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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Grenze" des ärztlichen Berufs

undzwauzig Stücke Haut aus Armen und Beinen geschnitten. Das Mädchen
hatte sich auf Zureden des Arztes dazu verstanden. Ihr am Orte lebender
Vater war aber nicht gefragt worden. Als die Hautstücke aus dem linken
Arme genommen Ware", hatte das Mädchen schon beim rechten Arme nichts
mehr davon wissen wollen. Als ihm trotzdem noch ans den beiden Beinen
sieben und sechs Stücke Haut weggeschnitten wurden, hat es fortwährend dabei
geweint. Das Mädchen ist dann längere Zeit krank gewesen, was der Arzt
darauf schiebt, daß es sich nicht genügend geschont habe. Nach der Aussage
des Mädchens hat jedoch, nachdem es eine Zeit lang im Bett gelegen, seine
Dienstfrau es aufstehn heißen, weil sein Zustand nicht gefährlich sei. Der
Arzt ist wegen dieser Behandlung des Mädchens angeklagt worden. Das
Basler Gericht hat ihn freigesprochen. Es hat angenommen, daß das Mädchen
eingewilligt habe, und daß die Einwilligung seines Vaters nicht nötig gewesen
sei, weil der Arzt "in guter Treue angenommen habe und habe annehmen
können, daß das Mädchen die erforderliche Einsicht besitze." Der Verfasser
tadelt diese Entscheidung, und gewiß mit Recht. Die erforderliche Einsicht,
daß die Sache weh thue, besaß das Müdcheu wohl. Besaß es aber auch die
Einsicht und Willenskraft, dem gestellten Verlangen Widerstand zu leisten?
Daß eine so abscheuliche Schinderei (bei der das arme Mädchen nicht einmal
narkotisirt wurde) ungestraft hingehen konnte, beweist, daß es auch in der
freien Schweiz nicht immer musterhaft hergeht.

Ein andrer Fall wurde von einem deutschen Gerichte entschieden. Eine
hhsterische Frau, die zu ihrer Heilung in die Nervenheilanstalt eines Arztes
geschickt war, bekam öfter Schmerzanfälle, bei denen sie heftig schrie. Der
Arzt hatte in solchen Fällen die Frau mehrfach körperlich gezüchtigt, erst mit
Ohrfeigen, dann mit einem Stock, endlich sogar mit einer Reitpeitsche, sodaß
le H-ran blutunterlaufne Striemen davon aufzuweisen hatte. Der angeklagte
Arzt verteidigte sich damit, daß dies zu Heilzwecken geschehen sei. Das Ge¬
richt verurteilte ihn jedoch zu einer dreimonatlichen Gefängnisstrafe. Der Ver¬
fasser billigt dieses Urteil, und auch wir halten es für gerecht.

So weit der Inhalt dieses Schriftchens, das sehr geeignet ist, zum Nach¬
denken anzuregen. Vor allem muß sich der Arzt klar werden über die Grenzen,
me er bei seiner Thätigkeit zu wahren hat. Es kann leicht kommen, daß sich
im Eifer seines Berufs zu Schritten verleiten läßt, über die er sich
vielleicht später Vorwürfe zu macheu hat, oder die ihn gar in Berührung mit
den Strafgerichten bringen. Das Schriftchen giebt einen sehr guten Überblick
^ ^.schlagenden Verhältnisse. Aber sicherlich erschöpft es nicht die
Hatte, die ans diesem zweifelhaften Gebiete liegen. Das erkennt auch der Ver¬
sager selbst an, und er bittet im Vorwort um Mitteilungen, die seine An¬
schauungen ergänzen und zu einer Erweiterung der Lehre dienen können.

Für den Juristen ist das Schriftchen interessant, weil sich in den dar-


Die Grenze» des ärztlichen Berufs

undzwauzig Stücke Haut aus Armen und Beinen geschnitten. Das Mädchen
hatte sich auf Zureden des Arztes dazu verstanden. Ihr am Orte lebender
Vater war aber nicht gefragt worden. Als die Hautstücke aus dem linken
Arme genommen Ware», hatte das Mädchen schon beim rechten Arme nichts
mehr davon wissen wollen. Als ihm trotzdem noch ans den beiden Beinen
sieben und sechs Stücke Haut weggeschnitten wurden, hat es fortwährend dabei
geweint. Das Mädchen ist dann längere Zeit krank gewesen, was der Arzt
darauf schiebt, daß es sich nicht genügend geschont habe. Nach der Aussage
des Mädchens hat jedoch, nachdem es eine Zeit lang im Bett gelegen, seine
Dienstfrau es aufstehn heißen, weil sein Zustand nicht gefährlich sei. Der
Arzt ist wegen dieser Behandlung des Mädchens angeklagt worden. Das
Basler Gericht hat ihn freigesprochen. Es hat angenommen, daß das Mädchen
eingewilligt habe, und daß die Einwilligung seines Vaters nicht nötig gewesen
sei, weil der Arzt „in guter Treue angenommen habe und habe annehmen
können, daß das Mädchen die erforderliche Einsicht besitze." Der Verfasser
tadelt diese Entscheidung, und gewiß mit Recht. Die erforderliche Einsicht,
daß die Sache weh thue, besaß das Müdcheu wohl. Besaß es aber auch die
Einsicht und Willenskraft, dem gestellten Verlangen Widerstand zu leisten?
Daß eine so abscheuliche Schinderei (bei der das arme Mädchen nicht einmal
narkotisirt wurde) ungestraft hingehen konnte, beweist, daß es auch in der
freien Schweiz nicht immer musterhaft hergeht.

