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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Grenzen des ärztlichen Berufs

mandem ein, den Arzt zur Strafe zu ziehen. Zur Erklärung dafür könnte
man sagen, diese Eingriffe seien keine Mißhandlung und keine Schädigung
der Gesundheit. Aber was heißt "Mißhandlung" und "Schädigung der Ge¬
sundheit"? Äußerlich betrachtet erscheinen doch die Eingriffe vielfach als solche.
Nicht selten wird ein Kranker durch den Eingriff, den der Arzt vornimmt, nicht
besser, sondern schlechter; oder er stirbt gar daran. Dennoch wird der Arzt
nicht bestraft. Daß sich also mit jenen zweifelhaften Begriffen die Frage nicht
erledigen läßt, liegt auf der Hand. Namentlich aber erweisen sich jene Be¬
griffe als völlig unzureichend, wenn es sich darum handelt, die Grenze zu
finden, bis zu der der Arzt mit seinen Eingriffen gehen darf. Über diese
Frage hat kürzlich ein Professor des Strafrechts in Basel einen Vortrag ver¬
öffentlicht,") und bei dein allgemeinen Interesse, das diese Frage in Anspruch
nimmt, wollen wir hier auf den Inhalt dieses interessanten Schriftchens etwas
näher eingehen und einige Betrachtungen daran knüpfen.

Ein früher nie geahnter Aufschwung der ärztlichen Kunst hat dahin ge¬
führt, daß in neuerer Zeit Wundärzte immer tiefer eingreifende Operationen
an Kranken vornehmen, und Ärzte immer wieder neue Mittel zur Heilung
von Kranken in Anwendung bringen. Selbst den Gesunden zieht der Arzt in
den Bereich seiner Thätigkeit, sei es, um vvrsorgend durch ärztliche Eingriffe
für seine Gesundheit zu sorgen, sei es, um aus seinem Körper Mittel zur
Heilung Kranker zu entnehmen oder auch um Versuche für die mögliche Be¬
handlung Kranker an ihm zu machen. Worauf gründet sich nun das Recht
zu dem allen?

Der Verfasser unsers Schriftchens prüft in dieser Beziehung die bereits
von andern aufgestellten Ansichten. Manche wollen die Befugnisse zu solchen
ärztlichen Eingriffen lediglich auf die Einwilligung dessen gründen, an dem
sie ausgeübt werden. Auch der Verfasser erkennt an, daß eine Operation an
einem Kranken allerdings nur mit dessen Einwilligung vollzogen werden dürfe.
Als durchgreifenden Grundsatz für die ärztliche Thätigkeit verwirft er aber
diesen Gesichtspunkt. Er weist darauf hin, daß man einen solchen, der Selbst¬
mord versucht habe, auch ohne seine Einwilligung ärztlich behandle; daß ferner
der Arzt einem Kranken auch ohne dessen Einwilligung selbst gefahrbringende
Arzneimittel eingebe, wenn es die Natur der Krankheit erheische.

Eine andre Ansicht geht davon ans, daß es sittliche Pflicht des
Kranken sei, sich Leben und Gesundheit zu erhalten, und daß in dem Um¬
fange dieser Pflicht auch der Arzt das Recht habe, körperliche Eingriffe an
dem Kranken vorzunehmen. Auch diesen Gesichtspunkt verwirft der Verfasser,
weil man doch nicht jeden ärztlichen Eingriff auf eine sittliche Pflicht, sich
ärztlich behandeln zu lassen, zurückführen könne.



*) Das ärztliche Recht zu körperlichen Eingriffen an Kranken und Gesunden. Von
Dr. L. Oppenheim. Basel, Benno Schwabe, 1892.
Die Grenzen des ärztlichen Berufs

mandem ein, den Arzt zur Strafe zu ziehen. Zur Erklärung dafür könnte
man sagen, diese Eingriffe seien keine Mißhandlung und keine Schädigung
der Gesundheit. Aber was heißt „Mißhandlung" und „Schädigung der Ge¬
sundheit"? Äußerlich betrachtet erscheinen doch die Eingriffe vielfach als solche.
Nicht selten wird ein Kranker durch den Eingriff, den der Arzt vornimmt, nicht
besser, sondern schlechter; oder er stirbt gar daran. Dennoch wird der Arzt
nicht bestraft. Daß sich also mit jenen zweifelhaften Begriffen die Frage nicht
erledigen läßt, liegt auf der Hand. Namentlich aber erweisen sich jene Be¬
griffe als völlig unzureichend, wenn es sich darum handelt, die Grenze zu
finden, bis zu der der Arzt mit seinen Eingriffen gehen darf. Über diese
Frage hat kürzlich ein Professor des Strafrechts in Basel einen Vortrag ver¬
öffentlicht,") und bei dein allgemeinen Interesse, das diese Frage in Anspruch
nimmt, wollen wir hier auf den Inhalt dieses interessanten Schriftchens etwas
näher eingehen und einige Betrachtungen daran knüpfen.

Ein früher nie geahnter Aufschwung der ärztlichen Kunst hat dahin ge¬
führt, daß in neuerer Zeit Wundärzte immer tiefer eingreifende Operationen
an Kranken vornehmen, und Ärzte immer wieder neue Mittel zur Heilung
von Kranken in Anwendung bringen. Selbst den Gesunden zieht der Arzt in
den Bereich seiner Thätigkeit, sei es, um vvrsorgend durch ärztliche Eingriffe
für seine Gesundheit zu sorgen, sei es, um aus seinem Körper Mittel zur
Heilung Kranker zu entnehmen oder auch um Versuche für die mögliche Be¬
handlung Kranker an ihm zu machen. Worauf gründet sich nun das Recht
zu dem allen?

