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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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bin. Darin ist S. 13 f. zu lesen: "Wenn aber auch die physikalische Teilbar¬
keit der Materie die Grenzen der Sinneswnhruehmung weit übersteigt, so ist
doch äußerst wahrscheinlich (!), das; sie nicht unendlich ist, sondern bei einer be¬
stimmten Größe der Teilchen aufhört."

So, du junger Verstand, der du eben begonnen hast, um die Wunder
der Sinnenwelt zu wirken und zu weben, nun müh dich, diesen metaphysischen
Unsinn zu verdauen! Dein gesunder Sinn sträubt sich dagegen, dir ein mate¬
rielles Teilchen vorzustellen, das nicht mehr geteilt werden kann? Es hilft dir
nichts. Dein Lehrer wird dir die Sache immer "äußerst wahrscheinlicher"
machen; und woher soll dein unselbständiges Denken die Mittel nehmen, den
Widerspruch aufzulösen, den dir die verehrte Autorität aufdrängt? Kann es
doch die Autorität selbst nicht! Also giebst du dich bald zufrieden und machst
dich demnächst erfolgreich daran, mit Hilfe des Zauberschlüssels der kleinsten
unteilbaren Teilchen selbst die Rätsel dieser Welt zu lösen. Daß dabei noch
manches unklar bleibt, was kümmert das dich? Das wird schon die Zukunft
in Ordnung bringen, und ohne Zweifel wird ein Robert Koch des zwanzigsten
Jahrhunderts Moleküle und Atome unter dem Mikroskop sichtbar machen und
in Reinkulturen züchten, wie unser Robert Koch Bazillen.

In demselben Lehrbuch steht S. 232 der schöne Satz: "Es ist daher mit
Bestimmtheit anzunehmen (!), daß das, was unser Ohr wahrnimmt, nichts
andres ist, als eine Wellenbewegung."

Der Schall ist eine Sinneswahrnehmung. Was eine solche ist, kann nicht
weiter erklärt werden, braucht es aber auch nicht. Denn jedermann weiß,
was eine Sinneswahrnehmung ist, und wer es nicht weiß, mit dem muß man
sich nicht länger aufhalten. Nun ist aber die Bewegung auch eine Sinnes¬
wahrnehmung, aber eine, die vom Auge wahrgenommen wird, oder vom Tast¬
sinn, oder von beiden. (Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie diese
Wahrnehmung zu stände kommt; es genügt, daß das Ohr dabei unbeteiligt
ist.) Jener Satz behauptet also, daß die Wahrnehmungen verschiedner Sinne
ein und dasselbe seien, wogegen sich dus gesunde Selbstbewußtsein natürlich
mächtig auflehnt. Aber die behauptete Wellenbewegung, ist sie denn überhaupt
eine sinnliche Wahrnehmung? Nun, wenn sie es nicht ist, dann ist sie ein
theoretisch kvnstruirter Begriff. Aber dann hat man noch weit weniger Be¬
rechtigung, sie mit einer Sinneswahrnehmung für eins zu erklären. Dann
darf mau doch höchstens sagen: Gesetzt, die Moleküle der mathematischen Natur¬
wissenschaft bestünden als körperliche Gebilde im Raum, und unser Auge wäre
so scharf, diese Moleküle sehen zu können, dann würde unser Auge, wenn unser
Ohr den und den Schall hört, die und die Bewegung dieser Moleküle sehen
können. Das ist etwas umständlich ausgedrückt, und man darf zweifeln, ob
es ein Primaner verstehen würde. Dann sage man ihm aber lieber gar nichts
von diesen Dingen, als daß man mit der unbestimmten Phrase "es ist mit


bin. Darin ist S. 13 f. zu lesen: „Wenn aber auch die physikalische Teilbar¬
keit der Materie die Grenzen der Sinneswnhruehmung weit übersteigt, so ist
doch äußerst wahrscheinlich (!), das; sie nicht unendlich ist, sondern bei einer be¬
stimmten Größe der Teilchen aufhört."

So, du junger Verstand, der du eben begonnen hast, um die Wunder
der Sinnenwelt zu wirken und zu weben, nun müh dich, diesen metaphysischen
Unsinn zu verdauen! Dein gesunder Sinn sträubt sich dagegen, dir ein mate¬
rielles Teilchen vorzustellen, das nicht mehr geteilt werden kann? Es hilft dir
nichts. Dein Lehrer wird dir die Sache immer „äußerst wahrscheinlicher"
machen; und woher soll dein unselbständiges Denken die Mittel nehmen, den
Widerspruch aufzulösen, den dir die verehrte Autorität aufdrängt? Kann es
doch die Autorität selbst nicht! Also giebst du dich bald zufrieden und machst
dich demnächst erfolgreich daran, mit Hilfe des Zauberschlüssels der kleinsten
unteilbaren Teilchen selbst die Rätsel dieser Welt zu lösen. Daß dabei noch
manches unklar bleibt, was kümmert das dich? Das wird schon die Zukunft
in Ordnung bringen, und ohne Zweifel wird ein Robert Koch des zwanzigsten
Jahrhunderts Moleküle und Atome unter dem Mikroskop sichtbar machen und
in Reinkulturen züchten, wie unser Robert Koch Bazillen.

In demselben Lehrbuch steht S. 232 der schöne Satz: „Es ist daher mit
Bestimmtheit anzunehmen (!), daß das, was unser Ohr wahrnimmt, nichts
andres ist, als eine Wellenbewegung."