Ein andrer Fall wurde von einem deutschen Gerichte entschieden. Eine
hhsterische Frau, die zu ihrer Heilung in die Nervenheilanstalt eines Arztes
geschickt war, bekam öfter Schmerzanfälle, bei denen sie heftig schrie. Der
Arzt hatte in solchen Fällen die Frau mehrfach körperlich gezüchtigt, erst mit
Ohrfeigen, dann mit einem Stock, endlich sogar mit einer Reitpeitsche, sodaß
le H-ran blutunterlaufne Striemen davon aufzuweisen hatte. Der angeklagte
Arzt verteidigte sich damit, daß dies zu Heilzwecken geschehen sei. Das Ge¬
richt verurteilte ihn jedoch zu einer dreimonatlichen Gefängnisstrafe. Der Ver¬
fasser billigt dieses Urteil, und auch wir halten es für gerecht.

So weit der Inhalt dieses Schriftchens, das sehr geeignet ist, zum Nach¬
denken anzuregen. Vor allem muß sich der Arzt klar werden über die Grenzen,
me er bei seiner Thätigkeit zu wahren hat. Es kann leicht kommen, daß sich
im Eifer seines Berufs zu Schritten verleiten läßt, über die er sich
vielleicht später Vorwürfe zu macheu hat, oder die ihn gar in Berührung mit
den Strafgerichten bringen. Das Schriftchen giebt einen sehr guten Überblick
^ ^.schlagenden Verhältnisse. Aber sicherlich erschöpft es nicht die
Hatte, die ans diesem zweifelhaften Gebiete liegen. Das erkennt auch der Ver¬
sager selbst an, und er bittet im Vorwort um Mitteilungen, die seine An¬
schauungen ergänzen und zu einer Erweiterung der Lehre dienen können.

Für den Juristen ist das Schriftchen interessant, weil sich in den dar-


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[0023] Die Grenze» des ärztlichen Berufs undzwauzig Stücke Haut aus Armen und Beinen geschnitten. Das Mädchen hatte sich auf Zureden des Arztes dazu verstanden. Ihr am Orte lebender Vater war aber nicht gefragt worden. Als die Hautstücke aus dem linken Arme genommen Ware», hatte das Mädchen schon beim rechten Arme nichts mehr davon wissen wollen. Als ihm trotzdem noch ans den beiden Beinen sieben und sechs Stücke Haut weggeschnitten wurden, hat es fortwährend dabei geweint. Das Mädchen ist dann längere Zeit krank gewesen, was der Arzt darauf schiebt, daß es sich nicht genügend geschont habe. Nach der Aussage des Mädchens hat jedoch, nachdem es eine Zeit lang im Bett gelegen, seine Dienstfrau es aufstehn heißen, weil sein Zustand nicht gefährlich sei. Der Arzt ist wegen dieser Behandlung des Mädchens angeklagt worden. Das Basler Gericht hat ihn freigesprochen. Es hat angenommen, daß das Mädchen eingewilligt habe, und daß die Einwilligung seines Vaters nicht nötig gewesen sei, weil der Arzt „in guter Treue angenommen habe und habe annehmen können, daß das Mädchen die erforderliche Einsicht besitze." Der Verfasser tadelt diese Entscheidung, und gewiß mit Recht. Die erforderliche Einsicht, daß die Sache weh thue, besaß das Müdcheu wohl. Besaß es aber auch die Einsicht und Willenskraft, dem gestellten Verlangen Widerstand zu leisten? Daß eine so abscheuliche Schinderei (bei der das arme Mädchen nicht einmal narkotisirt wurde) ungestraft hingehen konnte, beweist, daß es auch in der freien Schweiz nicht immer musterhaft hergeht. Ein andrer Fall wurde von einem deutschen Gerichte entschieden. Eine hhsterische Frau, die zu ihrer Heilung in die Nervenheilanstalt eines Arztes geschickt war, bekam öfter Schmerzanfälle, bei denen sie heftig schrie. Der Arzt hatte in solchen Fällen die Frau mehrfach körperlich gezüchtigt, erst mit Ohrfeigen, dann mit einem Stock, endlich sogar mit einer Reitpeitsche, sodaß le H-ran blutunterlaufne Striemen davon aufzuweisen hatte. Der angeklagte Arzt verteidigte sich damit, daß dies zu Heilzwecken geschehen sei. Das Ge¬ richt verurteilte ihn jedoch zu einer dreimonatlichen Gefängnisstrafe. Der Ver¬ fasser billigt dieses Urteil, und auch wir halten es für gerecht. So weit der Inhalt dieses Schriftchens, das sehr geeignet ist, zum Nach¬ denken anzuregen. Vor allem muß sich der Arzt klar werden über die Grenzen, me er bei seiner Thätigkeit zu wahren hat. Es kann leicht kommen, daß sich im Eifer seines Berufs zu Schritten verleiten läßt, über die er sich vielleicht später Vorwürfe zu macheu hat, oder die ihn gar in Berührung mit den Strafgerichten bringen. Das Schriftchen giebt einen sehr guten Überblick ^ ^.schlagenden Verhältnisse. Aber sicherlich erschöpft es nicht die Hatte, die ans diesem zweifelhaften Gebiete liegen. Das erkennt auch der Ver¬ sager selbst an, und er bittet im Vorwort um Mitteilungen, die seine An¬ schauungen ergänzen und zu einer Erweiterung der Lehre dienen können. Für den Juristen ist das Schriftchen interessant, weil sich in den dar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/23>, abgerufen am 23.07.2024.