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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Grenzen des ärztlichen Berufs

Übel sei, als das Übel des Kranken, das dadurch geheilt werden solle. Ein
Minderjähriger dürfe jedoch nur mit Einwilligung seines Vaters oder Vor¬
mundes zu einer solchen Kur benutzt werden.

Zur Linderung von Krankheiten dürfe sich der Arzt Eingriffe in die Ge¬
sundheit erlauben, wenn die Schwere und die Gefahr dieser Eingriffe durch
die Größe des Leidens, das dadurch gelindert werden solle, überwogen werde.
Darnach bestimme sich namentlich die Anwendung von narkotischen Mitteln,
Chlorvfvrmirung und Morphiumeinspritzungen. Sie seien berechtigt, wenn
damit eine Schmerzlinderung oder ein andrer ärztlicher Zweck erreicht werden
solle, sonst nicht. Auch zur Erleichterung des Sterbens von unrettbar Kranken
dürften solche Mittel angewendet werden. Manche Ärzte seien auch der An¬
sicht, sie dürften in einem solchen Falle durch große Gaben von Morphium
das qualvolle Leben eines Kranken verkürzen und ihm einen schnellen, schmerz¬
losen Tod bereiten. Der Verfasser mißbilligt das entschieden, meint aber, die
bloße Möglichkeit, daß dadurch der Tod beschleunigt werde, dürfe bei schwer
Leidenden von der Anwendung narkotischer Mittel nicht abhalten.

Weiter zieht er die Znlässtgkeit ärztlicher Eingriffe zur Vorbeugung gegen
Krankheiten in Betracht. Dahin gehören die Impfungen, namentlich gegen
Pocken und in neuerer Zeit auch gegen Tollwut. Auch solche Eingriffe er¬
klärt er für zulässig, jedoch wo kein gesetzlicher Impfzwang bestehe, nur mit
Einwilligung der betreffenden Personen.

Auch Eingriffe zur Beseitigung entstellender körperlicher Mängel dürften
natürlich nur mit Einwilligung des davon betroffnen erfolgen. Leichte Ein¬
griffe dieser Art seien stets, schwere dagegen nur dann berechtigt, wenn der
zu beseitigende Mangel groß sei, auch der Eingriff regelmäßig nicht zu
dauerndem Siechtum oder zum Tode führe.

Von großer Bedeutung ist endlich die Frage, inwieweit der Arzt Menschen
zu Experimenten für ärztliche Zwecke gebrauchen darf. Der Verfasser stellt
hier als Grundsatz auf, daß nie ein Mensch, weder ein gesunder noch ein
kranker, ohne seine Einwilligung zum Gegenstand eines solchen Experiments
gemacht werden dürfe. Dies gelte selbst bei unheilbar Kranken und bei einem
zum Tode verurteilten. An einem Gesunden dürften auch mit dessen Ein¬
willigung keine Versuche vorgenommen werden, wenn dieser dadurch einer
großen Gefahr ausgesetzt würde. Bei unrettbaren Kranken sei es vielleicht
nicht geboten, diese Schranken einzuhalten. Der Verfasser zeigt dann an Bei¬
spielen, wie Ärzte öfter in dieser Richtung fehlen.

Als Anhang zu seiner Schrift teilt er zwei gerichtliche Urteile mit, die
in Fällen ergangen sind, wo Ärzte wegen Überschreitung ihres Berufs ange¬
klagt worden waren.

Der erste Fall hat sich in Basel zugetragen. Um die Wunde einer Frau
zu heilen, hatte der Arzt dem fünfzehnjährigen Dienstmädchen der Frau vier-


Die Grenzen des ärztlichen Berufs

Übel sei, als das Übel des Kranken, das dadurch geheilt werden solle. Ein
Minderjähriger dürfe jedoch nur mit Einwilligung seines Vaters oder Vor¬
mundes zu einer solchen Kur benutzt werden.

Zur Linderung von Krankheiten dürfe sich der Arzt Eingriffe in die Ge¬
sundheit erlauben, wenn die Schwere und die Gefahr dieser Eingriffe durch
die Größe des Leidens, das dadurch gelindert werden solle, überwogen werde.
Darnach bestimme sich namentlich die Anwendung von narkotischen Mitteln,
Chlorvfvrmirung und Morphiumeinspritzungen. Sie seien berechtigt, wenn
damit eine Schmerzlinderung oder ein andrer ärztlicher Zweck erreicht werden
solle, sonst nicht. Auch zur Erleichterung des Sterbens von unrettbar Kranken
dürften solche Mittel angewendet werden. Manche Ärzte seien auch der An¬
sicht, sie dürften in einem solchen Falle durch große Gaben von Morphium
das qualvolle Leben eines Kranken verkürzen und ihm einen schnellen, schmerz¬
losen Tod bereiten. Der Verfasser mißbilligt das entschieden, meint aber, die
bloße Möglichkeit, daß dadurch der Tod beschleunigt werde, dürfe bei schwer
Leidenden von der Anwendung narkotischer Mittel nicht abhalten.

Weiter zieht er die Znlässtgkeit ärztlicher Eingriffe zur Vorbeugung gegen
Krankheiten in Betracht. Dahin gehören die Impfungen, namentlich gegen
Pocken und in neuerer Zeit auch gegen Tollwut. Auch solche Eingriffe er¬
klärt er für zulässig, jedoch wo kein gesetzlicher Impfzwang bestehe, nur mit
Einwilligung der betreffenden Personen.

