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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

übertragen; vielleicht ließe sich der Provinzialrat zu einem wirklichen Pro-
vinzialgewerberat erweitern.

Man wird vielleicht erwidern, daß eine Prüfung der Bedürfnisfrage bei
Anlegung und Erweiterung von Fabriken unausführbar sei. Wir können diese
Ansicht uicht teilen, so wenig wir die Schwierigkeiten verkennen. Wenn schon
jetzt jeder kleine Stadt- und Kreisausschuß imstande ist, über die Bedürfnis¬
frage bei Errichtung neuer Gast- und Wirtschaftsbetriebe zutreffend zu
entscheiden, so wird es auch möglich sein, volkswirtschaftliche Organe zu
schaffen, die hierzu auch hinsichtlich des industriellen Großbetriebes befähigt
sind. Je mehr unsre Industrie von dein Weltmarkt verdrängt und auf die
Befriedigung des nationalen Wirtschaftsbedarfs beschränkt wird, um so einfacher
wird sich die Frage gestalten, um so besser wird es gelingen, der jetzt herr¬
schenden wüsten Anarchie ans dem Gebiete der industriellen Produktion ein Ziel
zu setzen und sie allmählich in geordnete Bahnen überzuleiten. Mögen die
Vertreter der Großindustrie mit ihren zahlreichen Anhängern in Parlament
und Regierung gegen unsern Vorschlag noch so sehr wüten, wir bleiben dabei:
man darf die kleinen Diebe nicht hängen und die großen laufen küssen; was
für jeden Gast- und Schaukwirt recht und billig ist, kann für die Großindustrie
nicht ungerecht sein. Alle Bier- und Branntweinwirtschaften Deutschlands zu¬
sammengenommen können sittlich und wirtschaftlich nicht so viel Verheerungen
anrichten, wie sie jede einzelne der großen periodischen Jndnstriekriseu über
uns ausbreitet.

Richtig ist, daß auch durch Einführung des Konzcfsionszwangcs diese Krisen
nicht vollständig beseitigt werden würden. Um dies Ziel zu erreichen, bedarf
es einer weitern Regelung der Produktion nach dem Bedarf wenigstens für
die Industrien, deren Produktion eine ungemessene Steigerung gestattet. Eine
solche Regelung liegt aber im Interesse der Industrien selbst und ist teilweise
schon jetzt unter der Herrschaft des wildesten Kvnkurrenzjagens durch vertrags¬
mäßige Konsvrtienbildung angebahnt. Sollte es wirklich unmöglich sein, diese
Konsortienbilduug gesetzlich zu regeln und auf diesem Wege die Organisation
der Arbeit nach dem Bedarf zu erreichen, für die Bebel kein andres Mittel
weiß, als den rohen Einspruch der obersten Leitung, die jede Freiheit und
jede wirtschaftliche Selbständigkeit vernichtet? Auch hier wird die fortschreitende
Verengung des sogenannten Weltmarktes zu Hilfe kommen und die Erreichung
des Zieles erleichtern.

Immerhin wird es für die Übergangszeit bis zur vollständigen Erreichung
des Zieles notwendig sein, zum Schutz der Arbeiter Bestimmungen zu treffen,
um diese gegen die Gefahren vorübergehender Krisen sicher zu stellen. An einem
Beispiel fehlt es nicht. Die Großgrundbesitzer des Ostens sind bekanntlich ge¬
setzlich verpflichtet, ihren Arbeitern auch dann Wohnung und Unterhalt zu ge¬
währen, wenn sie ihrer Arbeit nicht bedürfen. Nun, was für den pommerschen


Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

übertragen; vielleicht ließe sich der Provinzialrat zu einem wirklichen Pro-
vinzialgewerberat erweitern.

Man wird vielleicht erwidern, daß eine Prüfung der Bedürfnisfrage bei
Anlegung und Erweiterung von Fabriken unausführbar sei. Wir können diese
Ansicht uicht teilen, so wenig wir die Schwierigkeiten verkennen. Wenn schon
jetzt jeder kleine Stadt- und Kreisausschuß imstande ist, über die Bedürfnis¬
frage bei Errichtung neuer Gast- und Wirtschaftsbetriebe zutreffend zu
entscheiden, so wird es auch möglich sein, volkswirtschaftliche Organe zu
schaffen, die hierzu auch hinsichtlich des industriellen Großbetriebes befähigt
sind. Je mehr unsre Industrie von dein Weltmarkt verdrängt und auf die
Befriedigung des nationalen Wirtschaftsbedarfs beschränkt wird, um so einfacher
wird sich die Frage gestalten, um so besser wird es gelingen, der jetzt herr¬
schenden wüsten Anarchie ans dem Gebiete der industriellen Produktion ein Ziel
zu setzen und sie allmählich in geordnete Bahnen überzuleiten. Mögen die
Vertreter der Großindustrie mit ihren zahlreichen Anhängern in Parlament
und Regierung gegen unsern Vorschlag noch so sehr wüten, wir bleiben dabei:
man darf die kleinen Diebe nicht hängen und die großen laufen küssen; was
für jeden Gast- und Schaukwirt recht und billig ist, kann für die Großindustrie
nicht ungerecht sein. Alle Bier- und Branntweinwirtschaften Deutschlands zu¬
sammengenommen können sittlich und wirtschaftlich nicht so viel Verheerungen
anrichten, wie sie jede einzelne der großen periodischen Jndnstriekriseu über
uns ausbreitet.

