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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höher" Schulen

fordern namentlich die Vertreter der Technik in ihren "Resolutionen" zur
Schulfrage -- wo heute drei bei einanderstehen, da fassete sie bekanntlich eine
"Resolution" -- den Aufbau der modernen Bildung "auf nensprachlich-natur-
wissenschaftlicher Grundlage." Ob sie sich wohl darüber klar sind, wie diese
wunderliche Grundlage aussehen soll? Am "neusprachlicheu" Unterricht ist von
berufenster Seite Kritik geübt wordeu, und wie er in Zukunft betrieben werden
muß, darüber sind wir so ziemlich im reinen. Mit der gegenwärtigen Praxis
des naturwissenschaftlichen Unterrichts dagegen scheint man völlig zufrieden zu
fein, höchsteus wünscht man die Unterrichtsstunden vermehrt zu sehen. Man
thut sich etwas zu gute auf den Grundsatz, die Mittel zum Unterricht "ach
Möglichkeit der Anschauung zu entnehmen, und entnimmt dabei die Gegen¬
stände des Unterrichts der Theorie, die -- wir wollen es nur geradeheraus
sagen -- nicht einmal der Lehrer versteht. Dieses Urteil ist hart, aber es soll
ausführlich begründet werden.

Die beiden grundlegenden Hypothesen der modernen Naturwissenschaft sind
die Deseendenztheorie und die Theorie von den Bewegungen der Moleküle.
Die erste hat ihre Quelle in der Beobachtung und kann daher schließlich jedem
Gebildeten verständlich gemacht werden, der Angen hat zu sehen und Ohren
zu hören. Die zweite hat ihre Quelle in dem begrifflichen Denken und kann
daher nur von dem begriffen werden, dessen Denken philosophisch geschult ist.
Wo aber hätten unsre Kandidaten des höhern Lehramts eine philosophische
Schulung genossen? Das bischen Nvtizengelehrsamkeit, das sie einst in dem
mit der Aufschrift "Philosophie und Pädagogik" versehenen Schubfach ihrer
Examenausrüstung mit sich führten, haben sie als Lehrer ja längst wieder
vergessen. Es würde ihnen auch wenig helfen zur Lösung des Widerspruchs,
den sie um die Spitze ihres Unterrichts in Chemie und Physik stellen. Denn
in der That, mit einem Widerspruch säugt die ganze Geschichte an. Die
Chemie und die mathematische Naturwissenschaft, beide von verschiednen Punkten
ausgehend, sind bestrebt, alle Erscheinungen der sinnlichen Welt ans Bewegungen
der Moleküle zurückzuführen. Ihre Systeme -- denn von einem einheitlichen
System sind sie noch weit entfernt -- beginnen daher mit dem Satz: Die
Materie besteht aus kleinsten Teilchen, Moleküle genannt, die dnrch mechanische
Mittel nicht weiter teilbar sind. Unteilbare Teilchen! Ein Widerspruch, über
den kein unbefangnes Denken hinwegkommt. Mag sein, daß sich der Lehrer
schließlich einredet, er glaube um die materielle Existenz dieser unteilbaren
Teilchen. Der Schüler aber -- ich weiß das aus eigner und fremder Erfah¬
rung -- trägt schwer an diesem Widerspruch. Immer wieder sagt ihm sein
noch unverdorbnes wissenschaftliches Gewissen, daß er sein stolzes System ans
inner Lüge aufbaut, und immer wieder besticht ihn die scheinbare Konsequenz
dieses Systems, das die physikalischen Erscheinungen, die chemischen Reaktionen
und -- wer zweifelt noch daran! -- über kurz oder lang anch die psychischen


Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höher» Schulen

fordern namentlich die Vertreter der Technik in ihren „Resolutionen" zur
Schulfrage — wo heute drei bei einanderstehen, da fassete sie bekanntlich eine
„Resolution" — den Aufbau der modernen Bildung „auf nensprachlich-natur-
wissenschaftlicher Grundlage." Ob sie sich wohl darüber klar sind, wie diese
wunderliche Grundlage aussehen soll? Am „neusprachlicheu" Unterricht ist von
berufenster Seite Kritik geübt wordeu, und wie er in Zukunft betrieben werden
muß, darüber sind wir so ziemlich im reinen. Mit der gegenwärtigen Praxis
des naturwissenschaftlichen Unterrichts dagegen scheint man völlig zufrieden zu
fein, höchsteus wünscht man die Unterrichtsstunden vermehrt zu sehen. Man
thut sich etwas zu gute auf den Grundsatz, die Mittel zum Unterricht »ach
Möglichkeit der Anschauung zu entnehmen, und entnimmt dabei die Gegen¬
stände des Unterrichts der Theorie, die — wir wollen es nur geradeheraus
sagen — nicht einmal der Lehrer versteht. Dieses Urteil ist hart, aber es soll
ausführlich begründet werden.