Auch Eingriffe zur Beseitigung entstellender körperlicher Mängel dürften
natürlich nur mit Einwilligung des davon betroffnen erfolgen. Leichte Ein¬
griffe dieser Art seien stets, schwere dagegen nur dann berechtigt, wenn der
zu beseitigende Mangel groß sei, auch der Eingriff regelmäßig nicht zu
dauerndem Siechtum oder zum Tode führe.

Von großer Bedeutung ist endlich die Frage, inwieweit der Arzt Menschen
zu Experimenten für ärztliche Zwecke gebrauchen darf. Der Verfasser stellt
hier als Grundsatz auf, daß nie ein Mensch, weder ein gesunder noch ein
kranker, ohne seine Einwilligung zum Gegenstand eines solchen Experiments
gemacht werden dürfe. Dies gelte selbst bei unheilbar Kranken und bei einem
zum Tode verurteilten. An einem Gesunden dürften auch mit dessen Ein¬
willigung keine Versuche vorgenommen werden, wenn dieser dadurch einer
großen Gefahr ausgesetzt würde. Bei unrettbaren Kranken sei es vielleicht
nicht geboten, diese Schranken einzuhalten. Der Verfasser zeigt dann an Bei¬
spielen, wie Ärzte öfter in dieser Richtung fehlen.

Als Anhang zu seiner Schrift teilt er zwei gerichtliche Urteile mit, die
in Fällen ergangen sind, wo Ärzte wegen Überschreitung ihres Berufs ange¬
klagt worden waren.

Der erste Fall hat sich in Basel zugetragen. Um die Wunde einer Frau
zu heilen, hatte der Arzt dem fünfzehnjährigen Dienstmädchen der Frau vier-


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[0022] Die Grenzen des ärztlichen Berufs Übel sei, als das Übel des Kranken, das dadurch geheilt werden solle. Ein Minderjähriger dürfe jedoch nur mit Einwilligung seines Vaters oder Vor¬ mundes zu einer solchen Kur benutzt werden. Zur Linderung von Krankheiten dürfe sich der Arzt Eingriffe in die Ge¬ sundheit erlauben, wenn die Schwere und die Gefahr dieser Eingriffe durch die Größe des Leidens, das dadurch gelindert werden solle, überwogen werde. Darnach bestimme sich namentlich die Anwendung von narkotischen Mitteln, Chlorvfvrmirung und Morphiumeinspritzungen. Sie seien berechtigt, wenn damit eine Schmerzlinderung oder ein andrer ärztlicher Zweck erreicht werden solle, sonst nicht. Auch zur Erleichterung des Sterbens von unrettbar Kranken dürften solche Mittel angewendet werden. Manche Ärzte seien auch der An¬ sicht, sie dürften in einem solchen Falle durch große Gaben von Morphium das qualvolle Leben eines Kranken verkürzen und ihm einen schnellen, schmerz¬ losen Tod bereiten. Der Verfasser mißbilligt das entschieden, meint aber, die bloße Möglichkeit, daß dadurch der Tod beschleunigt werde, dürfe bei schwer Leidenden von der Anwendung narkotischer Mittel nicht abhalten. Weiter zieht er die Znlässtgkeit ärztlicher Eingriffe zur Vorbeugung gegen Krankheiten in Betracht. Dahin gehören die Impfungen, namentlich gegen Pocken und in neuerer Zeit auch gegen Tollwut. Auch solche Eingriffe er¬ klärt er für zulässig, jedoch wo kein gesetzlicher Impfzwang bestehe, nur mit Einwilligung der betreffenden Personen. Auch Eingriffe zur Beseitigung entstellender körperlicher Mängel dürften natürlich nur mit Einwilligung des davon betroffnen erfolgen. Leichte Ein¬ griffe dieser Art seien stets, schwere dagegen nur dann berechtigt, wenn der zu beseitigende Mangel groß sei, auch der Eingriff regelmäßig nicht zu dauerndem Siechtum oder zum Tode führe. Von großer Bedeutung ist endlich die Frage, inwieweit der Arzt Menschen zu Experimenten für ärztliche Zwecke gebrauchen darf. Der Verfasser stellt hier als Grundsatz auf, daß nie ein Mensch, weder ein gesunder noch ein kranker, ohne seine Einwilligung zum Gegenstand eines solchen Experiments gemacht werden dürfe. Dies gelte selbst bei unheilbar Kranken und bei einem zum Tode verurteilten. An einem Gesunden dürften auch mit dessen Ein¬ willigung keine Versuche vorgenommen werden, wenn dieser dadurch einer großen Gefahr ausgesetzt würde. Bei unrettbaren Kranken sei es vielleicht nicht geboten, diese Schranken einzuhalten. Der Verfasser zeigt dann an Bei¬ spielen, wie Ärzte öfter in dieser Richtung fehlen. Als Anhang zu seiner Schrift teilt er zwei gerichtliche Urteile mit, die in Fällen ergangen sind, wo Ärzte wegen Überschreitung ihres Berufs ange¬ klagt worden waren. Der erste Fall hat sich in Basel zugetragen. Um die Wunde einer Frau zu heilen, hatte der Arzt dem fünfzehnjährigen Dienstmädchen der Frau vier-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/22>, abgerufen am 23.07.2024.