Richtig ist, daß auch durch Einführung des Konzcfsionszwangcs diese Krisen
nicht vollständig beseitigt werden würden. Um dies Ziel zu erreichen, bedarf
es einer weitern Regelung der Produktion nach dem Bedarf wenigstens für
die Industrien, deren Produktion eine ungemessene Steigerung gestattet. Eine
solche Regelung liegt aber im Interesse der Industrien selbst und ist teilweise
schon jetzt unter der Herrschaft des wildesten Kvnkurrenzjagens durch vertrags¬
mäßige Konsvrtienbildung angebahnt. Sollte es wirklich unmöglich sein, diese
Konsortienbilduug gesetzlich zu regeln und auf diesem Wege die Organisation
der Arbeit nach dem Bedarf zu erreichen, für die Bebel kein andres Mittel
weiß, als den rohen Einspruch der obersten Leitung, die jede Freiheit und
jede wirtschaftliche Selbständigkeit vernichtet? Auch hier wird die fortschreitende
Verengung des sogenannten Weltmarktes zu Hilfe kommen und die Erreichung
des Zieles erleichtern.

Immerhin wird es für die Übergangszeit bis zur vollständigen Erreichung
des Zieles notwendig sein, zum Schutz der Arbeiter Bestimmungen zu treffen,
um diese gegen die Gefahren vorübergehender Krisen sicher zu stellen. An einem
Beispiel fehlt es nicht. Die Großgrundbesitzer des Ostens sind bekanntlich ge¬
setzlich verpflichtet, ihren Arbeitern auch dann Wohnung und Unterhalt zu ge¬
währen, wenn sie ihrer Arbeit nicht bedürfen. Nun, was für den pommerschen


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[0168] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage übertragen; vielleicht ließe sich der Provinzialrat zu einem wirklichen Pro- vinzialgewerberat erweitern. Man wird vielleicht erwidern, daß eine Prüfung der Bedürfnisfrage bei Anlegung und Erweiterung von Fabriken unausführbar sei. Wir können diese Ansicht uicht teilen, so wenig wir die Schwierigkeiten verkennen. Wenn schon jetzt jeder kleine Stadt- und Kreisausschuß imstande ist, über die Bedürfnis¬ frage bei Errichtung neuer Gast- und Wirtschaftsbetriebe zutreffend zu entscheiden, so wird es auch möglich sein, volkswirtschaftliche Organe zu schaffen, die hierzu auch hinsichtlich des industriellen Großbetriebes befähigt sind. Je mehr unsre Industrie von dein Weltmarkt verdrängt und auf die Befriedigung des nationalen Wirtschaftsbedarfs beschränkt wird, um so einfacher wird sich die Frage gestalten, um so besser wird es gelingen, der jetzt herr¬ schenden wüsten Anarchie ans dem Gebiete der industriellen Produktion ein Ziel zu setzen und sie allmählich in geordnete Bahnen überzuleiten. Mögen die Vertreter der Großindustrie mit ihren zahlreichen Anhängern in Parlament und Regierung gegen unsern Vorschlag noch so sehr wüten, wir bleiben dabei: man darf die kleinen Diebe nicht hängen und die großen laufen küssen; was für jeden Gast- und Schaukwirt recht und billig ist, kann für die Großindustrie nicht ungerecht sein. Alle Bier- und Branntweinwirtschaften Deutschlands zu¬ sammengenommen können sittlich und wirtschaftlich nicht so viel Verheerungen anrichten, wie sie jede einzelne der großen periodischen Jndnstriekriseu über uns ausbreitet. Richtig ist, daß auch durch Einführung des Konzcfsionszwangcs diese Krisen nicht vollständig beseitigt werden würden. Um dies Ziel zu erreichen, bedarf es einer weitern Regelung der Produktion nach dem Bedarf wenigstens für die Industrien, deren Produktion eine ungemessene Steigerung gestattet. Eine solche Regelung liegt aber im Interesse der Industrien selbst und ist teilweise schon jetzt unter der Herrschaft des wildesten Kvnkurrenzjagens durch vertrags¬ mäßige Konsvrtienbildung angebahnt. Sollte es wirklich unmöglich sein, diese Konsortienbilduug gesetzlich zu regeln und auf diesem Wege die Organisation der Arbeit nach dem Bedarf zu erreichen, für die Bebel kein andres Mittel weiß, als den rohen Einspruch der obersten Leitung, die jede Freiheit und jede wirtschaftliche Selbständigkeit vernichtet? Auch hier wird die fortschreitende Verengung des sogenannten Weltmarktes zu Hilfe kommen und die Erreichung des Zieles erleichtern. Immerhin wird es für die Übergangszeit bis zur vollständigen Erreichung des Zieles notwendig sein, zum Schutz der Arbeiter Bestimmungen zu treffen, um diese gegen die Gefahren vorübergehender Krisen sicher zu stellen. An einem Beispiel fehlt es nicht. Die Großgrundbesitzer des Ostens sind bekanntlich ge¬ setzlich verpflichtet, ihren Arbeitern auch dann Wohnung und Unterhalt zu ge¬ währen, wenn sie ihrer Arbeit nicht bedürfen. Nun, was für den pommerschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/168>, abgerufen am 03.07.2024.