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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen

einmal einem System von Begriffen einen neuen Begriff einverleibt, und ver¬
sucht man nun, diesen Begriff fruchtbar zu machen, so findet man ganz
natürlich für den anfangs unbestimmten Begriff eine Reihe naher bestimmender
Eigenschaften. Solcher Eigenschaften fand die höhere Mathematik nicht wenige
für die unendlich kleine Große, nachdem sie erst einmal angefangen hatte, mit
diesem Begriff systematisch zu rechnen. Solcher Eigenschaften fand die Natur-
wissenschaft noch viel mehr für das Molekül, seit sie angefangen hatte, diesen
Begriff systematisch zu verwerten. In sie sand deren so viel, daß sie ein
Molekül gar nicht alle in sich vereinigen kann. Das Molekül des analytischen
Mechanikers hat nur eine Eigenschaft, die der Schwere. Aus unausgedehnten
Punkten aber laßt sich kein ausgedehnter Körper aufbauen. Will man also
dem Molekül materielles Dasein beilegen, so wird man ihm auch eine bestimmte
Gestalt zuschreiben müssen. Der Optiker, der das Licht nicht auf Schwingungen
der Moleküle zurückführen kann, sondern als Träger dieser Bewegung einen
besondern Stoff, deu Äther, annimmt, umkleidet jedes materielle Molekül
mit schwingenden immateriellen Äthermvlekülen, und da diese Schwingungen
Farben erzeugen, so hat jedes materielle Molekül anch seine bestimmte Farbe.
Der Chemiker nnn, der sich nicht um die gemeinsamen Eigenschaften aller
Materie, sondern um die besondern Eigenschaften der verschiednen Arten von
Materie kümmert, kann mit einem unteilbaren Molekül nichts anfangen, er
muß es weiter in Atome zerlegen. Das Molekül, das alle diese Eigenschaften
in sich vereinigt, unterscheidet sich also von gewöhnlicher Materie durch nichts
als durch die willkürliche Annahme, daß seine Teile durch mechanische Kraft
nicht zu trennen seien. Das Molekül ist also nur ein ideelles Bild der Materie.
Jeder Zweig der Wissenschaft entkleidet die Materie aller für ihn unwesent¬
lichen Eigenschaften und schafft sich so den Grundbegriff einer materiellen Ein¬
heit, die nur die Eigenschaft trägt, die für den betreffenden Zweig der Wissen¬
schaft von Bedeutung ist. Es giebt also in Wahrheit nicht ein Molekül,
sondern so viele, als es besondre Zweige in der Naturwissenschaft giebt, oder,
wenn man will, es giebt so viel besondre Zweige in der Naturwissenschaft,
als es Moleküle giebt.

Man könnte nnn von mir den Beweis fordern, daß die Lehrer der Natur-
Wissenschaft in der That das materielle Dasein des Moleküls behaupteten.
Genau ließe sich dieser Nachweis nur durch eine Umfrage führen, und der
Scherz wäre ja ganz zeitgemäß, einige tausend wohlparagraphirte Fragebogen
zu versenden und statistisch festzustellen, wer Recht oder Unrecht hat. Glück¬
licherweise brauchen wir diesen nu-as-sivolv-Unsinn nicht mitzumachen. Es
giebt eine hinlängliche Anzahl von Lehrbüchern, aus denen die Ansichten
zu erkennen sind, nach denen auf den höhern Schulen unterrichtet wird. Vor
"ur liegt ein "Lehrbuch der Physik" von Dr. Butte. noch lange keins der
schlechtesten, nach dem ich selbst auf der Schule in die Physik eingeführt worden


Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen

einmal einem System von Begriffen einen neuen Begriff einverleibt, und ver¬
sucht man nun, diesen Begriff fruchtbar zu machen, so findet man ganz
natürlich für den anfangs unbestimmten Begriff eine Reihe naher bestimmender
Eigenschaften. Solcher Eigenschaften fand die höhere Mathematik nicht wenige
für die unendlich kleine Große, nachdem sie erst einmal angefangen hatte, mit
diesem Begriff systematisch zu rechnen. Solcher Eigenschaften fand die Natur-
wissenschaft noch viel mehr für das Molekül, seit sie angefangen hatte, diesen
Begriff systematisch zu verwerten. In sie sand deren so viel, daß sie ein
Molekül gar nicht alle in sich vereinigen kann. Das Molekül des analytischen
Mechanikers hat nur eine Eigenschaft, die der Schwere. Aus unausgedehnten
Punkten aber laßt sich kein ausgedehnter Körper aufbauen. Will man also
dem Molekül materielles Dasein beilegen, so wird man ihm auch eine bestimmte
Gestalt zuschreiben müssen. Der Optiker, der das Licht nicht auf Schwingungen
der Moleküle zurückführen kann, sondern als Träger dieser Bewegung einen
besondern Stoff, deu Äther, annimmt, umkleidet jedes materielle Molekül
mit schwingenden immateriellen Äthermvlekülen, und da diese Schwingungen
Farben erzeugen, so hat jedes materielle Molekül anch seine bestimmte Farbe.
Der Chemiker nnn, der sich nicht um die gemeinsamen Eigenschaften aller
Materie, sondern um die besondern Eigenschaften der verschiednen Arten von
Materie kümmert, kann mit einem unteilbaren Molekül nichts anfangen, er
muß es weiter in Atome zerlegen. Das Molekül, das alle diese Eigenschaften
in sich vereinigt, unterscheidet sich also von gewöhnlicher Materie durch nichts
als durch die willkürliche Annahme, daß seine Teile durch mechanische Kraft
nicht zu trennen seien. Das Molekül ist also nur ein ideelles Bild der Materie.
Jeder Zweig der Wissenschaft entkleidet die Materie aller für ihn unwesent¬
lichen Eigenschaften und schafft sich so den Grundbegriff einer materiellen Ein¬
heit, die nur die Eigenschaft trägt, die für den betreffenden Zweig der Wissen¬
schaft von Bedeutung ist. Es giebt also in Wahrheit nicht ein Molekül,
sondern so viele, als es besondre Zweige in der Naturwissenschaft giebt, oder,
wenn man will, es giebt so viel besondre Zweige in der Naturwissenschaft,
als es Moleküle giebt.

