der durch politische Thätig/
keit und politisches Flüchtlingstum ans seiner ursprünglichem Laufbahn gerissen
war. trieb er an, sich der Kritik im höchsten, in seinein Sinne zu widmen:
„Gewiß kann niemand umkehren oder irgend eine Episode mit ihren innern
und äußern Folgen ans seinem Leben ausstreichen. Aber jeder kann sich auf
sich selbst wieder besinnen und sich von dem Punkte aus, wo er gerade steht,
dem Ziel wieder zuwenden, auf das seiue Kräfte, dem natürlichen Zug folgend,
der den Menschen am sichersten leitet, von Anfang ein losarbeiteten. Das ist
für Sie die reproduktive Kritik, die jetzt in Deutschland keinen einzigen Re¬
präsentanten hat. Ihr Brief beweist mir, daß Sie von den dazu nötigen
Eigenschaften keine .einzige verloren haben; wer thäte es Ihnen denn gleich
im nachempfinden des Eigentümlichsten und in genialer Wiederspiegelung durch




—,-) Gmunden, 6. August 1860.
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[0229] Friedrich Hebbels Briefwechsel keine zu entstehen vermöchten, so muß ich ihnen freilich widersprechen und ihren Ausspruch dahin modifiziren, daß billig keine vorhanden sein und keine entstehen sollten. Die Natur erlaubt sich manches. Sie schafft im Menschen selbst schon ein Wesen, dem offenbar ein größerer Begriff zu Grunde liegt, als es ausspricht. Sie wiederholt die Freiheit, die hierin liegt, auch innerhalb des Kreises der Menschheit, ja wiederum in jedem untergeordneten Kreise dieses Kreises. Sie kümmert sich noch viel weniger darum, ob die Menschen, die sie hervorbringt, auch die geeignete Atmosphäre vorfinden." ^) Doch wie schmolz dieser starre Gleichmut vor jedem warmen Hauch wirklicher, echter Poesie dahin, wie erhellte und belebte sich die starre weltrichterliche Miene, so oft er auf eine Kunstleistung stieß, die von innen heraus belebt war, und der statt eiues Verstaudesprvzesses die echte künstlerische Intuition zu Grunde lag! Hundert rührende Beispiele für die unmittelbare Empfänglichkeit ließen sich aus diesen Briefen unmittelbar neben die Beispiele der Strenge und des unbeugsamen Ernstes stellen, die ihm in Dingen der Kunst und Litteratur eigen waren. Er wurde nicht müde, sich in alle Herrlichkeit der Poesie zu versenken, und genoß auf der Höhe seiner Entwicklung und Bildung mit dem Kindersinn, den alle großen und echten Künstlernaturen bewahren, die verborgensten und be¬ scheidensten Schönheiten, in denen sich Anschauung, Bild und sinnlicher Laut deckten. Und je tiefere Einsicht er in das Wesen der Kunst, der Poesie vor allem, gewann, um so reizvoller fand er es, sich diesem Genuß hinzugeben. Er ermutigte bis ans Ende seine jüngern Freunde, ihm auf diesen Wege ent¬ schlossen zu folgen. „Fahren Sie fort, rief er mir nach Mitteilung kritischer Aufsatze zu, sich in dies Mysterium, in dem alle andern, welche die Welt dar¬ bietet, mit enthalten sind, mehr und mehr zu vertiefen und besorgen Sie nicht, von der Afterkritik des Tages erschreckt, Ihre Naivität dadurch zu verlieren. Die Phantasie bleibt ewig jungfräulich, und auch der größte Physiolog zeugt seine Kinder im Traume."^) Siegmund Engländer, der durch politische Thätig/ keit und politisches Flüchtlingstum ans seiner ursprünglichem Laufbahn gerissen war. trieb er an, sich der Kritik im höchsten, in seinein Sinne zu widmen: „Gewiß kann niemand umkehren oder irgend eine Episode mit ihren innern und äußern Folgen ans seinem Leben ausstreichen. Aber jeder kann sich auf sich selbst wieder besinnen und sich von dem Punkte aus, wo er gerade steht, dem Ziel wieder zuwenden, auf das seiue Kräfte, dem natürlichen Zug folgend, der den Menschen am sichersten leitet, von Anfang ein losarbeiteten. Das ist für Sie die reproduktive Kritik, die jetzt in Deutschland keinen einzigen Re¬ präsentanten hat. Ihr Brief beweist mir, daß Sie von den dazu nötigen Eigenschaften keine .einzige verloren haben; wer thäte es Ihnen denn gleich im nachempfinden des Eigentümlichsten und in genialer Wiederspiegelung durch —,-) Gmunden, 6. August 1860. ') An Felix Bamberg; Wien, 23. Oktober 1846.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/229>, abgerufen am 23.07.2024.