Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen Vorgänge durch Bewegungen der kleinsten unteilbaren Teilchen, zur bessern Aber -- so höre ich entrüstet einen Jünger der Wissenschaft ausrufen, Aber - wird nun der Chemiker einwenden -- wie kann man denn den Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen Vorgänge durch Bewegungen der kleinsten unteilbaren Teilchen, zur bessern Aber — so höre ich entrüstet einen Jünger der Wissenschaft ausrufen, Aber - wird nun der Chemiker einwenden — wie kann man denn den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0213" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214668"/> <fw type="header" place="top"> Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen</fw><lb/> <p xml:id="ID_865" prev="#ID_864"> Vorgänge durch Bewegungen der kleinsten unteilbaren Teilchen, zur bessern<lb/> Verschleierung des Widerspruchs Moleküle genannt, zurückführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_866"> Aber — so höre ich entrüstet einen Jünger der Wissenschaft ausrufen,<lb/> der mit Ungeduld bis hierher gelesen hat — sollen denn die Moleküle, mit<lb/> deren Dasein die gelehrtesten Männer erfolgreich gerechnet haben, gnr nicht<lb/> vorhanden sein? Ja, wer bestreitet denn, daß sie vorhanden sind! Nur wo<lb/> sie sind, das ist die Frage. Als ein Grundbegriff der mathematischen Natur¬<lb/> wissenschaft führen sie ein sehr reales Dasein, aber daß sie in der sinnlichen<lb/> Welt vorhanden seien, daß sie körperliche Gebilde im Raum seien, das bestreite<lb/> ich ganz entschieden. Unteilbare Materie ist der sinnlichen Welt ebenso unbe¬<lb/> kannt, wie die unendlich kleine Größe der Mathematiker, das Differential. Und<lb/> doch rechnet die höhere Mathematik sehr erfolgreich mit unendlich kleinen<lb/> Größen, aber freilich ist es ihr noch nicht eingefallen, diese Gebilde des reinsten<lb/> Denkens für körperliche Gebilde zu erklären, die für unsre Sinne vorhanden<lb/> sind. Wie die Meister der Naturwissenschaft über das Molekül denken, weiß<lb/> ich nicht, obwohl ich zu den Füßen einer ganzen Reihe von ihnen gesessen<lb/> habe. Möglich, daß das an mir gelegen hat; möglich auch, daß sie sich nicht<lb/> mit der wünschenswerten Klarheit ausgedrückt haben. Wie aber die Jünger<lb/> das Molekül auffassen, das wird jeder wissen, der die Prima eines Real¬<lb/> gymnasiums durchgemacht hat. Dort wird in Physik und Chemie nicht gelehrt,<lb/> daß sich das System dieser Wissenschaften auf dem Begriff des Moleküls auf¬<lb/> baut, sondern daß sich die sinnliche Materie aus unteilbaren Körperchen zu¬<lb/> sammensetzt. Dort wird nicht gelehrt, welche Art von Bewegung die rechnende<lb/> Wissenschaft diesen Molekülen beilegen muß, um ein den sinnlich wahrge¬<lb/> nommenen Erscheinungen entsprechendes logisches System von Begriffen auf¬<lb/> stellen zu können; sondern es wird die kühne Behauptung aufgestellt, daß das,<lb/> was wir als Schall, Licht, Wärme empfinden, nichts andres sei, als die und<lb/> die Bewegung der unteilbaren kleinsten Teilchen der Materie! Es ist der alte<lb/> cire-ulus: aus den sinnlichen Erscheinungen wird ein Begriff abgeleitet; dann<lb/> wird auf Grund dieses Begriffes eine mehr oder minder vollständige Theorie<lb/> aufgestellt; und schließlich wird die sinnliche Erscheinung einfach mit der Theorie<lb/> zusammengeworfen. Oder, in der Sprache des alten Kant zu reden: was ein<lb/> regulatives Prinzip bleiben sollte, wird zu einem konstitutiven erhoben. Aber<lb/> wer von unsern Lehrern kennt denn von Kant mehr als den Namen! Und<lb/> wer möchte von siebzehnjährigen Primanern verlangen, daß sie sich durch die<lb/> „Kritik der reinen Vernunft" durcharbeiten, um zu würdigen, was ihnen ihre<lb/> Lehrer vortragen!</p><lb/> <p xml:id="ID_867" next="#ID_868"> Aber - wird nun der Chemiker einwenden — wie kann man denn den<lb/> Molekülen ihr materielles Dasein abstreiten, da man doch ganz genau aus¬<lb/> rechnen kann, wie schwer sie sind! Dem würde ich erwidern, daß es mir<lb/> viel wunderbarer erscheinen würde, wenn man das nicht könnte. Hat man</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0213]
Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen
Vorgänge durch Bewegungen der kleinsten unteilbaren Teilchen, zur bessern
Verschleierung des Widerspruchs Moleküle genannt, zurückführt.