Man könnte nnn von mir den Beweis fordern, daß die Lehrer der Natur-
Wissenschaft in der That das materielle Dasein des Moleküls behaupteten.
Genau ließe sich dieser Nachweis nur durch eine Umfrage führen, und der
Scherz wäre ja ganz zeitgemäß, einige tausend wohlparagraphirte Fragebogen
zu versenden und statistisch festzustellen, wer Recht oder Unrecht hat. Glück¬
licherweise brauchen wir diesen nu-as-sivolv-Unsinn nicht mitzumachen. Es
giebt eine hinlängliche Anzahl von Lehrbüchern, aus denen die Ansichten
zu erkennen sind, nach denen auf den höhern Schulen unterrichtet wird. Vor
"ur liegt ein „Lehrbuch der Physik" von Dr. Butte. noch lange keins der
schlechtesten, nach dem ich selbst auf der Schule in die Physik eingeführt worden


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[0214] Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen einmal einem System von Begriffen einen neuen Begriff einverleibt, und ver¬ sucht man nun, diesen Begriff fruchtbar zu machen, so findet man ganz natürlich für den anfangs unbestimmten Begriff eine Reihe naher bestimmender Eigenschaften. Solcher Eigenschaften fand die höhere Mathematik nicht wenige für die unendlich kleine Große, nachdem sie erst einmal angefangen hatte, mit diesem Begriff systematisch zu rechnen. Solcher Eigenschaften fand die Natur- wissenschaft noch viel mehr für das Molekül, seit sie angefangen hatte, diesen Begriff systematisch zu verwerten. In sie sand deren so viel, daß sie ein Molekül gar nicht alle in sich vereinigen kann. Das Molekül des analytischen Mechanikers hat nur eine Eigenschaft, die der Schwere. Aus unausgedehnten Punkten aber laßt sich kein ausgedehnter Körper aufbauen. Will man also dem Molekül materielles Dasein beilegen, so wird man ihm auch eine bestimmte Gestalt zuschreiben müssen. Der Optiker, der das Licht nicht auf Schwingungen der Moleküle zurückführen kann, sondern als Träger dieser Bewegung einen besondern Stoff, deu Äther, annimmt, umkleidet jedes materielle Molekül mit schwingenden immateriellen Äthermvlekülen, und da diese Schwingungen Farben erzeugen, so hat jedes materielle Molekül anch seine bestimmte Farbe. Der Chemiker nnn, der sich nicht um die gemeinsamen Eigenschaften aller Materie, sondern um die besondern Eigenschaften der verschiednen Arten von Materie kümmert, kann mit einem unteilbaren Molekül nichts anfangen, er muß es weiter in Atome zerlegen. Das Molekül, das alle diese Eigenschaften in sich vereinigt, unterscheidet sich also von gewöhnlicher Materie durch nichts als durch die willkürliche Annahme, daß seine Teile durch mechanische Kraft nicht zu trennen seien. Das Molekül ist also nur ein ideelles Bild der Materie. Jeder Zweig der Wissenschaft entkleidet die Materie aller für ihn unwesent¬ lichen Eigenschaften und schafft sich so den Grundbegriff einer materiellen Ein¬ heit, die nur die Eigenschaft trägt, die für den betreffenden Zweig der Wissen¬ schaft von Bedeutung ist. Es giebt also in Wahrheit nicht ein Molekül, sondern so viele, als es besondre Zweige in der Naturwissenschaft giebt, oder, wenn man will, es giebt so viel besondre Zweige in der Naturwissenschaft, als es Moleküle giebt. Man könnte nnn von mir den Beweis fordern, daß die Lehrer der Natur- Wissenschaft in der That das materielle Dasein des Moleküls behaupteten. Genau ließe sich dieser Nachweis nur durch eine Umfrage führen, und der Scherz wäre ja ganz zeitgemäß, einige tausend wohlparagraphirte Fragebogen zu versenden und statistisch festzustellen, wer Recht oder Unrecht hat. Glück¬ licherweise brauchen wir diesen nu-as-sivolv-Unsinn nicht mitzumachen. Es giebt eine hinlängliche Anzahl von Lehrbüchern, aus denen die Ansichten zu erkennen sind, nach denen auf den höhern Schulen unterrichtet wird. Vor "ur liegt ein „Lehrbuch der Physik" von Dr. Butte. noch lange keins der schlechtesten, nach dem ich selbst auf der Schule in die Physik eingeführt worden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/214>, abgerufen am 26.08.2024.