Die beiden grundlegenden Hypothesen der modernen Naturwissenschaft sind
die Deseendenztheorie und die Theorie von den Bewegungen der Moleküle.
Die erste hat ihre Quelle in der Beobachtung und kann daher schließlich jedem
Gebildeten verständlich gemacht werden, der Angen hat zu sehen und Ohren
zu hören. Die zweite hat ihre Quelle in dem begrifflichen Denken und kann
daher nur von dem begriffen werden, dessen Denken philosophisch geschult ist.
Wo aber hätten unsre Kandidaten des höhern Lehramts eine philosophische
Schulung genossen? Das bischen Nvtizengelehrsamkeit, das sie einst in dem
mit der Aufschrift „Philosophie und Pädagogik" versehenen Schubfach ihrer
Examenausrüstung mit sich führten, haben sie als Lehrer ja längst wieder
vergessen. Es würde ihnen auch wenig helfen zur Lösung des Widerspruchs,
den sie um die Spitze ihres Unterrichts in Chemie und Physik stellen. Denn
in der That, mit einem Widerspruch säugt die ganze Geschichte an. Die
Chemie und die mathematische Naturwissenschaft, beide von verschiednen Punkten
ausgehend, sind bestrebt, alle Erscheinungen der sinnlichen Welt ans Bewegungen
der Moleküle zurückzuführen. Ihre Systeme — denn von einem einheitlichen
System sind sie noch weit entfernt — beginnen daher mit dem Satz: Die
Materie besteht aus kleinsten Teilchen, Moleküle genannt, die dnrch mechanische
Mittel nicht weiter teilbar sind. Unteilbare Teilchen! Ein Widerspruch, über
den kein unbefangnes Denken hinwegkommt. Mag sein, daß sich der Lehrer
schließlich einredet, er glaube um die materielle Existenz dieser unteilbaren
Teilchen. Der Schüler aber — ich weiß das aus eigner und fremder Erfah¬
rung — trägt schwer an diesem Widerspruch. Immer wieder sagt ihm sein
noch unverdorbnes wissenschaftliches Gewissen, daß er sein stolzes System ans
inner Lüge aufbaut, und immer wieder besticht ihn die scheinbare Konsequenz
dieses Systems, das die physikalischen Erscheinungen, die chemischen Reaktionen
und — wer zweifelt noch daran! — über kurz oder lang anch die psychischen


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[0212] Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höher» Schulen fordern namentlich die Vertreter der Technik in ihren „Resolutionen" zur Schulfrage — wo heute drei bei einanderstehen, da fassete sie bekanntlich eine „Resolution" — den Aufbau der modernen Bildung „auf nensprachlich-natur- wissenschaftlicher Grundlage." Ob sie sich wohl darüber klar sind, wie diese wunderliche Grundlage aussehen soll? Am „neusprachlicheu" Unterricht ist von berufenster Seite Kritik geübt wordeu, und wie er in Zukunft betrieben werden muß, darüber sind wir so ziemlich im reinen. Mit der gegenwärtigen Praxis des naturwissenschaftlichen Unterrichts dagegen scheint man völlig zufrieden zu fein, höchsteus wünscht man die Unterrichtsstunden vermehrt zu sehen. Man thut sich etwas zu gute auf den Grundsatz, die Mittel zum Unterricht »ach Möglichkeit der Anschauung zu entnehmen, und entnimmt dabei die Gegen¬ stände des Unterrichts der Theorie, die — wir wollen es nur geradeheraus sagen — nicht einmal der Lehrer versteht. Dieses Urteil ist hart, aber es soll ausführlich begründet werden. Die beiden grundlegenden Hypothesen der modernen Naturwissenschaft sind die Deseendenztheorie und die Theorie von den Bewegungen der Moleküle. Die erste hat ihre Quelle in der Beobachtung und kann daher schließlich jedem Gebildeten verständlich gemacht werden, der Angen hat zu sehen und Ohren zu hören. Die zweite hat ihre Quelle in dem begrifflichen Denken und kann daher nur von dem begriffen werden, dessen Denken philosophisch geschult ist. Wo aber hätten unsre Kandidaten des höhern Lehramts eine philosophische Schulung genossen? Das bischen Nvtizengelehrsamkeit, das sie einst in dem mit der Aufschrift „Philosophie und Pädagogik" versehenen Schubfach ihrer Examenausrüstung mit sich führten, haben sie als Lehrer ja längst wieder vergessen. Es würde ihnen auch wenig helfen zur Lösung des Widerspruchs, den sie um die Spitze ihres Unterrichts in Chemie und Physik stellen. Denn in der That, mit einem Widerspruch säugt die ganze Geschichte an. Die Chemie und die mathematische Naturwissenschaft, beide von verschiednen Punkten ausgehend, sind bestrebt, alle Erscheinungen der sinnlichen Welt ans Bewegungen der Moleküle zurückzuführen. Ihre Systeme — denn von einem einheitlichen System sind sie noch weit entfernt — beginnen daher mit dem Satz: Die Materie besteht aus kleinsten Teilchen, Moleküle genannt, die dnrch mechanische Mittel nicht weiter teilbar sind. Unteilbare Teilchen! Ein Widerspruch, über den kein unbefangnes Denken hinwegkommt. Mag sein, daß sich der Lehrer schließlich einredet, er glaube um die materielle Existenz dieser unteilbaren Teilchen. Der Schüler aber — ich weiß das aus eigner und fremder Erfah¬ rung — trägt schwer an diesem Widerspruch. Immer wieder sagt ihm sein noch unverdorbnes wissenschaftliches Gewissen, daß er sein stolzes System ans inner Lüge aufbaut, und immer wieder besticht ihn die scheinbare Konsequenz dieses Systems, das die physikalischen Erscheinungen, die chemischen Reaktionen und — wer zweifelt noch daran! — über kurz oder lang anch die psychischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/212>, abgerufen am 26.08.2024.