Aber — so höre ich entrüstet einen Jünger der Wissenschaft ausrufen,
der mit Ungeduld bis hierher gelesen hat — sollen denn die Moleküle, mit
deren Dasein die gelehrtesten Männer erfolgreich gerechnet haben, gnr nicht
vorhanden sein? Ja, wer bestreitet denn, daß sie vorhanden sind! Nur wo
sie sind, das ist die Frage. Als ein Grundbegriff der mathematischen Natur¬
wissenschaft führen sie ein sehr reales Dasein, aber daß sie in der sinnlichen
Welt vorhanden seien, daß sie körperliche Gebilde im Raum seien, das bestreite
ich ganz entschieden. Unteilbare Materie ist der sinnlichen Welt ebenso unbe¬
kannt, wie die unendlich kleine Größe der Mathematiker, das Differential. Und
doch rechnet die höhere Mathematik sehr erfolgreich mit unendlich kleinen
Größen, aber freilich ist es ihr noch nicht eingefallen, diese Gebilde des reinsten
Denkens für körperliche Gebilde zu erklären, die für unsre Sinne vorhanden
sind. Wie die Meister der Naturwissenschaft über das Molekül denken, weiß
ich nicht, obwohl ich zu den Füßen einer ganzen Reihe von ihnen gesessen
habe. Möglich, daß das an mir gelegen hat; möglich auch, daß sie sich nicht
mit der wünschenswerten Klarheit ausgedrückt haben. Wie aber die Jünger
das Molekül auffassen, das wird jeder wissen, der die Prima eines Real¬
gymnasiums durchgemacht hat. Dort wird in Physik und Chemie nicht gelehrt,
daß sich das System dieser Wissenschaften auf dem Begriff des Moleküls auf¬
baut, sondern daß sich die sinnliche Materie aus unteilbaren Körperchen zu¬
sammensetzt. Dort wird nicht gelehrt, welche Art von Bewegung die rechnende
Wissenschaft diesen Molekülen beilegen muß, um ein den sinnlich wahrge¬
nommenen Erscheinungen entsprechendes logisches System von Begriffen auf¬
stellen zu können; sondern es wird die kühne Behauptung aufgestellt, daß das,
was wir als Schall, Licht, Wärme empfinden, nichts andres sei, als die und
die Bewegung der unteilbaren kleinsten Teilchen der Materie! Es ist der alte
cire-ulus: aus den sinnlichen Erscheinungen wird ein Begriff abgeleitet; dann
wird auf Grund dieses Begriffes eine mehr oder minder vollständige Theorie
aufgestellt; und schließlich wird die sinnliche Erscheinung einfach mit der Theorie
zusammengeworfen. Oder, in der Sprache des alten Kant zu reden: was ein
regulatives Prinzip bleiben sollte, wird zu einem konstitutiven erhoben. Aber
wer von unsern Lehrern kennt denn von Kant mehr als den Namen! Und
wer möchte von siebzehnjährigen Primanern verlangen, daß sie sich durch die
„Kritik der reinen Vernunft" durcharbeiten, um zu würdigen, was ihnen ihre
Lehrer vortragen!
Aber - wird nun der Chemiker einwenden — wie kann man denn den
Molekülen ihr materielles Dasein abstreiten, da man doch ganz genau aus¬
rechnen kann, wie schwer sie sind! Dem würde ich erwidern, daß es mir
viel wunderbarer erscheinen würde, wenn man das nicht könnte. Hat man
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