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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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^Die politischen Beziehungen (Lhinas

schweigt die Geschichte. Es wird auch wohl niemals möglich sein, die Einzel¬
heiten dieses merkwürdigen Feldzugs genau zu erfahren. Von bekannten Per¬
sönlichkeiten hat vielleicht nur der berühmte russische Maler und Friedens¬
apostel Wereschtschagin diese Gegenden damals besucht und den Eindruck, den
die grauenhafte Verwüstung auf ihn machte, in seiner "Apotheose des Kriegs"
verewigt. So schnell, wie die Kriege in Europa jetzt verlaufe", ließ sich die
Sache natürlich nicht machen. Der chinesische Anführer säuberte bedächtig
einen Teil des aufständischen Landes nach dem andern von feindlichen Haufen
und ließ inzwischen seine Soldaten ganz gemütlich die Felder bestellen, um in
der verwüsteten Gegend überhaupt leben zu können. Denn an regelmüßige
Nnchscndung von Proviant war natürlich bei den ungeheuern Entfernungen
und bei dem Mangel aller halbwegs guten Wasser- oder Landwege nicht zu
denken. So kam es, daß das Heer, das im Jnhre 1871 aufgebrochen war,
erst im Dezember 1877 Kaschgar erstürmte. Damit war die Unterwerfung
beendet. Aber nun kam erst die größte Schwierigkeit. Die Russen, die so
gern im Trüben fischen, hatten während dieser Wirren Knldscha besetzt und
wollten es nicht wieder herausgeben. Fast schien es darüber zum Kriege
kommen zu sollen, um so mehr, als der erste chinesische Unterhändler, der
nach Petersburg gesandt wurde, dort einen so ungünstigen Vertrag unter¬
zeichnete, daß ihn die entrüsteten Minister in Peking dafür zum Tode ver¬
urteilten. Nur der Einspruch sämtlicher ausländischen Gesandten rettete ihn.
Darauf wurde der chinesische Gesandte in London, Marquis Tseng, nach
Petersburg geschickt, und ihm gelang es, einen Vertrag abzuschließen, der im
August 1881 bestätigt wurde. Rußland gab Kuldscha gegen Zahlung von
neun Millionen Rubeln an China zurück. Diesmal also hatten sich die Chi-
nesen nicht wieder einfach darein gefunden, sich einen dem russischen Bären
gerade vor der Nase liegenden Streifen Landes ohne weiters wegnehmen zu
lassen, wie es im Jahre 1858 mit dem Amurgebiet geschehen war.

In den letzten zwölf Jahren sind nun die Beziehungen zwischen Nußland
und China äußerlich immer ganz freundlich gewesen; aber die Chinesen wissen
recht gut, daß das nordische Reich stets ihr gefährlichster Gegner bleiben wird.
Ein chinesischer Diplomat soll dies früher einmal so ausgedrückt haben: Wir
können alle fremden Gesandten ungestraft mißachten, mit einziger Ausnahme
des russischen, dem, das, könnte uns leicht ein paar hundert Quadratmeilen
Landes kosten. Seitdem hat sich das Verhältnis allerdings etwas verschoben.
In Nordchina stehen nämlich jetzt so viele verhältnismäßig gute Truppen,
daß es ihnen nicht schwer fallen würde, bei einem Kriege mit Rußland das
Amurgcbiet zu überrennen, weil dort nur schwache Besatzungen liegen. Er¬
wägungen dieser Art sind es auch ohne Zweifel in erster Linie gewesen, die
die Negierung in Petersburg dazu bestimmt haben, endlich mit der Erbauung
der sibirischen Eisenbahn Ernst zu machen. Alle begehrlichen Absichten der


^Die politischen Beziehungen (Lhinas

schweigt die Geschichte. Es wird auch wohl niemals möglich sein, die Einzel¬
heiten dieses merkwürdigen Feldzugs genau zu erfahren. Von bekannten Per¬
sönlichkeiten hat vielleicht nur der berühmte russische Maler und Friedens¬
apostel Wereschtschagin diese Gegenden damals besucht und den Eindruck, den
die grauenhafte Verwüstung auf ihn machte, in seiner „Apotheose des Kriegs"
verewigt. So schnell, wie die Kriege in Europa jetzt verlaufe», ließ sich die
Sache natürlich nicht machen. Der chinesische Anführer säuberte bedächtig
einen Teil des aufständischen Landes nach dem andern von feindlichen Haufen
und ließ inzwischen seine Soldaten ganz gemütlich die Felder bestellen, um in
der verwüsteten Gegend überhaupt leben zu können. Denn an regelmüßige
Nnchscndung von Proviant war natürlich bei den ungeheuern Entfernungen
und bei dem Mangel aller halbwegs guten Wasser- oder Landwege nicht zu
denken. So kam es, daß das Heer, das im Jnhre 1871 aufgebrochen war,
erst im Dezember 1877 Kaschgar erstürmte. Damit war die Unterwerfung
beendet. Aber nun kam erst die größte Schwierigkeit. Die Russen, die so
gern im Trüben fischen, hatten während dieser Wirren Knldscha besetzt und
wollten es nicht wieder herausgeben. Fast schien es darüber zum Kriege
kommen zu sollen, um so mehr, als der erste chinesische Unterhändler, der
nach Petersburg gesandt wurde, dort einen so ungünstigen Vertrag unter¬
zeichnete, daß ihn die entrüsteten Minister in Peking dafür zum Tode ver¬
urteilten. Nur der Einspruch sämtlicher ausländischen Gesandten rettete ihn.
Darauf wurde der chinesische Gesandte in London, Marquis Tseng, nach
Petersburg geschickt, und ihm gelang es, einen Vertrag abzuschließen, der im
August 1881 bestätigt wurde. Rußland gab Kuldscha gegen Zahlung von
neun Millionen Rubeln an China zurück. Diesmal also hatten sich die Chi-
nesen nicht wieder einfach darein gefunden, sich einen dem russischen Bären
gerade vor der Nase liegenden Streifen Landes ohne weiters wegnehmen zu
lassen, wie es im Jahre 1858 mit dem Amurgebiet geschehen war.

In den letzten zwölf Jahren sind nun die Beziehungen zwischen Nußland
und China äußerlich immer ganz freundlich gewesen; aber die Chinesen wissen
recht gut, daß das nordische Reich stets ihr gefährlichster Gegner bleiben wird.
Ein chinesischer Diplomat soll dies früher einmal so ausgedrückt haben: Wir
können alle fremden Gesandten ungestraft mißachten, mit einziger Ausnahme
des russischen, dem, das, könnte uns leicht ein paar hundert Quadratmeilen
Landes kosten. Seitdem hat sich das Verhältnis allerdings etwas verschoben.
In Nordchina stehen nämlich jetzt so viele verhältnismäßig gute Truppen,
daß es ihnen nicht schwer fallen würde, bei einem Kriege mit Rußland das
Amurgcbiet zu überrennen, weil dort nur schwache Besatzungen liegen. Er¬
wägungen dieser Art sind es auch ohne Zweifel in erster Linie gewesen, die
die Negierung in Petersburg dazu bestimmt haben, endlich mit der Erbauung
der sibirischen Eisenbahn Ernst zu machen. Alle begehrlichen Absichten der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/156>, abgerufen am 23.07.2024.