Der Schall ist eine Sinneswahrnehmung. Was eine solche ist, kann nicht
weiter erklärt werden, braucht es aber auch nicht. Denn jedermann weiß,
was eine Sinneswahrnehmung ist, und wer es nicht weiß, mit dem muß man
sich nicht länger aufhalten. Nun ist aber die Bewegung auch eine Sinnes¬
wahrnehmung, aber eine, die vom Auge wahrgenommen wird, oder vom Tast¬
sinn, oder von beiden. (Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie diese
Wahrnehmung zu stände kommt; es genügt, daß das Ohr dabei unbeteiligt
ist.) Jener Satz behauptet also, daß die Wahrnehmungen verschiedner Sinne
ein und dasselbe seien, wogegen sich dus gesunde Selbstbewußtsein natürlich
mächtig auflehnt. Aber die behauptete Wellenbewegung, ist sie denn überhaupt
eine sinnliche Wahrnehmung? Nun, wenn sie es nicht ist, dann ist sie ein
theoretisch kvnstruirter Begriff. Aber dann hat man noch weit weniger Be¬
rechtigung, sie mit einer Sinneswahrnehmung für eins zu erklären. Dann
darf mau doch höchstens sagen: Gesetzt, die Moleküle der mathematischen Natur¬
wissenschaft bestünden als körperliche Gebilde im Raum, und unser Auge wäre
so scharf, diese Moleküle sehen zu können, dann würde unser Auge, wenn unser
Ohr den und den Schall hört, die und die Bewegung dieser Moleküle sehen
können. Das ist etwas umständlich ausgedrückt, und man darf zweifeln, ob
es ein Primaner verstehen würde. Dann sage man ihm aber lieber gar nichts
von diesen Dingen, als daß man mit der unbestimmten Phrase „es ist mit


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[0215] bin. Darin ist S. 13 f. zu lesen: „Wenn aber auch die physikalische Teilbar¬ keit der Materie die Grenzen der Sinneswnhruehmung weit übersteigt, so ist doch äußerst wahrscheinlich (!), das; sie nicht unendlich ist, sondern bei einer be¬ stimmten Größe der Teilchen aufhört." So, du junger Verstand, der du eben begonnen hast, um die Wunder der Sinnenwelt zu wirken und zu weben, nun müh dich, diesen metaphysischen Unsinn zu verdauen! Dein gesunder Sinn sträubt sich dagegen, dir ein mate¬ rielles Teilchen vorzustellen, das nicht mehr geteilt werden kann? Es hilft dir nichts. Dein Lehrer wird dir die Sache immer „äußerst wahrscheinlicher" machen; und woher soll dein unselbständiges Denken die Mittel nehmen, den Widerspruch aufzulösen, den dir die verehrte Autorität aufdrängt? Kann es doch die Autorität selbst nicht! Also giebst du dich bald zufrieden und machst dich demnächst erfolgreich daran, mit Hilfe des Zauberschlüssels der kleinsten unteilbaren Teilchen selbst die Rätsel dieser Welt zu lösen. Daß dabei noch manches unklar bleibt, was kümmert das dich? Das wird schon die Zukunft in Ordnung bringen, und ohne Zweifel wird ein Robert Koch des zwanzigsten Jahrhunderts Moleküle und Atome unter dem Mikroskop sichtbar machen und in Reinkulturen züchten, wie unser Robert Koch Bazillen. In demselben Lehrbuch steht S. 232 der schöne Satz: „Es ist daher mit Bestimmtheit anzunehmen (!), daß das, was unser Ohr wahrnimmt, nichts andres ist, als eine Wellenbewegung." Der Schall ist eine Sinneswahrnehmung. Was eine solche ist, kann nicht weiter erklärt werden, braucht es aber auch nicht. Denn jedermann weiß, was eine Sinneswahrnehmung ist, und wer es nicht weiß, mit dem muß man sich nicht länger aufhalten. Nun ist aber die Bewegung auch eine Sinnes¬ wahrnehmung, aber eine, die vom Auge wahrgenommen wird, oder vom Tast¬ sinn, oder von beiden. (Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, wie diese Wahrnehmung zu stände kommt; es genügt, daß das Ohr dabei unbeteiligt ist.) Jener Satz behauptet also, daß die Wahrnehmungen verschiedner Sinne ein und dasselbe seien, wogegen sich dus gesunde Selbstbewußtsein natürlich mächtig auflehnt. Aber die behauptete Wellenbewegung, ist sie denn überhaupt eine sinnliche Wahrnehmung? Nun, wenn sie es nicht ist, dann ist sie ein theoretisch kvnstruirter Begriff. Aber dann hat man noch weit weniger Be¬ rechtigung, sie mit einer Sinneswahrnehmung für eins zu erklären. Dann darf mau doch höchstens sagen: Gesetzt, die Moleküle der mathematischen Natur¬ wissenschaft bestünden als körperliche Gebilde im Raum, und unser Auge wäre so scharf, diese Moleküle sehen zu können, dann würde unser Auge, wenn unser Ohr den und den Schall hört, die und die Bewegung dieser Moleküle sehen können. Das ist etwas umständlich ausgedrückt, und man darf zweifeln, ob es ein Primaner verstehen würde. Dann sage man ihm aber lieber gar nichts von diesen Dingen, als daß man mit der unbestimmten Phrase „es ist mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/215>, abgerufen am 23.07.2024.