Der Verfasser unsers Schriftchens prüft in dieser Beziehung die bereits
von andern aufgestellten Ansichten. Manche wollen die Befugnisse zu solchen
ärztlichen Eingriffen lediglich auf die Einwilligung dessen gründen, an dem
sie ausgeübt werden. Auch der Verfasser erkennt an, daß eine Operation an
einem Kranken allerdings nur mit dessen Einwilligung vollzogen werden dürfe.
Als durchgreifenden Grundsatz für die ärztliche Thätigkeit verwirft er aber
diesen Gesichtspunkt. Er weist darauf hin, daß man einen solchen, der Selbst¬
mord versucht habe, auch ohne seine Einwilligung ärztlich behandle; daß ferner
der Arzt einem Kranken auch ohne dessen Einwilligung selbst gefahrbringende
Arzneimittel eingebe, wenn es die Natur der Krankheit erheische.

Eine andre Ansicht geht davon ans, daß es sittliche Pflicht des
Kranken sei, sich Leben und Gesundheit zu erhalten, und daß in dem Um¬
fange dieser Pflicht auch der Arzt das Recht habe, körperliche Eingriffe an
dem Kranken vorzunehmen. Auch diesen Gesichtspunkt verwirft der Verfasser,
weil man doch nicht jeden ärztlichen Eingriff auf eine sittliche Pflicht, sich
ärztlich behandeln zu lassen, zurückführen könne.



*) Das ärztliche Recht zu körperlichen Eingriffen an Kranken und Gesunden. Von
Dr. L. Oppenheim. Basel, Benno Schwabe, 1892.
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[0020] Die Grenzen des ärztlichen Berufs mandem ein, den Arzt zur Strafe zu ziehen. Zur Erklärung dafür könnte man sagen, diese Eingriffe seien keine Mißhandlung und keine Schädigung der Gesundheit. Aber was heißt „Mißhandlung" und „Schädigung der Ge¬ sundheit"? Äußerlich betrachtet erscheinen doch die Eingriffe vielfach als solche. Nicht selten wird ein Kranker durch den Eingriff, den der Arzt vornimmt, nicht besser, sondern schlechter; oder er stirbt gar daran. Dennoch wird der Arzt nicht bestraft. Daß sich also mit jenen zweifelhaften Begriffen die Frage nicht erledigen läßt, liegt auf der Hand. Namentlich aber erweisen sich jene Be¬ griffe als völlig unzureichend, wenn es sich darum handelt, die Grenze zu finden, bis zu der der Arzt mit seinen Eingriffen gehen darf. Über diese Frage hat kürzlich ein Professor des Strafrechts in Basel einen Vortrag ver¬ öffentlicht,") und bei dein allgemeinen Interesse, das diese Frage in Anspruch nimmt, wollen wir hier auf den Inhalt dieses interessanten Schriftchens etwas näher eingehen und einige Betrachtungen daran knüpfen. Ein früher nie geahnter Aufschwung der ärztlichen Kunst hat dahin ge¬ führt, daß in neuerer Zeit Wundärzte immer tiefer eingreifende Operationen an Kranken vornehmen, und Ärzte immer wieder neue Mittel zur Heilung von Kranken in Anwendung bringen. Selbst den Gesunden zieht der Arzt in den Bereich seiner Thätigkeit, sei es, um vvrsorgend durch ärztliche Eingriffe für seine Gesundheit zu sorgen, sei es, um aus seinem Körper Mittel zur Heilung Kranker zu entnehmen oder auch um Versuche für die mögliche Be¬ handlung Kranker an ihm zu machen. Worauf gründet sich nun das Recht zu dem allen? Der Verfasser unsers Schriftchens prüft in dieser Beziehung die bereits von andern aufgestellten Ansichten. Manche wollen die Befugnisse zu solchen ärztlichen Eingriffen lediglich auf die Einwilligung dessen gründen, an dem sie ausgeübt werden. Auch der Verfasser erkennt an, daß eine Operation an einem Kranken allerdings nur mit dessen Einwilligung vollzogen werden dürfe. Als durchgreifenden Grundsatz für die ärztliche Thätigkeit verwirft er aber diesen Gesichtspunkt. Er weist darauf hin, daß man einen solchen, der Selbst¬ mord versucht habe, auch ohne seine Einwilligung ärztlich behandle; daß ferner der Arzt einem Kranken auch ohne dessen Einwilligung selbst gefahrbringende Arzneimittel eingebe, wenn es die Natur der Krankheit erheische. Eine andre Ansicht geht davon ans, daß es sittliche Pflicht des Kranken sei, sich Leben und Gesundheit zu erhalten, und daß in dem Um¬ fange dieser Pflicht auch der Arzt das Recht habe, körperliche Eingriffe an dem Kranken vorzunehmen. Auch diesen Gesichtspunkt verwirft der Verfasser, weil man doch nicht jeden ärztlichen Eingriff auf eine sittliche Pflicht, sich ärztlich behandeln zu lassen, zurückführen könne. *) Das ärztliche Recht zu körperlichen Eingriffen an Kranken und Gesunden. Von Dr. L. Oppenheim. Basel, Benno Schwabe, 1892.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/20>, abgerufen am 03.07.2024.